New York streitet mit Tony Judt
Anfang dieses Monats wurde in New York ein Vortrag abgesagt, aus politischen Gründen. So etwas kommt vor. Doch über diesen Fall kommt die Stadt seit Wochen nicht mehr zur Ruhe. Unterdessen schlägt die Sache Wellen bis ans jenseitige Ufer des Atlantiks. Zu Recht, denn die europäische Diplomatie ist in den Fall verwickelt.
Der Historiker Tony Judt, Leiter des Remarque Institute an der New York University und ein exzellenter Kenner der neueren europäischen Geschichte, wollte im polnischen Konsulat einen Vortrag über Die Israel-Lobby und die amerikanische Außenpolitik halten. Kurzfristig sagte der polnische Generalkonsul den Vortrag ab. Sofort machten Gerüchte die Runde, jüdische Organisationen hätten das Konsulat bedrängt. Die Anti-Defamation League und das American Jewish Committee bestreiten zwar nicht, mit dem Konsul gesprochen zu haben, wohl aber, Druck ausgeübt zu haben. Der polnische Konsul ließ sich von der Washington Post zitieren, die Anrufe seien »sehr elegant» gewesen, »können aber interpretiert werden als Ausübung eines delikaten Drucks«.
Ein Generalkonsul, der »delikatem Druck« nachgibt – den er offenbar selbst in die »eleganten Anrufe« hineininterpretiert hat –, ist sich nicht zu schade, seine Feigheit auch noch vor der Weltöffentlichkeit herauszutrompeten. Das ist eine kulturdiplomatische Bankrotterklärung, die an die präventive Duckmäuserei im Berliner Idomeneo-Skandal erinnert. Wenn die liberale Öffentlichkeit sich weiter selbst abschafft, brauchen die Feinde der Freiheit nur noch zuzuschauen.
Mehr als hundert Intellektuelle aus Amerika und Europa setzen mit einem »offenen Brief« dagegen, der diese Woche im New York Review of Books erscheint. (Anmerkung in eigener Sache: Ich habe auch unterzeichnet, JL.) Angeführt von den Philosophen Mark Lilla und Richard Sennett, protestieren sie gegen ein »Klima der Einschüchterung, das mit fundamentalen Prinzipien der Debatte in einer Demokratie unvereinbar« sei. Tony Judt wird es freuen, dass darunter viele sind, die im Übrigen seine Einlassungen über die »jüdische Lobby« und Israel ablehnen.
Dazu gibt es in der Tat auch guten Grund. Judt plädiert für einen »binationalen Staat Israel«, in dem Palästinenser und Juden zusammenleben. Wohlwollende Kritiker nennen das angesichts der Hamas-Position zum Existenzrecht Israels eine naive Utopie, andere unterstellen Judt Israelfeindlichkeit. Er hat in einem Essay für den New York Review geschrieben, Israel sei »ein Anachronismus«: »Wie aber, wenn es in der heutigen Welt für einen ›jüdischen Staat‹ keinen Platz mehr gäbe?«
Wer solche Sätze schreibt, kann sich nicht beschweren, wenn jüdische Organisationen hellhörig werden. Und nicht nur sie: Auch Nichtjuden haben ihn heftig kritisiert. Der Kampf gegen Antisemitismus und gegen »Antizionismus« ist wichtitiger denn je in einer Welt, in die Nasrallahs und Ahmadineschads ihren hasserfüllten Worten Taten folgen lassen wollen.
Die jüdischen Organisationen haben dieser Sache freilich einen Bärendienst erwiesen, indem sie der Absage von Judts Vortrag applaudierten. Denn die Klage, israelkritische Töne würden in der westlichen Öffentlichkeit unterdrückt, gehört zum festen Bestandteil der rechtsradikalen und islamistischen Propaganda. Es ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit des Westens, sie zu entkräften. Verschwörungstheorien über die Macht der jüdischen Lobby bekämpft man nicht durch elegante Anrufe, die missliebige Vorträge verhindern. Man widerlegt sie durch Gegenvorträge und durch die Förderung eines angstfreien Debattenklimas, in dem legitime Kritik an Israel die Chance hat, sich vom Antisemitismus zu unterscheiden.