Der Handlungsdruck auf die EZB nimmt zu. Am Montag früh kam die Nachricht, dass der ifo Geschäftsklimaindex für August gegenüber Juli stark zurückgegangen war. Der Index ist ein Frühindikator für die deutsche Konjunktur. Da er in dieselbe Richtung weist wie die realen Auftragseingänge, sind die kurzfristigen Aussichten für Industrieproduktion und Sozialprodukt nicht gerade gut. Während die eine Komponente des Index, die Beurteilung der Lage, dem allgemeinen Eindruck entsprechend noch ganz erfreulich ist, sind die Erwartungen im Keller. Was ist los? Die Weltkonjunktur hat sich in den vergangenen Monaten etwas abgekühlt, auch wenn sie nach wie vor die wichtigste Stütze der Nachfrage nach deutschen Produkten und Dienstleistungen ist. Es ist immer noch realistisch, dass der reale Welthandel in diesem Jahr gegenüber 2013 um knapp vier Prozent zunehmen wird. Starker Gegenwind bläst der Wirtschaft jedoch neuerdings aus dem Inland und weiterhin aus den Ländern der Währungsunion entgegen.
Für Euroland insgesamt ist nach den neuen ifo-Zahlen die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass die Produktion im dritten Quartal zum zweiten Mal in Folge stagnieren wird. Die Rezession will einfach nicht enden. Daher ist auch nicht zu erkennen, wie ein weiterer Rückgang der Inflationsraten vermieden werden kann. Im August könnten im Vorjahresvergleich 0,3 Prozent erreicht werden, nach 0,4 Prozent im Juli. Zwischen dem Zielwert der EZB und der Realität liegen Welten. Die Wirtschaftspolitik wird noch einen Gang hochschalten müssen.
Die unsichere Lage in der Ostukraine, wo eine weitere Eskalation nicht auszuschließen ist, verunsichert vor allem, aber nicht nur, die Unternehmer in Deutschland. Sie sind vorsichtiger geworden und nicht sonderlich darauf erpicht, zusätzlich zu investieren oder neues Personal einzustellen. Es mangelt ja nicht an unausgelasteten Kapazitäten. Das hat zur Folge, dass die deutsche Wirtschaft nicht mehr länger die Lokomotive für den Rest Eurolands ist. Noch ist der deutsche Arbeitsmarkt sehr robust, anders als in den übrigen Ländern. Fragt sich, wie lange das so bleibt.
Ich sehe, dass die Wachstumsprognosen für 2014 zurzeit deutlich nach unten revidiert werden. Ich hatte im Frühjahr noch gedacht, dass in Deutschland beim realen BIP eine Drei vor dem Komma möglich sei, inzwischen pendelt sich der Konsens aber bei 1,5 Prozent ein. Ich muss mich dem leider anschließen. Für den Euroraum wird inzwischen von der Mehrheit der Analysten eine Zuwachsrate von weniger als einem Prozent erwartet, nach zwei Jahren Rezession. Normalerweise kommt es im ersten Aufschwungsjahr zu sehr hohen Zuwachsraten. Davon kann diesmal keine Rede sein. Die Geldpolitik greift angesichts der privaten und öffentlichen Schuldenprobleme und der restriktiven Finanzpolitik nicht so wie in früheren Zyklen.
In seiner Grundsatzrede vom 22. August bei dem jährlichen Treffen von Zentralbankern und Ökonomen in Jackson Hole, Wyoming, hatte EZB-Präsident Mario Draghi klar gemacht, dass die Risiken, „zu wenig zu tun“ größer sind als die Risiken, „zu viel zu tun“. Er macht sich keine Illusionen und hat, wie er betonte, mehr Angst davor, dass aus der konjunkturellen Arbeitslosigkeit im Laufe der Zeit eine strukturelle wird, als dass es zu einem „exzessiven“ Aufwärtsdruck auf Löhne und Preise kommt. Strukturell seien seit Jahren neun Prozent der Erwerbsbevölkerung Eurolands arbeitslos, was nichts anderes heißt, als dass auch ein „richtiger“ Konjunkturaufschwung daran nichts ändern kann. (Ich habe da allerdings meine Zweifel – in Deutschland dürfte die strukturelle Arbeitslosenquote nur zwischen drei und vier Prozent liegen; in Stein gemeißelt ist so eine Zahl nicht.)
Während in den USA und in Großbritannien die Diskussion darüber begonnen hat, wann der richtige Zeitpunkt für eine Trendwende in der Geldpolitik ist, wird bei der EZB überlegt, wie sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage noch mehr stimulieren lässt. Die neuen Instrumente sind die TLTROs, die Targeted Long-Term Refinancing Operations (auf Deutsch Gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte), die im September gestartet werden, sowie der in Vorbereitung befindliche Ankauf von Asset-backed Securities, die europäische Variante des Quantitative Easing.
Draghi meint aber, dass das unbedingt flankiert werden muss durch angebotsseitige Reformen in den Problemländern, sprich flexiblere Arbeitsmärkte, niedrigere Löhne, „bessere“, marktgerechte Ausbildung und lebenslanges Lernen, das volle Programm. Zumindest kurzfristig dürfte der Nettoeffekt dieser Maßnahmen prozyklisch sein.
Zusätzlich fordert er Hilfe von der Finanzpolitik. Hier sieht er den größten Nachteil Eurolands gegenüber den USA und Großbritannien – es gibt bei uns keine zentrale und schlagkräftige finanzpolitische Instanz. Hilfsweise plädiert er dafür, (1) die Maastricht-Kriterien so großzügig auszulegen, wie es der Vertrag ermöglicht, (2) die Finanzpolitik insgesamt wachstumsfreundlicher auszurichten, (3) sie besser zwischen den Mitgliedsländern zu koordinieren und (4) die ehrgeizige Investitionsinitiative des neuen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker möglichst rasch umzusetzen. Das klingt alles sehr nach traditioneller keynesianischer Nachfragestimulierung. Das Thema „Schuldenerlass“ oder die teilweise Verlagerung der privaten Schulden auf die öffentliche Hand, wie ich es in meinem letzten Blog-Beitrag zu Diskussion gestellt hatte, kam in der Rede von Jackson Hole leider nicht vor. Die Lage ist offenbar noch nicht hoffnungslos. So etwas Abstruses wie Helicopter Money ist bislang keine ernsthafte Option der Geldpolitik.
Noch eine Anmerkung zu den Effekten auf die Märkte: Die jüngsten ifo-Zahlen und die Rede Draghis haben die Marktteilnehmer in ihrer Erwartung bestärkt, dass die europäischen Leitzinsen viel länger in der Nähe von Null bleiben werden als die amerikanischen. Der Euro hat sich daraufhin heute auf 1,32 Dollar abgewertet, eigentlich erstaunlich wenig. Gleichzeitig scheint es nicht mehr so riskant zu sein, am Geldmarkt (kostenlos) Mittel aufzunehmen und es in europäische Anleihen zu investieren – das nennt sich carry trades. Allerdings gibt es für fünfjährige Bundesanleihen nur noch 0,18, für zehnjährige 0,94 Prozent, es lohnt aber trotzdem, wenn man sich darauf verlassen kann, dass die EZB zu ihrem Wort steht. Aus der Struktur der Zinskurve lässt sich im Übrigen ablesen, dass die 5-Jahresrenditen in fünf Jahren bei ((0,94 – 0,18) + 0,94 =) 1,7 Prozent erwartet werden. Japanische Verhältnisse! In Spanien sind die langen Zinsen jetzt niedriger als in den USA oder in Großbritannien. Am Aktienmarkt hat die Aussicht auf eine immer expansivere europäische Geldpolitik eine kleine Rallye ausgelöst: DAX, CAC40 und FTSE MIB (Italien) legten am Montag um 1,2 bis 1,5 Prozent gegenüber Freitag zu.