Was am deutschen Pazifismus faul ist

Karl Heinz Bohrer, der Herausgeber des Merkur, ist im neuen Heft in großer Form. In seinem Essay analysiert er „den GAU der deutschen Außenpolitik“:

„Und wenn man nach der Libyen-Entscheidung mit jüngeren, durchaus informierten und intelligenten Berliner Diplomaten sprach, bekam man bei solchen, die die Reaktion ihres Ministers nicht unbedingt unterstützen, den Eindruck, dass sie weit entfernt davon sind, den Tatbestand einer Isolation und die Gründe dafür wirklich ernst zu nehmen. Es wird höchstens im Jargon eines diplomatietechnischen Für undWider erörtert, ob man nicht am Ende recht behalte. Die Rückschläge der westlichen Koalition über Libyen wurden mit einer gewissen Schadenfreude kommentiert. Und was Syrien betrifft, lagen die beflissenen Erklärungen des Außenministers abermals dicht an der Peinlichkeit, einerseits offene Türen einzurennen, andererseits gar nichts Substantielles sagen zu können. Offenbar ist von den deutschen Akteuren verdrängt worden, was einigen kritischen Beobachtern sofort auffiel: Dass eine Art GAU die deutsche Außenpolitik befallen hatte, seit sie sich mit Russland, Indien und China in einem Boot wohlfühlte.
Allein schon die einschlägigen Rechthabereien, während das Kind längst im Brunnen lag, belegen das Urteil, dass eine erstaunliche Weltunerfahrenheit die Ursache des Dilemmas ist. Die Sache wird aber erst richtig brenzlig, wenn man zu dieser Einschätzung hinzufügt, dass eine Mehrheit der Deutschen aus allen Schichten sich der eingangs erwähnten Begründung solcher Distanz zu denWeltläuften, nämlich keine wirkliche koloniale Erfahrung zu haben, sogar rühmen würde.
Was drückt sich darin aus? Abgesehen von einer kurzen Periode vor dem Ersten Weltkrieg gab es keine deutschen kolonialen Aspirationen, weil es keinen deutschen Staat gab, der solche Art Machtinteresse hätte artikulieren können. Als er es schließlich für eine kurze Zeit vor allem in Afrika tat, geriet dieses Machtinteresse nicht zufällig zu einer moralischen und zivilisatorischen Katastrophe. Unerfahren in Machtausübung, stattdessen von einem einzigartigen provinziellen Rassedünkel geprägt,  veranstalteten Kolonialmilitärs wie der Generalleutnant Lothar von Trotha ein Massaker unter den aufständischen Hereros. Trotz der Proteste deutscher Parlamentarier ist diese düstere Affäre im Nachhinein aber auf das Konto europäischer Kolonialherrschaft überhaupt überschrieben worden, statt die spezifisch deutsche, in mangelnder Machterfahrung kombiniert mit Rasseidentität begründete Ursache zu erkennen.
In falscher Übertragung wurde die Kolonialherrschaft, vor allem die der Briten, vorpolitisch-moralisch, also zivilisatorisch-historisch negativ bewertet. Mehr noch: Machtausübung als solche wurde sehr bald einem abstrakten Moralismus, einem Reinlichkeitsprinzip unterworfen, das dann behauptete »Sie sagen Gott und meinen Kattun« − eine Rede, die heute in deutschen Urteilen über das angelsächsische Engagement im Nahen Osten nachklingt.“

„Die Entpolitisierung der Machtidee und ihre Existentialisierung, die sich damit äußerte, waren schon die Folge mangelnder Macht und mangelnder Machterfahrung, was sich in der Politik derNazis, die samt und sonders, verglichen mit britischen oder amerikanischen Politikern, keinerlei Welt- und Machterfahrung besaßen, dann nicht zufälligerweise zuspitzte.
Diese Vorgeschichte der aktuellen Enthaltsamkeit muss man im Auge haben, wenn man ihren apolitischen Moralismus richtig benennen will. Dann ergeben sich zwei unerquickliche Einsichten.
Erstens: der radikale Pazifismus. Er charakterisiert noch immer die deutsche Mehrheit, aber auch die Intellektuellen dieses Landes, und dieser Pazifismus ist nichts anderes als das Pendant des ehemaligen Militarismus. Das fast konform zu nennende Verhalten vieler Intellektueller in Universität und Feuilleton in dieser Frage wird auch nicht besser dadurch, dass französische Intellektuelle in eitlen Selbstdarstellungen zum Pro und Contra des Krieges sich lächerlich machten. Der  deutsche Militarismus entsprang einem absoluten, nicht erfahrungsgesättigten Prinzip. Darin unterschieden von der kriegerischen Haltung der Briten, die ihre Interessenmit der Waffe durchsetzten, ohne deshalb militaristisch zu werden. Insofern ist auch das Argument, man habe aus der Vergangenheit gelernt, das im Diktum des beliebtesten deutschen Außenministers mündete, kein Krieg dürfe mehr von deutschem Boden ausgehen, eine pathetische, nichtssagende Erklärung. Sie wurde deshalb auch nie von den westalliierten Partnern wirklich ernst genommen, sogar eher verächtlich behandelt.
Der springende Punkt ist ja: Wie einleuchtend kann es sein, wenn jemand, der zweimal ein Haus anzündete, beim Brennen eines weiteren Hauses erklärt, er würde nicht beim Löschen helfen, weil er nie mehr wieder mit Feuer zu tun haben wolle? Jedenfalls nimmt sich der erst jetzt zögernd revidierte deutsche Grundsatz, jenseits der eigenen Grenzen militärisch eigentlich nicht aktiv werden zu können, genauso aus: Derjenige, der zwei Weltkriege anzettelte, überlässt in Zukunft das Kriegführen den anderen. Eine solche Position wird auch nicht besser, wenn den jeweiligen Kriegführenden bei ihren Aktionen schwere militärische und politische Fehler unterlaufen. Sich darauf zu berufen, macht die Enthaltung noch peinlicher. Etwas anderes wäre nämlich eine klarere, selbstbewusstere Begründung der deutschen Abstinenz, bei der die verheerende militärische Geschichte des Landes im letzten Jahrhundert offen zur Sprache käme und die ihr folgende pazifistische Haltung der deutschen Öffentlichkeit. Dem könnte man einen gewissen Respekt zollen.“

 

Warum Deutschland keine Panzer an die Saudis verkaufen sollte

Mein Leitartikel aus der ZEIT von morgen:

Deutschlands Botschaft an den arabischen Aufstand ist 10,97 Meter lang, wiegt 67,5 Tonnen und hat 1500 PS. Die Bundesregierung hat die Ausfuhr von bis zu 200 Panzern des Typs Leopard an das saudische Königshaus genehmigt. »Leos« für Riad? Ausgerechnet jetzt?
Was wohl die fünf Frauen von dem Geschäft halten, die am Mittwoch vergangener Woche in der saudischen Hafenstadt Dschidda festgesetzt wurden? Ihr Vergehen: Sie hatten das Fahrverbot für Frauen missachtet. Am Sonntag erwischte es dann in der Hauptstadt Riad 20 Demonstranten. Sie hatten die Freilassung politischer Gefangener verlangt.
Was diese Menschen über den Panzer-Deal denken, wird man nicht erfahren: Wer im Golf-Königreich für Menschenrechte und gegen die Apartheid der Geschlechter kämpft, landet im Knast – schneller denn je übrigens, seit die Demokratiebewegung an den arabischen Thronen sägt. Aber nicht mehr alle in der Region sind so leicht mundtot zu machen.
In Blogs, auf Twitter und Face­book ist die Panzer-Botschaft so angekommen: Deutschland glaubt nicht an uns. Die Deutschen haben den Arabischen Frühling abgehakt. Es ist unvergessen, dass Deutschland sich im März weigerte, dem libyschen Diktator in den Arm zu fallen. Und jetzt Kampfpanzer für den geschworenen Gegner jeder Demokratisierung in der Region? Die Saudis haben dem tunesischen Tyrannen Ben Ali eine Heimstatt gegeben, sie standen bis zuletzt an Mubaraks Seite. Deutsche Waffen für die Herrschenden in Riad, das bedeutet, in Abwandlung eines deutschen Dichterworts: Krieg den Hütten, Friede den Palästen.

Nach dem Debakel der Libyen-Entscheidung hatten Merkel und Westerwelle betont, man fiebere mit den Rebellierenden und wünsche den Sieg der Demokratie. Den Saudis den besten Panzer zu verkaufen, den es auf dem Weltmarkt gibt, ist damit schwer zu vereinbaren. Mit Panzern wie dem »Leo«, heißt es in Berlin, könne man nicht gegen Demonstranten vorgehen, darum sei die Lieferung unproblematisch.
Sicher? Der Leopard in seiner neuesten Va­rian­te 2A7+ ist speziell für »asymmetrische Situationen« ausgerüstet. Weil die Zeit der Panzerschlachten zwischen Nationen vorbei ist, hat man den »Leo« für die Aufstandsbekämpfung umgebaut – mit Räumschaufeln und »nicht letalen Waffen«. Ein Bundeswehrvideo rühmt, dass schon »seine Präsenz lähmt und abschreckt«.
Die Saudis ließen Anfang März ihre Panzer nach Bahrain rollen, um dort der De­mo­kra­tie­bewe­gung den Garaus zu machen. Werden wir demnächst auf al-Dschasira das Spitzenprodukt der deutschen Rüstungsindustrie in Aktion sehen? 44 Exemplare sind bereits ausgeliefert.
Der Panzer-Deal ist ein Bruch mit den Prinzipien der deutschen Außenpolitik. In den »politischen Grundsätzen« der Bundesregierung für Waffenexporte wird der »Beachtung der Menschenrechte« im Bestimmungsland »besonderes Gewicht beigemessen«. Und im »Gemeinsamen Standpunkt« der EU verpflichtet sich Deutschland, »mit Entschlossenheit zu verhindern, dass Militärgüter ausgeführt werden, die zu interner Repression« eingesetzt werden können.
Dreißig Jahre lang hat Deutschland dem Drängen des Golfstaats nach dem »Leo« widerstanden. Zu Zeiten der Kanzlerschaft Helmut Schmidts wäre es fast zur Lieferung gekommen. Damals ging es um den Schutz der saudischen Ölquellen, während die Russen in den Irak und nach Afghanistan vordrangen. Weil die Saudis Feinde Israels waren, kam es nie dazu. Auch Helmut Kohl sagte Nein.
Warum gibt die deutsche Regierung die Zurückhaltung auf? Denkbar ist nur ein möglicher, geopolitischer Grund: Irans Aufstieg und seine Atomrüstung. Tatsächlich erhebt Israel angesichts dieses gemeinsamen Feindes jenseits des Golfs keine Einwände. Wer die Saudis aufrüstet, so die Logik, verhindert die Verschiebung des regio­na­len Gleichgewichts zugunsten der aufstrebenden Großmacht Iran.
Darum die deutschen Panzer? Als George W. Bush vor vier Jahren mit der gleichen Begründung Raketensysteme für 20 Milliarden Dollar an Riad lieferte, fielen Berliner Politiker von CDU und FDP über diese »primitive Form der Realpolitik« her. Merkwürdig, dass nun die schwarz-gelbe Regierung, die sich Abrüstung auf die Fahne geschrieben hat, der Bush-Doktrin folgt.
Für die deutsche Rüstungsindustrie ist das saudische Geschäft eine willkommene Gelegenheit, den Nachfragerückgang wegen der Bundeswehrreform und der Sparprogramme auszugleichen. Bisher galt, Beschäftigungspolitik dürfe nicht den Ausschlag für Rüstungsexporte geben. Gilt das noch? Deutschland ist drittgrößter Waffenexporteur weltweit, gleich nach Amerika und Russland. Der »Kultur der militärischen Zurückhaltung« (Westerwelle) spricht das Hohn.
Niemand weiß, ob der Arabische Frühling Erfolg haben wird. Das Scheitern der alten westlichen Stabilitätspolitik in der Region aber ist nicht zu übersehen. Die schlimmsten Kriege der vergangenen drei Jahrzehnte resultierten aus der Hybris der Gleichgewichtspolitik: die Feinde unserer Feinde aufzurüsten – Saddam gegen die Ajatollahs in Iran, die Taliban gegen die Russen. Am Ende führte der Westen stets gegen die Freunde von gestern Krieg. Das ist die Lektion unseres Scheiterns: Wer ein Land als Waffe betrachtet, muss darauf gefasst sein, dass sie sich dereinst gegen ihn selbst richtet.

 

Wir sind wieder wer – aber wer? Deutschland zwischen Hegemonie und Selbstverzwergung

Für die aktuelle Ausgabe der ZEIT habe ich mit dem Kollegen Marc Brost eine Einschätzung der deutschen Außenpolitik geschrieben – zum morgen beginnenden G-8 Gipfel. Der Text steht auf der Seite 3 der Zeit von morgen:

Thomas de Maizière hat einen Nebenberuf. Er ist jetzt zweiter Chefdiplomat der Regierung. Seine erste Mission: Reparaturarbeiten im westlichen Bündnis. Der neue Verteidigungsminister lächelt verbissen, als er am Mittwoch der vergangenen Woche vor die Generalität von Heer, Luftwaffe und Marine tritt. Hier, in der Julius-Leber-Kaserne im Berliner Stadtteil Wedding, will er die Truppe für einen historischen Schnitt begeistern – den Umbau der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee. Aber de Maizière hat an diesem Tag noch mehr vor. Er will Signale nach draußen senden: an die Verbündeten.

Nein, liebe Freunde, wir melden uns nicht ab.
Nein, wir gleiten nicht klammheimlich ab, in Neutralismus und Isolation.
Der Neue spricht vom level of ambition seiner Truppe und davon, dass er die Zahl der einsatzbereiten Soldaten steigern wolle – um ein Drittel, auf 10 000 Mann. Dann gestattet er sich noch eine Unfreundlichkeit in Richtung des Kabinettskollegen Westerwelle. Man müsse künftig nicht nur jeden Einsatz begründen, sagt der Minister, sondern auch bedenken, »welche Folgen ein Nicht-Einsatz hat«.
Das Wort Libyen fällt nicht. Aber das Signal an die deutschen Verbündeten ist auch so klar: Wir wissen, dass euch unsere Enthaltung im UN-­Sicherheitsrat nicht eingeleuchtet hat. Wir sind zu verflochten mit der Welt, um uns noch einmal auf einen deutschen Sonderweg zu begeben. Wir hatten uns da nur kurzfristig etwas verlaufen.
Für Angela Merkel kommen diese Signale gerade rechtzeitig. An diesem Donnerstag und Freitag trifft die Kanzlerin auf die Mächtigen der G 8, der wichtigsten Industriestaaten. Und die Agenda dieses Wirtschaftsgipfels ist geprägt von den außenpolitischen Erschütterungen.

Im französischen Deauville wird über die Aufstände in Nordafrika und im Nahen Osten gesprochen werden – und über mögliche Hilfe des Westens. Seit der Libyen-Entscheidung steht Merkel unter Druck. Man konnte es merken, als sie sich etwas übereifrig über bin Ladens Tod freute – als hätte sie bei den amerikanischen Freunden, die sie eben noch ohne Not im Stich gelassen hatte, etwas gutzumachen. So paradox können die Folgen des Nicht-Einsatzes aussehen.
Man wird in Deauville aber auch über Japans Notlage reden, die Folgen der Atomkatastrophe, die Euro-Krise und Afghanistan. Viel hängt dabei von Deutschland ab – schon wegen der Schwäche der anderen. Japans Wirtschaft wurde durch Erdbeben, Tsunami und Super-Gau um Jahre zurückgeworfen. Amerika ist strukturell überschuldet und außenpolitisch überdehnt. Großbritannien unterliegt brutalen Sparzwängen. Frankreich und Italien kommen mit erratischen Chefs schlecht durch die Krise, und beider Länder politische Kulturen sind durch die Skandale um »Bunga Bunga« und Dominique Strauss-Kahn tief erschüttert. Sieht man von den Zaungästen Kanada und Russland ab, läuft alles auf die Deutschen zu, die als Einzige die Krise nahezu unbeschadet überstanden haben.
Merkel wird das zu spüren bekommen, im Kreis der anderen Regierungschefs. Selten war Deutschland so wichtig – und zugleich so isoliert wie heute. Die Regierung agiere »ausweichend, abwesend, und unvorhersehbar«, heißt es in einem Thesenpapier des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR). Die Gleichzeitigkeit von Euro-Krise und neuem deutschen Wirtschaftswunder macht Deutschland zu einer unverzichtbaren Nation. Aber ein Land, auf das es derart ankommt, wird auch anders angeschaut. Wir sind wieder wer – aber wer?

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Warum Westerwelle Außenminister bleiben darf – und warum er gehen müßte

Mein Text aus der ZEIT von heute, S.4:

Es gibt Solidaritätsadressen, die bei näherer Betrachtung von Schmähungen kaum zu unterscheiden sind. Guido Westerwelle hat sie nach seinem Sturz zu erdulden: Es gebe »historische Beispiele«, ruft der zaudernde Vatermörder Christian Lindner ihm zum Abschied hinterher, »wie man Großes leisten kann in einem Staatsamt, auch wenn man nicht Parteivorsitzender« sei. So soll das Paradox übersprungen werden, dass Westerwelle zwar nicht mehr gut genug ist, die FDP zu repräsentieren – wohl aber die Bundesrepublik Deutschland.

Das historische Vorbild Genscher, auf den Lindner anspielt, ist den Liberalen dieser Tage überraschend schnell bei der Hand, um Westerwelles Verbleib im Amt zu rechtfertigen. Mit dem Vergleich tut man ihm und sich keinen Gefallen: Genscher hatte elf Jahre Entspannungspolitik vorzuweisen – die KSZE-Schlußakte mit ausgehandelt und jenes ostpolitische Netzwerk aufgebaut, dass dann mithalf, die deutsche Einheit zu gewinnen. Als er 1985 die Parteiführung abgab, war das der Preis, den Genscher für den Coup der Wende von 1982 zu zahlen hatte. Seine historische Leistung war, die Kontinuität der Ostpolitik von Schmidt zu Kohl garantiert zu haben. Seine außenpolitische Bilanz stand nie in Frage, und für Kohl blieb er koalitionspolitisch unabdingbar. Darum musste er Minister – und Vizekanzler – bleiben.
Merkel aber braucht den um Parteivorsitz und Vizekanzlerschaft reduzierten Westerwelle jetzt eigentlich nicht mehr. Er darf trotzdem Minister bleiben – als der steinerne Gast am Kabinettstisch.

Deutschland könnte einen handlungsfähigen liberalen Außenminister gebrauchen in diesen Zeiten. Das zeigte sich erst letzte Woche wieder, als Westerwelle nach China reiste, um in Peking eine von Deutschland bezahlte Ausstellung über die »Kunst der Aufklärung« zu eröffnen. Dort sagte er den schönen Satz: »Die Freiheit der Kunst ist die schönste Tochter der Aufklärung.« Aber sein Freiheistlied tönte blechern, weil er zuvor hingenommen hatte, dass der Sinologe Tilmann Spengler aus der deutschen Delegation gestrichen wurde, weil er eine Laudatio auf den verhafteten Nobelpreisträger Liu Xiaobo gehalten hatte. Damit nicht genug: Kurz nach Westerwelles Abreise wurde der Künstler Ai Weiwei verhaftet, der soeben angekündigt hatte, wegen der Repression in China in Deutschland ein Atelier zu eröffnen. Noch eine gezielte Demütigung Deutschlands – und damit auch ein beißender Kommentar zum Gewicht »wertegebundener« (Westerwelle) Außenpolitik. Erst zuhause protestierte Westerwelle gegen Ai Weiweis Verhaftung. Die chinesischen Freunde, mit denen zusammen Deutschland sich soeben in der Libyen-Frage enthalten hatte, betreiben eiskalt den Gesichtsverlust des »strategischen Partners« (Westerwelle). Willkommen in der multilateralen Welt.

Guido Westerwelle bleibt Außenminister? Man kann es auch so sagen: Außenminister, das ist nun das, was ihm bleibt.
Dabei hatte er hatte das Amt gewollt, weil er glaubte, dass es sich für den FDP-Parteichef so gehörte. Er wollte jenes Haus für die Partei zurückerobern, das einst ihre Bastion gewesen war, geprägt durch mehr als drei Jahrzehnte liberaler Außenpolitik der Scheel, Genscher, Kinkel. Nun hat die Partei ihn entsorgt, und das Amt verwandelt sich in eine Art politisches Abklingbecken, in dem Westerwelle einstweilen zwischenlagert. Das ist eigentlich gemeint, wenn die Parteifreunde sagen, er solle sich »voll auf sein Amt konzentrieren«. Als Westerwelle vor zehn Jahren seinen Amtsvorgänger Wolfgang Gerhardt besiseite schob, durfte der noch eine Weile Franktionsvorsitzender bleiben, bevor er zur Friedrich-Naumann-Stiftung weitergereicht wurde. Soll das Amt jetzt Westerwelles Naumann-Stiftung werden, mit fast 7000 Beamten der größte Thinktank der Welt?

Für die deutschen Diplomaten in der Welt und am Werderschen Markt in Berlin liegt in Westerwelles Konzentration aufs Amt eine gewisse Drohung, auch wenn sie das unter professioneller Loyalität verbergen. Die unterdrückte Enttäuschung über den zurechtgestutzten Chef wird nicht ohne Folgen bleiben. Als Parteichef und Vizekanzler brachte Westerwelle Gewicht mit. Doch bald wurde klar, dass man einen Innenpolitker bekommen hatte, für den das Außenamt immer eine abgeleitete Funktion behalten würde. Was Westerwele über Hartz 4 dachte, wußte bald jeder. Zur Eurokrise sind maßgebliche Gedanken nicht überliefert. Der Deal des Apparats mit Westerwelle hätte sein können: Du kannst von uns Glaubwürdigkeit und Seriösität bekommen – wenn Du dich beraten läßt. Kaum anzunehmen, dass das so noch gilt. Mit seinem Gewicht in der Koalition hätte er ein mächtiger Verstärker für die deutsche Diplomatie werden können. Nun aber drohen zwei Jahre Westerwelle unplugged.
Das Amt hat bisher noch jeden Chef zum Glänzen gebracht, nicht nur Selbstläufer wie Genscher und Fischer, sogar bekennende Anticharismatiker wie Kinkel und Steinmeier. Bei Westerwelle hat es erstmals nicht funktioniert. Und das ist merkwürdig: Kein Außenminister war je so unbeliebt, obwohl seine ganze Außenpolitik auf Popularität zielte: Er hat für ein konkretes Abzugsdatum aus Afghanistan gekämpft, für die Abrüstung der letzten US-Atomraketen in Deutschland, für einen Sitz im UN-Sicherheitsrat und gegen eine Beteiligung Deutschlands an der Libyen-Intervention. Die Angfänge dieser Politik reichen zurück in Westerwelles Oppositionszeit, als er 2006 gegen den Einsatz der deutschen Marine vor dem Libanon stritt, wo unter UN-Mandat (Unifil) verhindert werden sollte, dass die Hisbollah weiter mit Waffen gegen Israel versorgt werden konnte.

Es zeichnet sich eine Art liberaler Nationalpazifismus ab: Deutschland hält sich raus und zieht sich raus, wo immer es geht, im Zweifel auch auf die Gefahr hin, Freundschaften und Bündnisse zu gefährden, die bisher gerade für liberale und konservative Außenpolitiker als unverzichtbar galten. Es ist nicht so, dass Guido Westerwelle außenpolitisch keine Linie hat. Die Weigerung des Oppositionspolitikers, keine deutschen Matrosen zum Abfangen von Waffenlieferungen nach Nahost zu schicken, selbst als die Israelis das wollten, war ein Vorspiel seiner jüngsten Außenpolitik im Amt. Aus demselben Geist hat er sich nun früh gegen eine Flugverbotszone in Libyenfestgelegt. E hat ihn nicht irritiert, dass Aufständische und die Nachbarn wochenlang danach verlangten. Dass sich die engsten Verbündeten unter dem Eindruck von Gadhafis Radikalisierung von Skeptikern zu Interventionisten zu wandeln begannen, hat er offenbar nicht kommen sehen. Die Gefahr einer Isolierung zu erkennen, die Kanzlerin davor zu warnen und Gegenstrategien zu ersinnen, wäre aber die Aufgabe eines Chefdiplomaten gewesen.
Es gab durchaus, wie deutsche Diplomaten hinter vorgehaltener Hand berichten, Signale der treibenden Mächte Frankreich, USA und Großbritannien, dass man militärische Zurückhaltung der Deutschen akzeptiert hätte im Gegenzug für eine Ja-Stimme. Westerwelle behauptet aber weiterhin, Deutschland hätte sich den Forderungen nach militärischer Beteiligung nicht entziehen können und wäre auf eine »schiefe Ebene« gekommen. Mindestens so wichtig war eine innenpolitische Erwägung: durch die Enthaltung sollte eine Debatte über einen weiteren deutschen Militäreinsatz verhindert werden – kurz vor entscheidenden Wahlen. Die Debatte wurde verhindert, das Wahlkampfkalkül ist dennoch nicht aufgegangen. Und der außenpolitische Preis könnte hoch ausfallen.
Dabei schien Westerwelle im Februar endlich Tritt in seiner Funkiton zu fassen. Beherzt ergriff er das Freiheitsthema, das ihm der arabische Frühling frei Haus lieferte. Doch schnell wurde klar, dass bald war mehr vom deutschen Außenminister gefordert sein würde als Kaffeetrinken mit Bloggern in Tunis und touristische Abstecher auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Die Lage in Libyen eskalierte. Als Amerikaner und Franzosen sich angesichts des drohenden Falls von Bengasi entschlossen, den Diktator Gadhafi nicht gewähren zu lassen, kam es zur Kollision des Westerwelleschen Freiheitspathos mit seiner absoluten Entschiedenheit, sich rauszuhalten. Er nötigte seinen Beamten wider deren Ratschlag auf, sich bei der die Libyen-Resolution des Sicherheitsrates zu enthalten.

Im Oktober erst hatte er es als ersten großen Erfolg seiner Amtszeit gefeiert, dass Deutschland den nichtständigen Sitz im Weltsicherheitsrat erlangt hatte. »Warum wolltet ihr eigentlich unbedingt hier hinein? Um euch zu enthalten?« – solchen Hohn müssen sich die deutschen Diplomaten nun anhören.
Deutschland verhält sich neutral angesichts der größten Freiheitsbewegung seit 1989? Westerwelles lautes Insistieren, der »Diktator Gadhafi« (Westerwelle) müsse weg, macht die Sache nicht besser. Am letzten Freitag stand der deutsche Außenminister mit seinem chinesischen Kollegen Yang Jiechi gemeinsam vor der Presse. »Die libysche Sitiuation kann nicht durch militärische Mittel gelöst werden,« sagte er und verlangte eine »diplomatische Lösung« . Wie dieser Anspruch, ausgerechnet von Peking aus formuliert, wohl auf Franzosen, Briten, Amerikaner, Belgier und Schweden wirkt, die ihre Piloten über Libyen einsetzen, um Gadhafi in Schach zu halten? Die Vorstellung, dass sie am Ende den Deutschen das Verhandeln überlassen werden, ist abwegig.
Im Koalitionsvertrag haben sich Union und FDP zur »Idee des Westens als Grundlage und seinen Institutionen als Plattform deutscher Außenpolitik« bekannt. Der Westen müsse »zu mehr Geschlossenheit finden, um seine Interessen durchzusetzen und gemeinsame Werte zu bewahren.« Außenpolitiker der Union fragen sich unterdessen murrend, ob dieses Ziel noch gilt. Sie halten ihren Unmut gegen Westerwelle nur mühsam zurück, um den angeschlagenen Koalitionspartner nicht noch mehr in die Krise zu treiben.
Und mancher tröstet sich damit, dass Westerwelles Sturz als Innenpolitiker abermals eine Schwerpunktverlagerung der Außenpolitik ins Kanzleramt mit sich bringt. Es wird nun noch viel mehr auf die Kanzlerin ankommen.
Im Machtgefüge der Regierung war das Auswärtige Amt seit den Tagen Klaus Kinkels nicht so marginal wie jetzt. Der Unterschied: Damals konnte Deutschland sich das leisten. Die Einheit musste gestaltet werden, das Land war erst einmal mit sich selbst und der Beruhigung der Nachbarn angesichts seiner Größe beschäftigt.
Die Welt der asymmetrischen Kriege und humanitären Interventionen, der Währungskrisen und der amerikanischen Überdehnung, des Aufstiegs der Nichtwestler ist eine außenpolitische Dauerherausforderung. Heute ist Deutschland als Europas unbestrittenes Schwergewicht ständig gefordert. Es kommt darauf an, was in Berlin gedacht und entschieden wird – für Brüssel, Bengasi und Kundus.
Europa muss eine Haltung zum Aufstieg Chinas und anderer Nichtdemokratien finden – jenseits von Kotau und Überheblichkeit. Und der demokratischen Wandel in Arabien zu begleiten. Gute Themen für Liberale, eigentlich. Aber in beiden Fällen: Keine Enthaltung möglich. Außenpolitik ist heute Stresstest.
Dass Deutschland ihn mit einem entmachteten Außenminister bestehen kann, ist schwer vorstellbar.

 

Menschenrechtsbeauftragter besorgt über Islamkonferenz

Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP), hat sich heute gegenüber Journalisten zur Deutschen Islamkonferenz geäußert. Löning zeigte sich besorgt, dass die Bedeutung der Islamkonferenz für Deutschlands Menschenrechtspolitik unterschätzt werde. Er äußerte mehr als nur implizite Kritik an Äußerungen des neuen Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) über den Islam. Die DIK hat nach Löning nicht nur innenpolitische, sondern auch immense außenpolitische Bedeutung für Deutschland.

Deutschland setzt sich in islamisch geprägten Ländern wie etwa der Türkei, in Ägypten oder in Pakistan für Religionsfreiheit ein. Wenn dann die üblichen Rückfragen kommen, wie es denn mit dem Status der Muslime in Europa aussehe, kommt die Islamkonferenz ins Spiel: Wir Deutschen garantieren jedermann Religionsfreiheit und für die daraus resultierenden rechtlichen, institutionellen und sozialen Fragen haben wir ein Forum, die DIK.

Nach dem Echo auf die am Dienstag zuletzt tagende Konferenz, sagte Löning, mache er sich ernsthaft Sorgen, „ob dieses Instrument als ein funktionsfähiges erhalten bleibt“: „Wenn wir uns weiter für die Religionsfreiheit in der islamischen Welt einsetzen wollen, müssen wir glaubwürdig sein. Deshalb machen mich Äußerungen unglücklich, dass bestimmte Religionen hier dazugehören oder auch nicht. So etwas kommt immer verkürzt an.“ Es sei nicht Sache des Staates zu dekretieren, welche Religionen hier in welchem Maße dazugehören.

Löning sagte auch, zwar seien Sicherheit und Prävention wichtige Themen, aber wenn man an einem Dialog interessiert sei, sei es doch vielleicht keine gute Idee, sie demonstrativ in den Vordergrund zu stellen. Eine Islamkonferenz, die den Islam zuerst und zuvorderst als Sicherheitsproblem behandelt, kann kein Dialogforum sein.

Und damit hat er recht. Unverständlich ist es ohnehin, warum Friedrich das Sicherheitsthema so nach vorne zieht: Von Beginn der DIK hat es eine Arbeitsgruppe zum Thema Sicherheit und Extremismus gegeben, und auf allen Ebenen unserer föderalen Ordnung läuft längst erfolgreich eine Kooperation zwischen Moscheen, Moscheeverbänden und Sicherheitsbehörden. Die an der DIK beteiligten Gruppen unterstützen das. Es ist darum völlig unnötig, sie in eine Ecke zu drängen.

Gerade im Licht der Frankfurter Tat, die Friedrich anführt, ergibt das keinen Sinn: Der Täter kam nicht aus dem Milieu der Ditib- oder VIKZ-Moscheen.  Er ist auch kein Alevit. Er hatte Kontakte in Salafisten-Kreise. Die sind wiederum nicht Teil der DIK. Im Gegenteil: die Salafisten lehnen die Kooperation der Verbände mit dem deutschen Staat ja gerade ab. Warum aber tut der deutsche Innenminister dann so, als könnten ihm die braven staatstreuen Ditib- und VIKZ-Leute dabei helfen, sich radikalisierende Randfiguren der Salafi-Szene ausfindig zu machen? Bizarr. Kenntnisreiche Leute aus dem Ministerium und aus dem VS fassen sich an den Kopf bei dieser offensichtlichen politischen Instrumentalisierung eines sinnvollen Sicherheitskonzepts (Deradikalisierung).

Markus Löning hat guten Grund zur Sorge, dass die DIK unter diesem Minister vor die Hunde geht. Und er tut gut daran zu erinnern, dass die Unterscheidung von Innen- und Außenpolitik in Sachen der  Religionsfreiheit kurzsichtig ist.

 

Polenz: Deutschland muss das Waffenembargo gegen Gadhafi mit durchsetzen

Ruprecht Polenz (CDU) ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Er hat noch nie gescheut, auch gegen die Linie der eigenen Partei Stellung zu beziehen. Zuletzt hat davon sein Buch „Besser für beide. Die Türkei gehört in die EU“ Zeugnis abgelegt. Polenz hatte auch bereits im Bundestag die Position der Regierung in der Libyen-Frage kritisiert. Ich habe ihn für die morgige Ausgabe der Zeit befragt über Deutschlands Möglichkeiten, den entstandenen Schaden in den Bündnissen zu reparieren – und über die historische Bedeutung der UN-Resolution:

DIE ZEIT: Herr Polenz, das Flugverbot für Gadhafis Truppen ist in Kraft. Hätte Deutschland für die Intervention stimmen sollen?

Ruprecht Polenz: Ich habe immer gesagt, dass zwei Voraussetzungen für einen Einsatz erfüllt sein müssen: eine Resolution des Sicherheitsrats als völkerrechtliche Grundlage und zweitens eine sichtbare Beteiligung von Staaten der Region. Das letztere um zu vermeiden, dass der Eindruck entsteht, es gehe dem Westen ums Öl und nicht um humanitäre Gründe.
Deutschland hätte zustimmen sollen, als beides gegeben war. Das hätte nicht zwangsläufig bedeutet, sich auch militärisch zu beteiligen. Wir sind durch unser Engagement in Afghanistan, auf dem Balkan und am Horn von Afrika schon an der Grenze unserer Möglichkeiten. Eine Zustimmung hätte schon deshalb nicht automatisch die Verstrickung in einen weiteren Konflikt bedeutet.

ZEIT: Eben das aber war die Position des Außenministers und der Kanzlerin: Weil man deutsche Soldaten in Libyen ausschließen wollte, habe man sich nur enthalten können.

Polenz: Da stimme ich mit der Auffassung der Bundesregierung nicht überein. Bodentruppen wären durch die Resolution 1973 ohnehin nicht gedeckt. Russland und China würden sofort von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, um deren Entsendung zu verhindern. Auch Obama hat deutlich gemacht, dass die USA auf keinen Fall Bodentruppen einsetzen werden. Wer dennoch berechtigte Sorgen vor Weiterungen einer solchen Mission hat, kann sich auch ausklinken, wenn es so weit ist. Nun ist aber der Eindruck entstanden – wenn auch unbeabsichtigt – dass Deutschland nicht zu seinen Verbündeten steht. Das hätte man vermeiden müssen.

ZEIT: Hat Deutschland sich isoliert?

Polenz: Nein, so weit ist es noch nicht. Wir können dem Eindruck entgegensteuern, wenn wir jetzt in der Nato in den Stäben weiter mitarbeiten, die die Flugverbotszone und die anderen militärischen Aktionen in Libyen planen. Es wird auch über die Frage zu sprechen sein, ob sich Deutschland nicht doch an der Überwachung des Waffenembargos im Mittelmeer beteiligt.

ZEIT: Aber die Bundesregierung hat doch soeben die dazu fähigen Schiffe aus der Nato-Mission Active Endeavour im Mittelmeer zurückgezogen?

Polenz: Das war nicht anders möglich, denn deren Mandat war für den Antiterrorkampf ausgelegt. Aber der Verteidigungsminister scheint mir offen dafür zu sein, dass die Deutschen sich an der seeseitigen Kontrolle des Waffenembargos beteiligen. Ich fände das richtig. Deutschland hat in der Libyen-Resolution Nummer 1970 im UN Sicherheitsrat einem solchen Embargo zugestimmt, da läge es in der Konsequenz, auch an der Durchsetzung dieser Maßnahme teilzunehmen. Es ergibt keinen Sinn, einem Embargo zuzustimmen, dann aber seine Überwachung abzulehnen. Darüber müssen wir jetzt diskutieren.

ZEIT: Außenminister Westerwelle verteidigt die Enthaltung im Libyenkonflikt als Überzeugungstat, die im vollen Bewußtsein der bündnispolitischen Konsequenzen erfolgt sei. Ein deutscher Sonderweg ohne die traditionellen westlichen Verbündeten als neue Doktrin, ausgerechnet unter Schwarz-Gelb?

Polenz: Es gehört zu den Prinzipien der deutschen Außenpolitik, eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich innerhalb der europäischen Union zu pflegen. Und die deutsche Außenpolitik muss in eine gemeinsame Außenpolitik der EU eingebettet bleiben. Sicherheitspolitisch sind wir Mitglieder der Nato mit Rechten und Pflichten. Wir müssen darum nicht bei jedem Einsatz an vorderster Front dabei sein. Man kann seinen Beitrag auch an anderer Stelle bringen. Aber wir sollten schon darauf achten, dass wir nicht wie jene Länder wahrgenommen werden, mit denen wir jetzt gemeinsam gestimmt haben – Russland, China oder Indien.

ZEIT: Über Frankreich wird in Berlin derzeit sehr schlecht geredet. Sarkozy habe nur aus Profilierungssucht gehandelt.

Polenz: Frankreich will sicher auch in Libyen nachholen, was es in Tunesien versäumt hat: Empathie für die arabische Revolte. Als Sarkozy vorpreschte, waren die Bedingungen für eine erfolgreiche Intervention nur auf dem Papier erfüllt. Eine sichtbare Beteiligung der Araber haben wir bis heute nicht. Das ist wichtig, damit es nachher nicht heißt, der Westen mische sich imperialistisch ein. Al-Dschasira muss das filmen können. Aber wir sollten zurückhaltend sein mit Kritik an den Franzosen. Deren schnelles Eingreifen hat in Bengasi Schlimmstes verhütet.

ZEIT: Die Franzosen hingegen sind entsetzt, dass die Deutschen durch ihr Abstimmungsverhalten dokumentiert haben, dass sie einem Massaker in Bengasi zugeschaut hätten.

Polenz: Das ist ungerecht. Wir hätten ohnehin nur begrenzte Kapazitäten gehabt, um in Libyen mitzutun. Zum einen wären es unsere Awacs-Überwachungsflugzeuge gewesen, die zu Feuerleitstellen über dem Mittelmeer geworden wären. Weil das nach der deutschen Enthaltung nicht möglich ist, werden die jetzt über Afghanistan die Nato entlasten. Zweitens wären die deutschen ECR-Tornados gefordert worden, die besondere Fähigkeiten haben, feindliche Radaranlagen auszuschalten. Aber das war’s denn auch schon.

ZEIT: Nun hat die Nato das Kommando über die Libyen-Intervention übernommen – und die Deutschen stehen abseits?

Polenz: Nein. Das gibt den Deutschen die Möglichkeit, durch die Mitarbeit in den Nato-Stäben zu zeigen, dass unsere Enthaltung keine Abkehr vom Bündnis bedeutet.
ZEIT: Dürfen wir denn da konsequenter Weise mitmachen, nachdem wir der Resolution unsere Zustimmung verweigert haben?
Polenz: Wir brauchen in Deutschland kein Mandat des Bundestages, wenn ein ohnehin schon bestehender Stab eine solche Aufgabe erfüllt. In dem Moment, wo für eine spezielle Aufgabe neue Stäbe zusammengestellt werden, brauchen wir ein neues Mandat des Bundestages. Und die Bundesregierung sollte den Nato-Partnern signalisieren, dass sie dies auch bekommen würde. Deutschland darf sich jetzt nicht wegen der Mandatsfrage einen Knoten ins Bein machen.

ZEIT: Kritiker der Intervention sagen, die Bombardierung in Libyen gehe längst über das hinaus, was in der UN-Resolution vorgesehen ist, nämlich Schutz der Zivilbevölkerung. De facto agierten die westlichen Piloten als Luftwaffe der Rebellen, die jenen den Weg nach Tripoli freischießt.

Polenz: Das Mandat der Uno-Resolution geht sehr weit. Es schließt eigentlich nur Besatzungstruppen am Boden aus. Völkerrechtlich hat die Resolution erstmals das Prinzip der Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung beherzigt, die „responsibility to protect“. Das ist ein historischer Schritt, der noch nicht genügend gewürdigt wird. Aber man muss doch vor allem die politische Bedeutung der Resolution würdigen. Denn was ist in der arabischen Welt zwischen Oktober 2010 und März 2011 passiert? Die Araber haben keine Angst mehr. Wenn Gadhafi sich mit brutaler militärischer Gewalt durchgesetzt hätte, dann wäre die Angst wiedergekommen. Darum steht hier politisch mehr auf dem Spiel als nur Libyen. Der Militäreinsatz hat jetzt schon dazu geführt, dass Gadhafi sich in Libyen nicht mehr durchsetzen kann. Und damit ist ein ganz wesentliches Ziel auch hinsichtlich der Nachbarländer erreicht: keine Wiederkehr der Angst. Wie lange der Diktator sich jetzt noch halten kann, hängt an der Entwicklung der Kräfteverhältnisse im Land.

ZEIT: Also geht es doch um Regimewechsel?

Polenz: Das ist eine Frage, die die Libyer am Ende unter sich zu klären haben werden.
ZEIT: Wie lange kann der Einsatz noch dauern? Obama hat „eher Tage als Wochen“ in Aussicht gestellt.
Polenz: Das kann auch so kommen: Wenn Gadhafis Truppen sich nicht mehr bewegen, muss man auch nicht mehr eingreifen. Dann ist es ein Zustand intensiver Beobachtung und Kontrolle. Ziel ist, dass die Libyer selber entscheiden können, wie es weitergehen soll.
ZEIT: Macht sich, wer so interveniert, nicht zur Geisel der Aufständischen? Was, wenn die nun Vergeltung wollen und selber Massaker begehen?
Polenz: Das ist eine Gefahr. Aber wer Gadhafis Truppen hindert gegen Zivilisten vorzugehen, reduziert auch Anlässe für Vergeltung. Wird man das hehre Prinzip der Schutzverantwortung – „responsibility to protect“ – nun immer und überall durchsetzen können? Sicher nicht. Aber es ist ein Fortschritt deutlich zu machen, dass staatliche Souveränität, wie wir sie seit 1648 verstanden haben, nicht beinhaltet, dass ein Diktator mit seinen Bürgern machen kann, was er will.

 

Die Obama-Doktrin und das Totalversagen der deutschen Diplomatie

Obama hat gestern abend begründet, warum die USA in Libyen interveniert haben. Zugleich bietet diese Rede so etwas wie den Rahmen der Obama-Doktrin.

Mir hat es einen Stich versetzt, als er die engsten Alliierten der Vereinigten Staaten aufzählte, darunter Dänemark, Norwegen und Italien und die Türkei ! – und eben nicht Deutschland. Er sagte:

„To brush aside America’s responsibility as a leader and -– more profoundly -– our responsibilities to our fellow human beings under such circumstances would have been a betrayal of who we are.  Some nations may be able to turn a blind eye to atrocities in other countries.  The United States of America is different.  And as President, I refused to wait for the images of slaughter and mass graves before taking action.“

Die Deutschen waren bereit, auf diese Bilder zu warten. Turn a blind eye: das war Westerwelles Position trotz seines vorhergehenden Geredes über „wertegebundene Außenpolitik“. Merkel, die einmal als Transatlantikerin galt und in Amerika zig Preise für dieses unbestätigte Gerücht kassiert hat, unterstützt den isolationistisch-radikalpazifistischen Kurs ihres Vize.

Obama sprach parallel zu der Kommandoübernahme durch die Nato über die Operationen in Libyen. Deutschland hat sich letzte Woche aus der Durchsetzung eines Waffenembargos durch Nato-Kräfte zurückgezogen. Unfassliche Konsequenz der Enthaltung im Weltsicherheitsrat: Deutschland hat Schiffe aus Missionen abgezogen, die seit dem 11. September zwecks Antiterror-Kampf im Mittelmeer unterwegs waren. Warum? Weil es nun dazu kommen könnte, dass beim Aufbringen libyscher Schiffe Gewalt angewendet werden muss.

Um diese Schande auszuwetzen, schicken wir nun Awacs-Mannschaften nach Afghanistan (wogegen vor Monaten noch seitens der Regierung agitiert wurde). Ein Tiefpunkt deutscher Außenpolitik.

Obamas Rede zielt daheim gegen Isolationisten und regime-change-Advokaten zugleich. Er macht klar, warum es im Interesse der Vereinigten Staaten war, in Libyen nicht dem Sieg Gadhafis zuzuschauen: Die arabische Freiheitsbewegung darf nicht durch das Signal geschwächt werden, dass brutale Tyrannei nun doch wieder hingenommen wird. Ein Flüchtlingsdrama soll verhindert werden. Am stärksten aber ist der Appell an die amerikanischen Werte: Es wäre ein Betrug an ihnen, sagt Obama, wenn man hier, wo man eingreifen kann, davor zurückschreckt.

Daraus folgt nicht, dass demnächst überall eingegriffen werden müsse, wie die Gegner der Intervention argumentieren. Hier aber gibt es passende Voraussetzungen: Ein legitimer Ruf von innen, ein Beschluss des Sicherheitsrats, willige Alliierte (auch aus der Region), einen Notstand und die Chance, ohne massive eigene Verluste Schlimmes zu verhindern.

Eben um diese Legitimität nicht zu gefährden, folgt daraus nicht, dass man gleich „all the way“ gehen und Gadhafi militärisch stürzen muss. Das sollten die Libyer alleine erreichen, geschützt und gestützt durch die internationalen Truppen, die Gadhafis Chancen, ein Massaker anzurichten, reduzieren. Westliche Bodentruppen würden den legitimen Aufstand in eine weithin abgelehnte Besatzung verwandeln. Es ist falsch zu sagen, meint Obama, wer nicht bereit sei, bis zum Ende zu gehen (wie im Irak?), der solle gleich gar nichts tun.

Es ist klug und richtig, dass Obama die Rolle der Amerikaner darin sieht, eine möglichst breite Koalition zu ermöglichen und sich dann so weit wie möglich aus der militärischen Führung zurückzuziehen. Nordafrika ist vor allem eine Sache der Nachbarn und der Europäer. Einige Europäer scheinen das zu begreifen.
Sollte Gadhafi sich in Tripolis verschanzen, nachdem sein Militär die Möglichkeit eingebüßt hat, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren, beschränkt sich die Rolle der Koalition auf die Überwachung des Luftraums und der Bewegungen schweren Geräts am Boden. Durch eine Unterstützung der Rebellen, durch konsequente Embargos und die diplomatische Unterstützung des Wandels könnte dann ein Regimewechsel passieren, ohne dass Libyen besetzt und die Opposition diskreditiert wird – und ohne dass bei den Nachbarn den Argwohn genährt wird, es handele sich um ein neokoloniales Abenteuer.

Die Obama-Doktrin fasst Aaron David Miller in der New York Times so zusammen:

Aaron David Miller, a State Department Middle East peace negotiator during the Clinton administration, said Mr. Obama described a doctrine that, in essence, can be boiled to this: “If we can, if there’s a  moral case, if we have allies, and if we can transition out and not get stuck, we’ll move to help. The Obama doctrine is the ‘hedge your bets and make  sure you have a way out’ doctrine. He learned from  Afghanistan and Iraq.”

Ich halte es für ein Totalversagen der deutschen Diplomatie, dass wir diese begrüssenswerte Wende nicht unterstützen.

 

Das deutsche Nein zum Libyen-Krieg

Mein Text aus der ZEIT von morgen, 24.3.2011, S.10:

Ein paar Wochen lang schien Deutschland am Mittelmeer zu liegen. Die deutsche Außenpolitik stand im Februar nach erstem Zögern plötzlich im Bann der arabischen Revolten. Es waren die Deutschen, nicht die Franzosen oder die Italiener, die zuerst die Chance im demokratischen Wandel der südlichen Nachbarschaft erkannten. Die Eskalation in Libyen und das deutsche Nein zum Flugverbot haben nun alles wieder gedreht. Und auf einmal ist das Mittelmeer wieder sehr breit.
Dabei war dem Außenminister, der lange mit dem Amt fremdelte, durch den Aufstand in Arabien unversehens ein Thema serviert worden: die Freiheitsliebe – welch ein Geschenk für einen Liberalen. Er trank demonstrativ Kaffee mit Bloggern in Tunis und badete in der Menge auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Mehr als das: Deutschland preschte voran mit Hilfsangeboten für die Demokratiebewegungen und drängte auf Sanktionen gegen Despoten, während Frankreich beschämt beiseite stand wegen der Tyrannen-Kuschelei seiner Minister. Man werde die alte Arbeitsteilung in der EU – Deutschland ist für die östliche Nachbarschaft zuständig, Frankreich für den Süden – nicht mehr akzeptieren, verkündete Westerwelle auf der Höhe seiner Begeisterung. »Wir stehen an der Seite der Freiheitsbewegungen in der arabischen Welt«, deklamierte er in Kairo.
Doch vier Wochen später steht Deutschland an der Seite von Russland und China, Brasilien und Indien, mit denen es sich im Sicherheitsrat einer UN-Resolution zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung vor dem »Diktator Gadhafi« (Westerwelle) verweigert hat. Hat Deutschland sich damit in der EU, der Nato, den Vereinten Nationen und gegenüber den arabischen Staaten isoliert? Westerwelle und Merkel bestreiten es vehement, wenn auch wenig überzeugend. Ihre Bedenken gegen den Einsatz in Libyen würden von vielen Regierungen geteilt. Das mag sein. Doch noch nie hat Deutschland sich gegen alle seine wichtigen westlichen Partner gestellt. Wie ist es dahin gekommen?
Sehr früh hat Deutschland sich darauf festgelegt, eine Flugverbotszone in Libyen abzulehnen. Bei seinem Besuch in Kairo Ende Februar nannte Westerwelle sie immerhin noch eine »Option«. Aber damals schien sie nur eine sehr entfernte Möglichkeit. Skeptische Äußerungen des amerikanischen Verteidigungsministers ­Gates bestätigten die deutsche Diplomatie in ihrer Ablehnung: ein Flugverbot bedeute nichts anderes als Krieg. Man schraubte die Forderungen hoch: Die Arabische Liga müsse das Flugverbot unterstützen und sich aktiv daran beteiligen. Auch brauche es einen UN-Beschluss, um den Eindruck vom westlichen Imperialismus einer neuen Koalition der Willigen zu vermeiden. Man dürfe dem Aufstand nicht die Legitimation nehmen und dem Diktator keinen Vorwand für Propaganda liefern. Weil es unwahrscheinlich schien, dass sowohl die Araber sich einigen als auch Russen und Chinesen im Sicherheitsrat auf ihr Veto verzichten könnten, rechneten die Deutschen nicht damit, dass ihr Nein zum Flugverbot getestet würde.
Das hat sich als fatale Fehleinschätzung erwiesen: Es fing damit an, dass die Arabische Liga Anfang März erstmals einem Tyrannen aus ihren Reihen nicht mehr die Hand reichte, sondern Gadhafi zunächst ausschloss und dann ein Flugverbot forderte, um die Aufständischen zu schützen. Statt diese historische Wende zu würdigen und die Araber beim Wort zu nehmen, begann Berlin Zweifel an deren Entschlossenheit zu säen. Man verwies auf die Ambivalenz der arabischen Forderung: Flugverbot ja, Intervention nein. Das sahen die Deutschen als eine Falle: Wenn es schiefgeht, ist der Westen schuld. Unbegründet ist das nicht, wie die arabischen Absetzbewegungen nach den ersten zivilen Opfern der Luftschläge zeigen.
Doch die Forderung der Araber, wie zweideutig auch immer, setzte eine Dynamik in Gang, die Deutschlands Kalkül überrollte. Als schließlich Gadhafis Vernichtungsdrohungen gegen die Opposition in Bengasi die Weltgemeinschaft vor die Frage stellten, ob man nach Bosnien und Ruanda noch einmal einem Blutbad zusehen würde, kippte die Debatte. Hilary Clinton ließ sich von der libyschen Opposition überzeugen, und der irrlichternde Sarkozy sah plötzlich ein Chance, Frankreichs ramponiertes Ansehen bei den Arabern aufzubessern – zunächst durch Anerkennung der Opposition, dann durch diplomatischen Druck zu einer Resolution. Damit war Deutschland de facto in die unangenehme Lage gekommen, auf ein russisch-chinesisches Veto hoffen zu müssen, damit es nicht zum Schwur kommen würde. Doch so kam es am letzten Donnerstag. Die Enthaltung der beiden Vetomächte war de facto eine Zustimmung zur Intervention – ein historischer Schritt für die Gralshüter der Nichteinmischung. Deutschlands Enthaltung hingegen war in Wahrheit ein Nein.
Hätte Deutschland nicht aus Bündnissolidarität mit Ja stimmen und doch eine militärische Beteiligung ausschließen können? Westerwelle verneint diese Möglichkeit entschieden: Man wäre ohne Zweifel in die Verantwortung genommen worden. Da man aber auf keinen Fall deutsche Soldaten schicken wollte, sei nur die Enthaltung geblieben. Dies sei eine schwere Entscheidung gewesen, hart, aber richtig, und sie sei im vollen Bewusstsein der Konsequenzen gefällt worden, heißt es in Diplomatenkreisen. Wird aus einem diplomatischen Unfall jetzt auch noch eine neue Doktrin destilliert? Hätte Deutschland wirklich einem Blutbad in Bengasi zugeschaut? Oder glaubte man, sich im Zweifelsfall auf andere verlassen zu können – um nur ja eine unangenehme Kriegsdebatte im Wahlkampf vermeiden zu können? Dafür spricht, dass Angela Merkel die Unionsabgeordneten händeringend darum gebeten hat, jede öffentliche Äußerung im Hinblick auf den Wahltermin am Sonntag zu unterlassen. Schwarz-Gelb fällt damit zurück auf den Debattenstand vor der schmerzhaften rot-grünen Entscheidung, im Kosovo mitzutun.
Das Kompensationsgeschäft, das die Bundesregierung jetzt anbietet, zeigt die paradoxe Lage: Man wird deutsche Soldaten in Awacs-Flugzeugen zur Luftraumüberwachung nach Afghanistan schicken. Ende November letzten Jahres hat dieselbe Bundesregierung ebenjene Mission noch hintertrieben, die sie nun Hals über Kopf durch Kabinett und Parlament peitschen will. In Afghanistan mehr tun, weil man gegen Ga­dha­fi nicht mitmachen will? Der offizielle Grund lautet, man wolle die Nato entlasten. Mindestens so sehr aber will die Regierung sich selbst entlasten. Der Awacs-Einsatz ist ein verteidigungspolitischer Ablasshandel. Aber das ist nur ein kleines diplomatisches Desaster im Großen.
Die Regierung, sagt Heiner Geißler, »hat mit der Weigerung, sich an der Luftüberwachung Libyens zu beteiligen, unser Land in die Kumpanei mit Russland und China und in die Isolation gegenüber den arabischen Staaten und unseren westlichen Verbündeten geführt. Kein Außenminister vor Westerwelle hat es so weit kommen lassen. Selbst bei der Ablehnung des Irakkrieges durch Gerhard Schröder hatte Deutschland Frankreich an seiner Seite.«
Westerwelle beruft sich auf große Vorbilder: Schröder und Fischer
Ironischerweise sieht Westerwelle das deutsche Nein von heute in der Linie der bis heute populären rot-grünen Kriegsverweigerung von 2003. Er sieht aufseiten der heutigen Koalitionäre die gleiche Leichtfertigkeit bei der Entscheidung zum militärischen Eingreifen am Werk wie damals im Lager der Bushisten. Und er wird nicht müde zu betonen, dass sich auf eine »schiefe Ebene« begebe, wer heute in Libyen mit Luftschlägen eingreife. Soll heißen: Am Ende werden auch hier Bodentruppen in einem blutigen Bürgerkrieg stehen.
Doch der Irak-Vergleich ist eine Mogelpackung: Bushs Irakkrieg war ein mutwilliges, ideologisch gesteuertes Unternehmen, gestützt auf fabrizierte Beweise, ohne Resolution des Sicherheitsrats. Es geht heute aber nicht um regime change von außen à la Bush, sosehr auch alle Welt Gadhafis Abgang ersehnt. Ziel der Resolution ist Schutz eines Aufstands von innen, dessen blutige Niederschlagung unmittelbar bevorstand.
Die spezielle Ironie bei Westerwelles Irak-Analogie liegt darin, dass er seinerzeit selber Schröder und Fischer vorgeworfen hatte, »schäbig und unseriös« einen »Kriegsangst-Wahlkampf« zu  führen. Damals klagte Westerwelle, Schröder und Fischer seien dabei, »Deutschland zu isolieren« und forderte »zügige Neuwahlen«.  Vielleicht erklärt das, warum Joschka Fischer  jetzt mit der traditionellen Zurückhaltung eines Amtsvorgängers bricht: Westerwelle starre bei seinen Entscheidungen auf »Provinzwahlen« und  setze deutsche Interessen aufs Spiel.
Aber was heißt hier Provinz? Die Landtagswahlen am kommenden Wochenende sind unversehens nicht nur zum Referendum über eine neue Atompolitik, sondern auch über eine neue Außenpolitik geworden.

 

Kairo ist nicht Teheran

Charles Krauthammer schreibt in der Washington Post, Amerika brauche angesichts der demokratischen Welle im Nahen Osten eine „Freedom Agenda“. Er zieht eine Analogie zum Kalten Krieg, in dem die USA auch für die Freiheit und gegen den Totalitarismus standen – damals den Kommunismus der Sowjetunion. Heute sei der Islamismus die Gefahr, und Iran eine „Sowjetunion im Kleinen“, mit Satellitenstaaten wie Syrien, Libanon und Hamastan. Wie seinerzeit im Kalten Krieg müssen die USA der Beteiligung von Totalitären an den neu entstehenden Regierungen widerstehen. Man habe kürzlich im Libanon und zuvor in Gaza gesehen, was passiert, wenn man da nicht aufpasst. Für Ägypten heißt dies: keine Regierungsbeteiligung der Muslimbrüder.

As the states of the Arab Middle East throw off decades of dictatorship, their democratic future faces a major threat from the new totalitarianism: Islamism. As in Soviet days, the threat is both internal and external. Iran, a mini-version of the old Soviet Union, has its own allies and satellites – Syria, Lebanon and Gaza – and its own Comintern, with agents operating throughout the region to extend Islamist influence and undermine pro-Western secular states. That’s precisely why in this revolutionary moment, Iran boasts of an Islamist wave sweeping the Arab world.

(…)

We need a foreign policy that not only supports freedom in the abstract but is guided by long-range practical principles to achieve it – a Freedom Doctrine composed of the following elements:

(1) The United States supports democracy throughout the Middle East. It will use its influence to help democrats everywhere throw off dictatorial rule.

(2) Democracy is more than just elections. It requires a free press, the rule of law, the freedom to organize, the establishment of independent political parties and the peaceful transfer of power. Therefore, the transition to democracy and initial elections must allow time for these institutions, most notably political parties, to establish themselves.

(3) The only U.S. interest in the internal governance of these new democracies is to help protect them against totalitarians, foreign and domestic. The recent Hezbollah coup in Lebanon and the Hamas dictatorship in Gaza dramatically demonstrate how anti-democratic elements that achieve power democratically can destroy the very democracy that empowered them.

(4) Therefore, just as during the Cold War the United States helped keep European communist parties out of power (to see them ultimately wither away), it will be U.S. policy to oppose the inclusion of totalitarian parties – the Muslim Brotherhood or, for that matter, communists – in any government, whether provisional or elected, in newly liberated Arab states.

Ich fürchte nur: Weder die USA noch irgendeine andere westliche Macht hat dabei nennenswerten Einfluss. Und das liegt wiederum daran, wie wir unseren Einfluss bisher ausgeübt haben, beziehunsgweise wie nicht. Wir haben das Regime bedingungslos gestützt und der Opposition jenseits der MB keine Aufmerksamkeit geschenkt. Unsere Außenpolitik braucht immer Leute, mit denen man Deals machen kann, feste Strukturen, am besten schon so,  dass sie perfekt zu unseren eigenen passen (eine linke, eine rechte, eine liberale Partei). Alles andere, was sonst so in der Gesellschaft herumwuselt, ist irrelevant. Indem wir die Breite der Gesellschaft ignoriert haben, haben wir das Spiel des Regimes und er MB mitgespielt, die sich wechselseitig stärken und voneinander ihre Legitimiation beziehen („Ich halte euch die vom Leib!“  – “ Wir sind die einzige organisierte Opposition!“).

Auch Charles Krauthammer gessteht zu, dass die USA wohl nicht das letzte Wort haben werden über die Frage, wer wieviel mitreden wird in einer künftigen Regierung. Ich finde, er hat recht, die Obama-Regierung für ihre Gratis-Anerkennung der MB zu kritisieren. Bevor die Brüder mitmachen dürfen, stellen sich viele berechtigte Fragen. Sie werden auch von Ägyptern gestellt, und darum sollte die US-Regierung dem nicht vorgreifen mit einem Blankoscheck für „nichtsäkulare Kräfte“. (Man stelle sich mal die Aufregung vor, irgendjemand von außen würde Amerika raten, nichtsäkulare Kräfte sollten einbezogen werden in die Beratung einer neuen Verfassung.)

Richtig ist auch, dass der Westen säkulare demokratische Kräfte mit Ressourcen, Beratung und diplomatisch unterstützen sollte. Aber wie? Der Kalte Krieg ist vorbei. In einer globalisierten Medienwelt mit Facebook und Twitter funktioniert kein „Kongress für Kulturelle Freiheit„.

Vielleicht werden mich die Ereignisse Lügen strafen, aber bei aller Vorsicht wegen der künftigen Rolle der MB sehe ich eigentlich nicht, warum die Ereignisse in Tunesien und Ägypten in die große Erzählung des Kampfes gegen den neuen Totalitarismus (Islamismus) passen sollen. Es gibt Islamisten unter den Protestierenden und ausgeschlossen ist nicht, dass islamistische Parteien profitieren könnten. Aber zunächst einmal ist hier eine pluralistische Freiheitsbewegung zu sehen, die unsere Unterstützung verdient.

Ein Problem mit dieser großen Erzählung, in die Krauthammer nun alles einpassen will, ist auch folgendes: Der Westen hat nach 9/11 selber keine konsistente Politik gemacht. Den Krieg in Afghanistan konnte man als Kampf gegen den islamistischen Extremismus verstehen. Aber mit Saddam Hussein wurde ein säkularer Diktator gestürzt (ausgerechnet der Erzfeind jener neuen Komintern-Zentrale in Teheran !), der sehr viel mehr mit Hosni Mubarak gemein hatte als mit Ajatollah Chamenei. Die Islamisten konnten erst nach seinem Sturz im Irak Fuß fassen und mussten unter großem Blutzoll zurückgeschlagen werden (wer weiß für wie lange). Das ist eine der seltsamen Inkonsistenzen dieser Jahre: Der Westen hat einen säkularen Diktator gestürzt und damit Irak ins Machtfeld Teherans gebracht. Jetzt stürzen die Ägypter ihren Diktator, und der Westen schaut ängstlich zu und lässt die Demonstranten im Stich. Man muss sich einmal vorstellen, wie das von Kairo aus betrachtet erscheinen muss.

 

Tunesien: Blamage der europäischen Realpolitik

Die französische (und damit die europäische) Außenpolitik steht angesichts der tunesischen Revolution plötzlich in kurzen Hosen da.  Noch vor einer Woche hatte die Außenministerin Michèle Alliot-Marie den Aufstand gegen den Diktator Ben Ali als Problem mangelnder Professionalität der tunesischen Sicherheitskräfte behandelt. Von Demokratie ist trotz wochenlanger Proteste erst die Rede, seit der Diktator verjagt wurde. Le Monde schreibt, dass die französische Regierung noch am letzten Dienstag, nachdem das Regime in Tunis bereits zugibt, 21 Menschen bei Demonstrationen getötet zu haben, eine Polizeikooperation vorschlägt. Das ist ein Tiefpunkt der europäischen Diplomatie.

Mardi 11 janvier, tandis que la contestation gagne Tunis, des propos tenus par la ministre des affaires étrangères française, Michèle Alliot-Marie, devant l’Assemblée nationale, à Paris, suscitent une certaine consternation, y compris à l’intérieur du Quai d’Orsay. Le gouvernement tunisien vient d’établir un bilan de 21 civils tués par balles depuis le début des troubles, et Mme Alliot-Marie propose… une coopération policière.

La France veut faire bénéficier la Tunisie du „savoir-faire de (ses) forces de sécurité“, afin de „régler des situations sécuritaires de ce type“, explique la ministre, afin que „le droit de manifester soit assuré, de même que la sécurité“. L‘„apaisement peut reposer sur des techniques de maintien de l’ordre“, estime Mme Alliot-Marie.

La crise semble ainsi ramenée à un problème de professionnalisme des forces de l’ordre tunisiennes, auquel viennent s’ajouter les difficultés économiques.

Und wenige Tage später sieht das nun natürlich sehr peinlich aus. Während der iranischen Proteste nach den „Wahlen“ im letzten Jahr hatten die Franzosen die anderen Europäer noch angetrieben, deutlich Stellung zu beziehen. Doch wenn es um den Freund jenseits des Mittelmeers geht, erlischt der demokratische Furor.

Angst vor dem militanten Islamismus kann im Fall Tunesiens kaum geltend gemacht werden. Die ohnehin schwachen tunesischen Islamisten spielen keine nennenswerte Rolle. Doch viele Jahre lang hat man das Spiel von Ben Ali mitgespielt, der sich – wie seine Kollegen in Algerien, Ägypten und Libyen – gerne als Garant säkularer Ordnung inszenierte.

Auf Facebook ist der Bena Ali Wall of Shame entstanden, in dem immer weitere Zeugnisse (vor allem) französischer Geschmeidigkeit vorgeführt werden. In einem Blog auf lemonde.fr sind einige der peinlichsten Momente der französischen Tunesiendiplomatie aufgeführt, darunter zum Beispiel dieser Auftritt von Präsident Sarkozy in Tunis, wo man ihm den Goldenen Schlüssel der Stadt überreichte.

Nach der zweiten Minute spricht Sarkozy
sur l’islam en Tunisie, tolérant et ouvert, “qu’on aimerait voir dans tant d’autres pays”. “Il m’arrive de penser que certains des observateurs sont bien sévères avec la Tunisie, qui développe sur tant de points l’ouverture et la tolérance. Qu’il y ait des progrès à faire, mon Dieu, j’en suis conscient pour la France… et certainement aussi pour la Tunisie”, conclut le chef de l’Etat, avant de vanter le dynamisme de l’économie tunisienne.

Niemand weiß heute, was sich in Tunesien entwickeln wird. Nach einer islamistischen Revolution sieht es nicht aus. Nach einer Militärdiktatur bisher auch nicht. Bis auf die Ausnahme der Türkei waren das bisher die beiden denkbaren Formen des Wandels in der islamischen Welt.
Ob sich tatsächlich etwas Drittes entwickelt?
Immerhin: Die Politik der „Stabilität“ und des status quo, für die in diesem Fall vor allem die Franzosen stehen, ist blamiert.