Der Heilbronner Polizistenmord war eine Ausnahme in der NSU-Serie. Doch Erkenntnisse aus dem Prozess zeigen: Er könnte als Auftakt einer Reihe von Polizei-Attentaten geplant gewesen sein.
Die Mörder schlichen sich von hinten an. Einer aus dem Schatten eines Stromhäuschens auf der rechten Seite, der andere gegenüber. Die Polizistin Michèle Kiesewetter und ihr Kollege Martin A. saßen im Streifenwagen auf der Heilbronner Theresienwiese. Einen der Männer, wohl Uwe Böhnhardt, bemerkten sie noch. Ein Bürger, der eine Auskunft will, vermutete Kiesewetter. Uwe Mundlos, der Kiesewetter offenbar erschoss, kam ungesehen an das Auto heran. Dann fielen zwei Schüsse. Die Polizisten sackten auf ihren Sitzen zusammen. Kiesewetter war tot, A. überlebte mit gravierenden Schäden.
Mit Laser-Vermessungen des Tatorts, waffentechnischen Gutachten und einer Vernehmung von A. unter Hypnose haben Ermittler den 25. April 2007 rekonstruiert, den Tag des Polizistenmords von Heilbronn. Nach Auffliegen des NSU im November 2011 benannte die Bundesanwaltschaft Mundlos und Böhnhardt als Täter. Zuvor hatte die Sonderkommission „Parkplatz“ erfolglos 165 Aktenordner mit Ermittlungsergebnissen und Hinweisen gefüllt. Doch auch nach der Enttarnung der Terrorzelle blieb eine Frage: Waren weitere uniformierte Kollegen in Lebensgefahr? Sollte der Mord in Heilbronn Auftakt einer Serie von Anschlägen gegen Polizisten sein? Die Aussagen und Indizien, die Ermittler während dieser Wochen im NSU-Prozess präsentieren, weisen darauf hin.
Neun Migranten hatten Mundlos und Böhnhardt laut Anklage zuvor erschossen. 2007 kam die Zäsur: Der Mord an einer Deutschen, einer Polizistin – anscheinend eine Ausnahme. Der Angriff auf Polizeibeamte war für die Terrorzelle demnach ein Sieg über die Gewalt des Staats, ein Beweis ihrer Macht. Die Dienstpistolen, die sie Kiesewetter und A. abnahmen, waren ihre Trophäen.
Die Gelegenheit, zwei Polizisten gleichzeitig anzugreifen und ihrer Waffen zu berauben, erschien den beiden offenbar so günstig, dass sie bei der Tat ein hohes Risiko eingingen. Mundlos schoss laut Rekonstruktion von der Fahrerseite, wo Kiesewetter saß, Böhnhardt von gegenüber.
Auf jeden Fall waren sich Mundlos und Böhnhardt der Signalwirkung dieser Tat bewusst – dahinter steckte dieselbe Motivation wie hinter den neun Morden an Migranten: Furcht schüren vor unbekannten Tätern, die überall und jederzeit aus heiterem Himmel zuschlagen können. Der NSU träumte davon, aus einem Klima der Angst heraus einen gesellschaftlichen Umschwung herbeizuführen. Was passte dazu besser als die Nachricht, dass sich selbst Polizisten nicht mehr sicher fühlen können?
Pläne für eine Reihe von Exempeln gegen die Polizei hatte der NSU geschmiedet, zumindest in Grundzügen. So fanden die Ermittler in der vom Feuer zerstörten Wohnung von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt einen Stadtplan, darauf eingezeichnet: vier aktuelle oder frühere Polizeidienststellen in Stuttgart. Wahrscheinlich entstanden die Markierungen spätestens drei Jahre vor dem Kiesewetter-Mord, als eine der vermerkten Dienststellen geschlossen wurde.
Denkbar ist also, dass das Trio schon seit Längerem Angriffe auf Beamte plante, die ersten davon im schwäbischen Raum. Als Vorbereitung für mögliche Banküberfälle diente der Plan wohl nicht: Alle 15 Bankraube, die Mundlos und Böhnhardt verübten, fanden in Ostdeutschland statt, wo sie es nicht weit nach Hause hatten – anders als die Morde, die die Angst bis in den hintersten Winkel der Republik treiben sollten.
Gegen eine Serie hätte gesprochen, wenn der Mord einen persönlichen Hintergrund gehabt hätte. Sie stammte aus der Nähe von Jena, hatte mit der Bereitschaftspolizei Einsätze auf rechten Demos absolviert. Doch die Versuche mehrerer Nebenklage-Anwälte, ein solches Indiz zu finden, konnten bislang nicht überzeugen. Greifbarer sind etwa Beweise, die Computer-Forensiker zusammengetragen haben, auch sie deuten auf einen Feldzug gegen Repräsentanten des Staats an. Auf einem Computer aus dem Wohnzimmer des Trios fanden die Ermittler einen Ordner, in dem Ausschnitte aus Fernsehberichten über den Fall gesammelt waren. Der Ordner trug den Titel „Aktion Polizeipistole“ – und nicht etwa „Aktion Kiesewetter“. Ziel des Angriffs waren die Uniformen und nicht ihre Träger.
Das Trio hatte zudem den sogenannten NSU-Brief verfasst, eine Art Manifest, das die drei an Gesinnungsgenossen verschickten. Auch diesen stellten die Behörden auf einer Festplatte sicher. Aus dem Dokument geht nicht nur ein Bekenntnis zum Terrorismus hervor, sondern auch ein tiefer Hass auf den Staat: Da ist die Rede vom „Kampf dem Regime“ und es werden „Änderungen in der Politik, Presse und Meinungsfreiheit“ mit gewaltsamen Mitteln gefordert. Über fremdenfeindliche Motive verlieren die Autoren in dem Brief kein Wort. Gut möglich also, dass ihnen weitere Morde an Polizisten als logische Fortsetzung der Taten gegen Migranten erschienen – ihre Gegner nennen sie in dem Pamphlet unscharf „Feinde des deutschen Volkes“.
Warum aber nutzten Mundlos und Böhnhardt für den Heilbronner Mord nicht die Pistole der Marke Česká, wie sie es neunmal zuvor getan haben sollen? Wahrscheinlich weil sie wussten, dass sie dadurch den Fahndungsdruck erhöht hätten. In der Presse verfolgte das Trio, wie die Ermittler Verdächtige nicht in der rechten Szene suchten, sondern im Umfeld der Opfer. Der strukturelle Rassismus deutscher Behörden, wie er in vielen Aussagen von Ermittlern anklang, spielte den Tätern in die Hände. Wären jedoch mit derselben Waffe Migranten und Polizisten erschossen worden, hätten die Ermittlungen in Windeseile eine andere Richtung eingeschlagen. Der rechtsextreme Hintergrund aller Taten wäre nicht mehr zu leugnen gewesen, der Polizistenmord hätte Recherchen im Nazi-Milieu angestoßen.
Allerdings folgten auf die Heilbronner Tat weder weitere Morde an Einwanderern noch an Polizisten. Für mehr als vier Jahre, bis zum Auffliegen des NSU, ließ das Trio die Serie ruhen. Warum das Morden plötzlich aufhörte, ist eine der großen ungeklärten Fragen des Prozesses. Eine Antwort könnte höchstens Beate Zschäpe liefern.