Lesezeichen
 

Let my people go: Die Türkei muss aufhören, ihre Auswanderer zu vereinnahmen

Dem deutsch-türkischen Mediendienst EUROPRESS entnehme ich folgende Meldung:

«Wir werden die europäischen Imame in der Türkei ausbilden», heißt es in der national-islamischen TÜRKIYE. Damit zitiert die Zeitung den Präsidenten des Amtes für religiöse Angelegenheiten (Diyanet), Ali Bardakoglu. Bei einem Besuch in Holland habe Bardakoglu angekündigt, dass in Zukunft «Jugendliche aus Europa an theologischen Fakultäten in der Türkei zu Imamen ausgebildet werden und dann nach Europa entsendet werden sollen».

Soso, die Türkei schickt Europa in alle Ewigkeit Imame? Sie will aus Einwanderern, die die Türkei nur als Urlaubsland kennen, Botschafter eines türkischen Islams formen, wie er bei Dyanet gehütet wird? Das fügt sich leider nahtlos ein in den Anspruch des türkischen Staates – wie jüngst wieder von Ministerpräsident Erdogan im Interview mit der ZEIT geäußert, die türkeistämmigen Europäer bis zum Sankt-Nimmerleinstag zu betreuen, zu betüddeln und letztlich für eigene politische Zwecke zu instrumentalisieren.

Wie heißt es doch so schön in dem alten Gospel-Lied: „Tell ol‘ Pharao, Let my people go!“

Die Türken in Europa müssen sich dagegen verwehren. Ein europäischer Islam, wenn er denn etwas anderes als ein Schreckbild sein soll, muss sich in weitgehender Unabhängigkeit von der alten Heimat bilden.

Für den deutschen Staat heißt das: Imamausbildung, Theologie, Religionslehrerausbildung endlich unter hiesiger Aufsicht an hiesigen Universitäten. Bardakoglu macht ja deutlich, dass die Türkei sich da nicht so sehr als Partner, sondern als Konkurrent zu verhalten gedenkt. Also machen wir ihr endlich Konkurrenz!

Warum das nötig ist, liegt auf der Hand:

– wenn Imame nicht nur Vorbeter, sondern auch Gemeinde-Seelsorger sein sollen, was dringend nötig wäre, dann brauchen sie eine Ausbildung hier, wo man etwas von den Problemen der Menschen weiß, mit denen sie zu tun haben werden

– ein europäischer Islam muss das Religiöse und das Nationale trennen, das im Diyanet-Staatsislam – genauso wie auch im Konkurrenzprodukt der Milli Görüs („nationale Sicht“) – verschmolzen ist; die religiöse Identität als Muslim und die ethnische Herkunft (Türke, Bosnier, Syrer)  werden natürlich immer auf der Ebene des kulturellen Gedächtnisses verflochten bleiben – aber sie dürfen nicht mehr als quasi-identisch gehandhabt werden, wie das in der Dyanet-Ditib-Praxis der Fall ist; wie bizarr das sich auswirkt, zeigt der Fall der angeblich laizistischen „Türkischen Gemeinde in Deutschland“ (TGD), die nun in der Islamkonferenz mitredet; also: Entflechtung, Baby!

– auch für die Seite des deutschen Staates und der allgemeinen Öffentlichkeit ist es nicht zielführend, mit Imamen zusammenzuarbeiten, die in der Türkei ausgebildet wurden – als würde man erst dort zum wahren Muslim werden können

Der türkische Staat muss die Auslandstürken endlich in Ruhe lassen. Der deutsche Staat muss im Gegenzug mehr dafür tun, dass diejenigen, die das wollen, auf eine mit hiesigen Verhältnissen kompatible religiöse Infrastruktur zurückgreifen können.

 

Kunterbunte Welt des Judentums

Ich vermisse Conan O’Brien. Früher konnte man ihm mal auf NBC Deutschland sehen (gibts nicht mehr). Jetzt bin ich sein Facebook-Fan und folge ihm auf Twitter.

Da stand gerade zu lesen:

„Jewish fun fact: If you celebrate Passover on top of an overpass, you go back in time.“

Ich find’s lustig.

 

Für einen Verein liberaler Muslime

Der Kollege Eren Güvercin hat ein Interview mit der Theologin und Religionspädagogin Lamya Kaddor geführt, das ich heute morgen im Auto hörte. (Ich bin Deutschlandfunk-Junkie, der Sender läuft bei mir immer im Hintergrund.) In diesem Interview nun ging es um den Begriff des „liberalen Islam“. Kaddor will nämlich eine Vereinigung „liberaler Muslime“ gründen. (Hier eine Kolumne von Hilal Sezgin dazu.)
Der Anstoss dazu kommt aus dem Versagen der existierenden Verbände, in denen moderne, durch ihr Leben in Deutschland geprägten Muslime sich nicht repräsentiert fühlen.
In dem Interview erklärt Kaddor, warum sie sich als Muslima berechtigt fühlt, auf ein Kopftuch zu verzichten.
Sie beklagt auch den „erbärmlichen Bildungsstand“ der Jugendlichen, die sie im islamischen Religionsunterricht kennenlernt. Sie hätten eine „islamische Identität“ nahezu ohne jede Substanz. Diese Jugendlichen bräuchten dringend Wissen über ihren Glauben, um, so Güvercin, aus ihrer „Scheinidentität“ herauszufinden.
Ich finde das richtig, wie ich auch religiöse Bildung bei Christen, Buddhisten, Juden, Shintoisten etc. für wünschenswert halte.  (Im evangelischen Religionsunterricht lernen meine Kinder auch eine Menge über andere Religionen. Zuletzt war das Judentum dran. Jetzt wird mir erklärt, was koscher ist und wie sich Ostern und Pessach unterscheinden.)  Guter Religionsunterricht wird immer auch eine Menge Religionskunde enthalten – also vergleichende Elemente.
Es wäre darum sehr wünschenswert, wenn liberale Muslime wie Kaddor beim kommenden Streit um die Curricula für islamischen Religionsunterricht eine Rolle spielen würden – und nicht nur die intellektuell meist sehr anspruchslosen Verbandsvertreter.
Eins möchte ich aber festhalten: Religiöse Bildung bietet keine automatische Immunisierung gegen Radikalismus. Es kann auch nicht einfach gesagt werden: Die Radikalen wissen einfach zu wenig über den Islam. Viele der Extremisten, die uns den Schlaf rauben, sind hoch gebildet und geistig rege. Ja, es ist leider so: Gerade das intellektuelle Interesse am Glauben kann – in Kombination mit anderen Faktoren – in den Radikalismus führen. Religionen sind gefährlicher, leicht entflammbarer Stoff. Dsa sollte man nicht durch einen idealistischen Bildunsgbegriff verschleiern.
Es kommt darauf an, dass es endlich einmal einen fairen Kampf zwischen Radikalen und Moderaten geben kann. Lamya Kaddor weiß das natürlich, und deshalb will sie ja den Liberalen eine institutionelle Stimme geben.
Was Sie über die Zeitbedingtheit der Vorschriften über die weibliche Verhüllung sagt, als wäre es eine Wahrheit, die jede(r) erkennen muss, wenn er nur tief genug schürft, ist in Wahrheit (noch) eine Minderheitenmeinung – die Meinung einer winzigen, aber nicht chancenlosen Minderheit.
Eben darum verdient sie Unterstützung.

 

Warum ich nie Deutsche sein will

Das erklärt Mitbloggerin Cucumis in diesem Beitrag:

Irgendwie muss ich lachen wenn ich diesen Beitrag und die ganzen Kommentare dazu lese.

Vor allem finde ich es echt mutig, solche Beiträge zu schreiben, denn das offenbart ja eigentlich nur, wie “unwissend” die Menschen sind. Und DIE sollen Politik machen-Ja, uns allen viel Glück!

Also, die Muttersprache zu erlernen ist die Basis, auf der die zweite Sprache aufbaut. Quasi die Unterkellerung eines Hauses – muss für die Stabilität da sein.
Vor allem verstehe ich solche Zitate wie “So what!” nicht, wenn es um die DEUTSCHE Sprache geht. Also die Schauspielerin hat so gut Deutsch gelernt, dass sie nicht “rein” Deutsch reden kann. Vermischt mehrere Sprachen und ich bin mir sicher, dass sie auch mal Türkisch und Deutsch vermischt. Ein Hoch auf solche “Besserwisser”!!

In mehreren Projekten, die ja auch VOM STAAT GEFÖRDERT werden, geht es darum, dass die Kinder die Muttersprache, und die ist und bleibt TÜRKISCH, zuerst erlernen sollen. Und jetzt soll mir eine daher kommen und sagen: “Nein, dann bringt man es nicht weit!”
Das ist witzig und absurd!

Vor allem finde ich es ja so toll, dass die Menschen, die in dem Beitrag erwähnt werden genau nach irgendwelchen Stereotypen gewählt werden. Herr Öger, dem der Kragen platzt, junge Menschen mit Käppis, Frauen mit Locken. Ah, wunderbar!

Ich sag Ihnen mal was, ich komme selber aus einer Familie mit Migrationshintergrund. Wir sind 4 Geschwister. Die eine ist Dipl.Pädagogin, die eine Rechtsanwältin, die eine Lehrerin und ich studiere gerade Psychologie. Ich habe zuerst Türkisch gelernt und bin regelrecht dankbar dafür. Ich spreche besser Deutsch als manche Deutsche und nein, meine Eltern sind nicht irgendwelche Akademiker oder so. Ganz normale “Gastarbeiter”.

Also, geht es doch!!!!

Die Integrationspolitik ist doch nichts als eine Lüge, um bei den Wahlen mehr Stimmen zu kriegen. Wenn zuvor noch unser tollen Banker sagt “Kein Kindergeld für Migrationskinder mit schlechten Noten”, kann es nicht sein, dass man ein Ganzes bilden will! Die Segregation fängt doch in den Kindergarten an.

Außerdem, nur weil ich in Deutschland lebe, bin ich noch lange keine Deutsche. Werde ich auch nicht sein. Das ist genauso als würde man aus einer Hose eine Jacke machen wollen! Geht einfach nicht.
Vor allen Dingen, wieso auch??
Reichen den deutschen Staatsbürgern etwa die eigene Jugend nicht mehr??
Der demographische Wandel ist ja allen bekannt!

Ich lebe in Deutschland, zahle meine Steuern und tu alles, was “Deutsche” auch tun. Aber eine Deutsche bin ich nicht..War ich nie..und werde ich auch nie sein!…

 

„Träumt ihr türkisch?“ – mit Sigmar Gabriel im Moscheenland Ruhr

Die ausführliche Version meiner Reportage aus der aktuellen ZEIT:

Die Fahne seht man schon von weitem. Mondsichel und Stern auf flammendem Rot. Vor der Buer Merkez Moschee an der Horststraße in Gelsenkirchen steht Ümit Cibir, eine verkehrt herum aufgesetzte Baseballmütze auf dem Kopf. Ein paar seiner Freunde hat er mitgebracht, auch sie tragen Hiphop-Klamotten und haben ihre Haare mit großen Mengen Gel zu gewagten Skuplturen aufgetürmt.
Eine Weile haben sie schon ausgeharrt an diesem Freitagmittag. Sie warten auf Sigmar Gabriel, den SPD-Vorsitzenden und seinen Bus voller parteinaher Promis. Und natürlich auf die mitreisenden Kameras der Journalisten. Als die Expedition endlich verspätet auftaucht, spannt Ümit mit seinem Kumpel Mohammed zur Begrüßung die Fahne auf. In den Busfenstern prangen Plakate: “Wir zeigen den Rechten die Rote Karte! SPD.”
Ümit und sein Freund zeigen den Linken die Rote Fahne. Es ist freilich die türkische, und das schafft ein Kommunikationsproblem. Denn Sigmar Gabriel ist unterwegs um zu betonen, dass die türkischen Einwanderer und ihre Kinder “hier in NRW dazugehören” und “dass wir nicht zulassen werden, dass diese Typen einen Keil zwischen uns treiben”.
“Diese Typen”, das sind die rechtsextremistischen Hetzer von der Initiative “pro NRW”, die an diesem Wochenende überall im Ruhrgebiet “Mahnwachen” vor Moscheen abhalten und einen “Sternmarsch” auf die neue Duisburger Moschee veranstalten, die größte in Deutschland. Denen will man mit dieser Aktion die Show stehlen. Die Kameras sollen nicht nur die Krakehler zeigen, die ein Minarettverbot auch in Deutschland fordern und biedere Nachbarschaftsmoscheen wie diese hier als “Brutstätten des Terrorismus” hinstellen. An deren Stelle soll Sigmar Gabriel zu sehen sein, Gemütsmensch, Nachbar und Parteichef, der mit den Menschen ohne Furcht und Vorurteile redet, ein Mann, der durch seine schiere Präsenz und Offenheit Zusammenhalt schafft. Ein guter Plan.
Doch so eine riesige türkische Fahne ist da nicht wirklich hilfreich. Sie macht das gewünschte Bild kaputt. Ümit und Mohammed wird das auch gleich deutlich werden.
Gabriel hat kaum den Bus verlassen, da ist er schon federnden Schritts bei den Jungs: “Merhaba. Warum steht ihr hier mit der türkischen Fahne? Seid ihr keine Deutschen? Gehört ihr hier nicht dazu?” Damit haben sie nicht gerechnet. Verlegenes, sprachloses Grinsen unter der Basecap. “Ich bin gleich wieder da, will nur eben die Demonstranten da hinten begrüßen”, versetzt Gabriel und läßt die beiden Verdutzten stehen. Er marschiert zu einer Gruppe von Jusos und Falken, die an der nächsten Ecke lautstark gegen “Rechtsextremismus und Rassismus” demonstrieren. Als er zum Eingang der Buer Merkez Moschee zurückkehrt, leuchtet es ihm schon schwarzrotgold entgegen. Ümit und sein Freund halten jetzt eine deutsche Fahne in den Händen: “Wow. Ihr seid ja pfiffig. Da können wir ja noch was lernen. Kommt mit rein”, sagt Gabriel im Vorbeigehen. Allgemeines Gelächter, in das schließlich auch Ümit und Mohammed einstimmen.

Gabriel mit seinem Tross in der Buer Merkez Moschee Foto: JL
Wenn der SPD-Chef dieser Tage ein “Zeichen gegen die Rechten” setzt, indem er durch die Moscheen des Ruhrgebietes tourt, dann ist das natürlich auch Teil Wahlkampfes in Nordrhein-Westfalen – sechs Wochen vor dem Sonntag, an dem es der Spitzenkandidatin der SPD, hannelore Kraft, vielleicht sogar gelingen könnte, Schwarz-Gelb in Düsseldorf von der Macht zu vertreiben. Frau Kraft ist folgerichtig an mehreren Stationen der Reise ebenfalls dabei. Die Sozialdemokratie hat die Muslime nach Jahren ratlosen Schweigens wiederentdeckt. Integrationspolitik ist unterdessen Unionsterritorium geworden, im Bund durch Islamkonferenz und Integrationsgipfel, in NRW durch den umtriebigen Minister Laschet. Es geht also auch um die Rückeroberung eines Themas.
Aber mit dem Zeichensetzen ist das nicht so einfach dieser Tage. Wo auch immer der Moscheentourist Gabriel hinkommt an diesem Freitag – immer ist einer schon da, den er nicht auf der Rechnung hatte. Ob in in Oberhausen, Mühlheim oder Essen-Katernberg: Überall muss Gabriel die Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan aus der ZEIT kommentieren, türkische Gymnasien seien ein Mittel gegen die Integrationsdefizite vieler junger Türkischstämmiger. Und nur wer seine Muttersprache beherrsche, könne auch Deutsch lernen.

In Mühlheim kommen Hannelore Kraft und Peter Maffay dazu (rechts mit Krawatte Vural Öger) Foto: JL

Kaum hat er am Morgen die Haci Bayram Moschee in Oberhausen betreten, geht es schon los. Es ist eine kleine, bescheidene Hinterhofmoschee, in die der Tross hier einfällt. Die mit ornamentalen Kacheln verkleidete Gebetsnische mag in Richtung Mekka weisen, doch die Debatte hat sofort Ankara zum Ziel. Herr Yildirim, der Generalsekretär desMoscheeverbandes Ditib – ein Ableger des Religionsministeriums der Türkei – möchte sich lieber nicht zu Erdogans Meinungen äußern. “Wir gehören zu Deutschland, wir schätzen den Rechtsstaat” – mehr ist dem Funktionär nicht zu entlocken. Da können Gabriels mitreisende türkische Promis nicht mehr an sich halten. Die Schauspielerin Renan Demirkan sagt, ihr eigenes Türkisch sei zwar “nur radebrechend”: “So what! Mein Deutsch ist gut, das war meinen Eltern wichtig, und darum habe ich es zu etwas gebracht. Ich will dass die Kinder diese Sprache lernen, damit sie sich sichtbar machen können und mitmachen können in dieser Gesellschaft, die ich so liebe.” Weiter„„Träumt ihr türkisch?“ – mit Sigmar Gabriel im Moscheenland Ruhr“

 

Warum Deutschland von Migration profitiert

Mitblogger Christoph Leusch gibt zu bedenken (in Antwort auf den Post zu Siegfried Kohlhammer):

Lieber Herr Lau,

Quatsch wir auch dadurch nicht besser, wenn man sich mit Chuzpa für ihn einsetzt. Der ganze Kohlhammer Erguss wimmelt doch so von Falschmeldungen.

Bis 1973 (Anwerbestopp für Gastarbeiter) wurde ganz offiziell und sehr konsequent das “Rotationsprinzip” bevorzugt (befristet heuern, dann feuern, dann neue Leute in den Werbeländern einstellen und her holen, usw.).

Das ging nicht mehr, weil immer mehr “Gastarbeiter” aus den Massenunterkünften auszogen und, trotz erheblicher Schwierigkeiten, ihre Familien nachholten. Seither, seit 1973, gibt es keine “Gastarbeiter” mehr. Was die Gleichstellung angeht verlief der Prozess also genau umgekehrt, wie von Herrn Kohlhammer behauptet.

Aber bis dahin, bis Anfang der 70er, war die Zahl der gastarbeitenden Ausländer auf 4 Millionen angewachsen. Die hatte man sowohl bei der Entlohnung, als auch bei den Renten, als auch bei den Lebens- und Wohnverhältnnissen und bei der Steuer kräftig über den Tisch gezogen.
– Klar, den meisten Arbeitern ging es besser als in Anatolien, keine Frage.

Vielleicht hilft ja folgender Hinweis und helfen die folgenden Links?:

Ulrich Herbert, “Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge”, München (Beck) 2001

Das Buch befreit von so manchen Schönfärbereien zum Thema der Gastarbeiter und Arbeitsmigranten. “Gastarbeiter” wurden bis Anfang der 70er Jahre, d.h. bis zum Anwerbestopp 1973, auf Zeitbasis eingestellt. Nominell wurden ihnen Tariflöhne nach eigenen Lohngruppen, “angelernt”, “ungelernt”, bezahlt, viele arbeiteten “freiwillig” und überqualifiziert auf einfachen Produktionsarbeitsplätzen, als Ungelernte. Ähnlich wie beim Verlegersystem im 19.Jh, nahm man ihnen im Wege des “Vorabzugs” (!) für Massenunterkünfte (Mieten völlig überhöht), Verpflegung und Transportkosten zum Arbeitsplatz, einen Anteil gleich wieder ab. Die meisten lebten auf Firmengeländen oder direkt neben den Werkshallen in firmeneigenen Barackensiedlungen. – Das ist z.B. in Frankfurts Stadtarchiv und Stadtmuseum gut dokumentiert, einschließlich der Arbeits- und Entgeltnachweise, einschließlich Fotomaterial.

Die Rentenversicherungsträger bezifferten übrigens den jährlichen “Gewinn” aus der Einzahlung von Beiträgen aus den Arbeitsentgelten für diese Jahre von etwa 1960 bis 1973 auf ca. 1 Milliarde DM jährlich! “Gastarbeiter” konnten auch nicht ihre Rentenbeiträge hinterher geltend machen. Derzeit werden gerade einmal 30.000- 40.000 Altersrenten an Rückkehrer in die Türkei ausgezahlt. Ein verschwindend unwichtiger Abfluss an Sozialtransfers, obwohl eine erheblich größere Anzahl an Gastarbeitern der 1. Generation mittlerweile in Rente gegangen ist. Grund: Bis 1973 sorgte man nach dem “Rotationsprinzip” dafür, dass selbst die Gastarbeiter die Rentenanwartschaften erwarben, unter den Anrechnungszeiten für die Gewährung einer Altersrente blieben. Dazu kamen die weitgehende Unkenntnis zur dt. Sozial- und Rentengesetzgebung und sprachliche Probleme. Selbst 1981 blieben nur ca. ein Dritttel der türkischen Arbeiter länger als 10 Jahre in Deutschland (Herbert).

Was die Steuer angeht ging man von einem positiven Saldo in gleicher Höhe, also von ebenfalls 1 Mrd. DM aus, denn die Einkünfte der Gastarbeiter wurden besteuert, aber selbstverständlich stellte kaum einer Anträge auf Lohnsteuerrückerstattung (die lasen eben nicht
“Lohnsteuer leicht gemacht”).

Nach 1973 wandelte sich das Bild allmählich und das musste zwangsläufig so sein, weil Deutschland stillschwiegend zum Einwanderungsland wurde. Aber die Thesen Kohlhammers wollen ja nur mit Aplomb ein bisschen “skandalisieren” und deshalb wird einfach “zugehauen”.

Wie man in den 60er Jahren dachte, das steht bei Herbert auf S.209-210 beschrieben. Er zitiert, neben den Industrieverbänden, den zuständigen Staatssekretär Kattenstroh (1966) aus dem Arbeitsministerium, der die Vorteile der “Gastarbeiter” lebhaft ausmalte: Bestes Alter (90 v.H. zwischen 18 und 45), zahlen in die Sozialkassen, ohne etwas mitnehmen zu können oder Ansprüche zu erwerben; Steuerzahler so lange sie arbeiten, zurück in die Heimat, wenn ihre Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird, Fleiß und hohe Arbeitsproduktivität (was zu Protesten und dann zu einer Kampagne der Springer-BILD Anlass gab), bei geringer Entlohnung. Keine Sozialeinrichtungen notwendig, außer den Kirchen (Bahnhofmissionen, Hilfswerke), die für die Migranten als Auffang benötigt würden; Abschieben und Rückführen aufgrund der vielen bilateralen Verträge einfach und dadurch keine Folgelasten aus der Chronifizierung von arbeitsbedingten Gesundheitsschäden.

Na ja, eine neue Generation an Geistesarbeitern wächst derzeit nach, die keine Geschichtskenntnisse haben muss und will, und auch das Wort Sozialreportage (Wallraff) nur noch als märchenhaftes Gerede kennen möchte.

Zur Auflockerung und Bereicherung lese man einmal hier, zu Köln, Eiglstein, Weidengasse:

http://www.migrationsroute.nrw.de/themen.php?thema_id=42&erinnerungsort=k%F6ln

http://www.migrationsroute.nrw.de/themen.php?thema_id=41&erinnerungsort=k%F6ln

Das ganze Geschwätz, von wegen höherer Sozialkosten als Nutzen, stammt webbasiert meist von einem gewissen Herrn Mannheimer.- Der ist in der “Szene” mindestens so notorisch, wie die liebe Oda Dridi- Dörfel, die durch viele Migranten- und vor allem Islam- und türkenfeindliche Blogs geistert und auch hier schon ihr Unwesen trieb. – Da schreiben die Oberkonservativen still oder offen ab. Leider ohne viel Überprüfung, denn sonst wäre aufgefallen, dass die Renten türkischer Arbeitnehmer im Schnitt um ein Fünftel unter dem gleichwertig beschäftigter Deutscher liegen, dass Türken vornehmlich auf so genannten gefahrengeneigten und körperlich verschleißenden Arbeitsplätzen eingesetzt wurden und werden, dass sie viele rechtliche und gesetzliche Schutzmaßnahmen überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen (Sprache, Antragswesen).

Aufällig auch, dass mit wesentlich niedrigeren Renteneinkommen mehr Personen in einem Haushalt versorgt werden. Wie gesagt, dazu gibt es verläßliche Angaben der IHK -Berlin, des DIW und der Rentenversicherungsträger. Selbst heute holt sich ein nicht geringer Teil der türkischen Arbeitnehmer seine Ansprüche nicht ab, weil bei uns Renten nur nach Antrag mit möglichst vollständigen Erwerbsbiografie-Unterlagen gewährt werden.

Aber was nützt das Pfeifen, wenn selbst Chefredakteure der ZEIT nicht gewillt sind für ihre Artikel zu recherchieren und wild Arbeitsunfähgkeitsrenten und Erwerbsrenten in einen Topf werfen, bzw. die Unterschiede nicht kennen.,
Aber, dieses Thema hatten wir ja schon. War es 2006 oder 2007.

Zumindest in NRW, dort leben ca. 30-35% der türkischstämmigen Migranten (Berlin 7%), kann auf diesen Bevölkerungsteil ohne schwere wirtschaftliche und infrastrukturelle Einbußen überhaupt nicht mehr verzichtet werden. Dort gelingt es auch immer mehr Migranten, trotz der Rezession, Eigentum zu bilden, Unternehmen mit deutlichen Beschäftigungseffekten zu gründen und in die Ausbildung der Kinder zu investieren. Es enteht ein türkischstämmiger Mittelstand. So muss und soll es weiter gehen.

Grüße
Christoph Leusch

PS:
Wie hoch der Anteil der Sozialtransfers an Migranten in Dänemark wirklich ist, das hat weder Herr Kohlhammer, noch der zitierte Herr Bawer, noch haben Sie das recherchiert! Herrn Kohlhammer geht es um seine Theorie von Kulturalismus, er hat etwas gegen Ethnologen und Kulturanthropologen (sie relativieren ihm zuviel), und möchte gerne eine “Überlegenheit” der asiatischen und der westlichen Kulturen nachweisen. Das macht er zwar konsequent und Jahrzehnte lange, aber er spielt immer die gleiche Schallplatte.

 

Muslime, organisiert euch!

Hilal Sezgin schreibt auf Qantara.de über die neue Zusammensetzung der Islamkonferenz:

Es liegt etwas zutiefst Bevormundendes, sogar Undemokratisches in dieser Art der Besetzungspolitik. Das Ministerium berät, hinter verschlossenen Türen. Die Muslime warten ab, wer sie vertritt.

Natürlich betont man offiziellerseits: „Die Deutsche Islamkonferenz ist nicht die Vertretung der Muslime Deutschlands, sondern die zentrale Plattform des deutschen Staates für den Dialog mit Muslimen in Deutschland.“

Doch das ist ein schwer verständliches Zwitterkonstrukt. Wie kann man in der Islamkonferenz einen Dialog mit den deutschen Muslimen führen, wenn die dort Anwesenden keine Vertreter der Muslime, von diesen weder gewählt noch vorgeschlagen, und teilweise nicht einmal selbst-identifizierte Muslime sind?

Sorry, da komme ich nicht nicht mit: Der Innenminister hat die beiden Kritikerinnen, die die konservativen Verbände am meisten nervten, entfernt – aber die andere Seite hat immer noch nicht genug Entgegenkommen? Er hat versucht, eine neue Pluralität in die Reihe der Einzerpersonen zu bringen: eine Bosnierin, zwei Kurden, eine Schiitin, einen marokkanischen Imam – und alles, was Hilal Sezgin dazu einfällt, ist: Obrigkeitsstaat! Das geht nun wirklich nicht.

Sich repräsentativ und demokratisch legitimiert aufzustellen ist Sache der Muslime selbst. Es gibt solche Organisationen nicht. Die Islamverbände sind kleine Klientelgruppen mit viel zu viel Nähe zum Ausland (Türkei bei Ditib, Muslimbruderschaft und Milli Görüs im Fall des Islamrats und der ZMD).

Es ist ein Widerspruch, dem Staat das Obrigkeitliche vorzuwerfen und dann implizit zu verlangen, er möge die Muslime demokratisch repräsentativ reorganisieren. Die Muslime müssen den Hintern schon selbst hoch bekommen, damit sich da was ändert.

 

Die doppelte Empathielücke

Michael Thumann, unser Mann in Istanbul hat Recht mit seinem Kommentar:

In Deutschland klafft eine Empathielücke, sogar eine doppelte: gegenüber den Türken und gegenüber der Türkei. Bei allen Bemühungen und Konferenzen fehlt es an einer vorbehaltlosen Umarmung der Deutschtürken durch die Regierung. An dem feierlichen „Ihr gehört zu uns, ohne wenn und aber.“ An dem „Wir“ von Deutschdeutschen und Deutschtürken.

Allerdings ist das ein Versäumnis beider Seiten. Es gibt auch zu wenig öffentliche Identifikation der Deutschtürken mit diesem Land hier. „Germany’s been good to me“ – das möchte man eben auch einmal hören. Und da gibt es eine merkwürdige innere Schwelle bei vielen Türken. Der türkische Ministerpräsident versucht diese Identifikationslücke auszunutzen, indem er sich als zuständig für die Auslandstürken erklärt, egal in wievielter Generation sie bereits hier leben. Immer mehr von ihren Sprechern wehren sich dagegen und spielen nicht mehr mit. Das ist gut so.

Die Identifikationslücke kann nur von beiden Seiten geschlossen werden.

Dass sich massenhafter Widerstand gegen die Türkei als EU-Mitglied erhebt, nachdem wir lauter halbreformierte und korrupte Balkanstaaten aufgenommen haben, ist eine historische Dummheit und Ungerechtigkeit. Die Türken wäre ein viel besseres Mitglied als die christlichen Brüder aus Griechenland, die unseren Euro fast vor die Wand gefahren haben.

Die Türkei könnte, wie die WELT schreibt, die Maastricht-Kriterien erfüllen, die Griechen konnten das nur mit „kreativer“ Buchführung“. Solche Absurditäten der europäischen Politik führen zu einer Verbitterung auf der türkischen Seite, die völlig unnötig ist.