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Der Fußballsommer meines Lebens

Deutsche und brasilianische Fans im Halbfinale (© Buda Mendes/Getty Images)
Deutsche und brasilianische Fans im Halbfinale (© Buda Mendes/Getty Images)

Vor gut einem Monat flog ich mit zwiespältigen Gefühlen nach Brasilien. Klar, Reporter bei der Fußball-WM, tolle Sache. Aber da waren auch die Bedenken wegen der Proteste der Brasilianer gegen ihre Regierung und gegen die Fifa. Ich hatte fast damit gerechnet, dass der Fußball aus dem Fokus gerät.

Es kam alles anders. Der Fußball war stärker. Diese WM kam mit Macht und Wucht. Vielleicht ist das naiv, aber dieses Turnier hat mich vom ersten Stadionbesuch an eingefangen, mitgerissen, überwältigt.

Das hat gar nichts mit dem Ausgang des Turniers zu tun. Ich gönne der deutschen Mannschaft den Titel. Die Spieler treten mit Leidenschaft für ihr Land an, das war bei älteren Jahrgängen nicht immer so. Fair und schön spielt die Elf meist auch. Und Joachim Löw ist die Bescheidenheit in Person.

Für mich wäre aber keine Welt zusammengebrochen, wenn die Deutschen im Viertelfinale rausgeflogen wären. Und ich glaube, das wären sie, wenn Benzema in der 94. nicht an Neuers Faust gescheitert wäre. Glückwünsche zum Titel, die ich von einigen Brasilianern erhalten habe, nehme ich nur deswegen an, weil sie lieb gemeint sind. Ich bin kein Weltmeister.

Ich freue mich einfach über guten Fußball und gute Fußballstimmung. Von beidem gab es in Brasilien reichlich. Die Spiele waren zwar taktisch nicht immer auf der Höhe. Doch hat man je solche emotionalen und dramatischen Schlachten gesehen? Es wurde so viel geheult, so viel getröstet. Selbst mancher Sieger wurde von seinen Tränen übermannt.

Die US-Fans überzeugen

Das lag auch an den Zuschauern. Ich konnte zwar nur zu den Spielen der Deutschen gehen. Doch die hatten es in sich, das Frankreich-Spiel ausgenommen. Eine Atmosphäre wie beim Halbfinale in Belo Horizonte vor Beginn des Spiels habe ich noch nicht erlebt und werde ich wohl nicht mehr erleben. Die brasilianischen Zuschauer wollten ihre Angst, ohne Neymar antreten zu müssen, übersingen.

Auch in den anderen Stadien war es laut und aufbrausend. In Fortaleza gegen Ghana – das Ding war heißer als die Tropen. In Porto Alegre gegen Algerien ging den Deutschen auch wegen der Stimmung auf den Rängen die Kontrolle verloren. Am meisten überrascht haben mich die US-Fans. Sie feierten jede Aktion ihrer Mannschaft frenetisch. Trotz Sintflut in Recife und obwohl die Amerikaner kaum über die Mittellinie kamen. Offensichtlich wächst in den USA eine neue Fan-Kultur heran.

Der letzte Monat hat erneut gezeigt, welche Kraft und welche Faszination in dem Teamsport Fußball stecken. Er vereint gegensätzliche Elemente, Kraft und Eleganz, Schwere und Leichtigkeit. Es war nirgendwo besser zu sehen als im Finale: das Stehaufmännchen Schweinsteiger und das magische Tor Götzes.

Brasilien war ein guter Gastgeber

Brasilien war der perfekte Ort für dieses Turnier. Es ist ein Fußballland, vielleicht das Fußballland. Es war ein guter Gastgeber. Die nächsten WM-Endrunden finden in Russland und Katar statt. Ich will kein Miesepeter sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auch nur annähernd an Brasilien 2014 heranreichen werden. Auch den Fifa-Bossen hat es hier gefallen. Sie haben es sich in Rio, soweit ich das mitbekommen habe, wieder in der Champagner-Klasse gutgehen lassen.

Doch auch die Fifa konnte mir die WM nicht verderben. Wäre ich nicht so erschöpft, ich wäre richtig traurig, dass die WM, dass der Fußballsommer meines Lebens vorbei ist. Vielleicht revidiert die Fifa ja noch ihre Katar-Entscheidung und vergibt die WM 2022 an ein anderes Land. Ich hätte einen Vorschlag: Brasilien.

 

Im Nachtbus nach Rio de Janeiro

Busarmada an der Raststätte nachts um drei Uhr
Busarmada an der Raststätte nachts um drei Uhr (Foto: Christian Spiller)

Ich fliege nicht gern. Ich hasse die Starts, mag keine Landungen und dazwischen ist es auch nicht viel besser. Leider ist dieses Brasilien verdammt groß und ich habe mein WM-Büro in Rio de Janeiro bezogen, in jener Stadt, auf deren Inlandsflughafen man nach einem der irrsten Landeanflüge der Welt aufsetzt. Sie können das ja mal googlen, Santos Dumont heißt der Flughafen, die Startbahn ist kurz und der Zuckerhut im Weg, weshalb die Piloten kurz vor der Landung eine fiese Kurve fliegen müssen. Nichts für mich, wirklich nicht.

Also fahre ich Nachtbus.

Nachtbusse sind in Brasilien die Flugzeuge des kleinen Mannes. Fliegen ist zwar billig hier, aber Nachtbusse sind billiger. Eine Nacht gibt es schon für 30 Euro, so günstig ist kein WM-Hotel. Die Busse sind modern, sauber, in vielen gibt es sogar Fleecedecken, Nackenkissen, Knabberzeugs und Kopfhörer gratis. Sie sind zudem überaus pünktlich und fahren überall hin, kreuz und quer durch das ganze Land. Das Herz einer brasilianischen Provinzstadt ist der Busbahnhof. Wer genug Sitzfleisch hat, kann von Porto Alegre im Süden bis nach Belém im Norden fahren. 4.000 Kilometer in 64 Stunden, ein Drei-Nächte-Bus sozusagen.

Trotzdem ist eine Nachtbusfahrt die Hölle. Vielleicht bin ich ein mitteleuropäisches Pinzchen. Aber immer wenn ich im Morgengrauen aus einem Nachtbus falle, fühle ich mich nicht, als ob ich in einem gefahren wäre, sondern er über mich drüber. Nicht nur einmal, sondern 64 Stunden lang.

In Brasilien ist jeder Ayrton Senna

Das liegt vor allem am Fahrstil der Busfahrer. Jeder einzelne von ihnen möchte das Vermächtnis seines Landsmanns Ayrton Senna fortführen, des größten Rennfahrers aller Zeiten. Und so prügeln sie über brasilianische Landstraßen als säße ihnen Alain Prost im Nacken. Kaum eine Kurve, die nicht voll ausgefahren wird. Gebremst wird erst, wenn die Räder auf der Kurveninnenseite die Bodenhaftung verloren haben. In Verbindung mit den Lombadas, das sind brasilianische Bodenwellen aus Beton, die all die Pseudo-Sennas zur angemessen Geschwindigkeit erziehen sollen, wird der Passagier im Bus umhergeschleudert wie eine Socke in der Waschmaschine.

Der nächste Killer: die Klimaanlage. Immer volle Pulle. Wenn sich wieder einmal ein brasilianischer Fußballer in Deutschland über den strengen Winter beschwert, ist er wahrscheinlich nie Fernbus gefahren. Die Busse sind mit Sicherheit die kühlsten Orte im ganzen Land. Es sind auch die einzigen, an denen ich Brasilianer mit Daunenjacken gesehen habe. Kein Scherz, die Jungs und Mädels sitzen mit Winterjacken im Bus, wahrscheinlich sind die Klimaanlagen eine Erfindung der Jackenindustrie.

Schön sind auch die regelmäßigen Pausen. Klar, die Fahrer müssen sich erholen, die Passagier aufs Klo und an den Futtertrog. Doch nachts um drei vom grellen Neonlicht einsamer Raststätten aus den einzigen zehn Minuten Schlaf in den nächsten sechs Stunden gerissen zu werden, ist wenig erbaulich. Ich schwanke dann der Meute hinterher, die zuerst geschlossen auf die Klos trippelt, die riesig wie eine Turnhalle sind.

Anschließend wird man durch das angeschlossene Restaurant mit Buffet gelotst. Sie glauben gar nicht, wie viele Menschen sich mitten in der Nacht den Bauch vollhauen. Weil die Brasilianer verrückt nach Bohnen sind, können Sie sich auch vorstellen, wie es nach sechs Stunden in so einem Bus riecht.

An der Raststätte nachts um drei Uhr (Foto: Christian Spiller)
An der Raststätte nachts um drei Uhr (Foto: Christian Spiller)

Wer nicht pennt, weckt andere

Nach dem Essen ist es dann oft gar nicht so einfach, den richtigen Bus wiederzufinden. Weil Nachtbusfahren in Brasilien hipper ist als Sambatanzen, stehen dort manchmal 20 Busse nebeneinander. Meist sehen sie gleich aus, weil sie von derselben Busgesellschaft sind. Jedes Unternehmen hat seine Lieblingsraststätten, in denen es sicherlich auf jede verspeiste Bohne ein bisschen Provision gibt. Wer im durchgeschleuderten Zustand nicht aufpasst, landet wieder am Ausgangsort.

Ein großer Spaß sind auch die anderen Mitfahrer. In dieser Hinsicht sind sich Flugzeug und Nachtbus gleich: Schon beim Einsteigen hofft man, dass der etwas kräftigere, schnaufende Bluthochdruckpatient nicht derjenige ist, dessen Körper in den kommenden sechs Stunden über die Armlehne quillt. Des Öfteren spürt man einen Kopf, der nächtens übermüdet auf die eigene Schulter fällt. Das ist nur in absoluten Ausnahmefällen ein schönes Erlebnis.

Doch auch ich, der Deutsche, bin ein Ärgernis in solch einem Nachtbus. Weil ich nicht schlafen kann, wälze ich mich hin und her und habe damit schon manchem Sitznachbarn tiefe Ringe unter die Augen gegraben. Neulich ist mir beim Wälzen mein Handy aus der Hosentasche gefallen. Es landete auf dem Boden, mit einem Scheppern, das mitten in der Nacht einem startender Düsenjet nahe kam. Sofort waren alle wach, meine Sitznachbarn und deren Nachbarn und deren Nachbarsnachbarn. „Desculpa„, sagte ich und lehnte mich in die nächste Kurve.

Ein Brasilien-Blogger hat kürzlich zehn Gebote zum Busfahren aufgeschrieben. Zum Beispiel, auch nicht ganz unwichtig: Du sollst nicht in Nähe der Toiletten sitzen. Er resümiert mit dem zehnten, den letzten Gebot: Du sollst fliegen. Amen. Ich werde mir Santos Dumont nochmal genauer anschauen.

 

Spitznamen in Brasilien: Shampoo und die Ameise

Der brasilianische Spitznamengenerator.
Der brasilianische Spitznamengenerator

Ich würde Spillaldo heißen, meine Kollegen Dobbimo und Fra, mein Chef Wegnson. Angela Merkel wäre Merkaldo und Wladimir Putin, festhalten: Puta. So sagt es zumindest der brasilianische Spitznamengenerator im Netz, der mit einem Mausklick Exotik ausspuckt. Schon fast sechs Millionen Leute haben ihn ausprobiert. Weil er aus einem Karl-Heinz Müller einen Müllerauro macht.

Unwiderstehlich sprechende Spitznamen sind eines der brasilianischen Geschenke an die Welt. Die Brasilianer pfeifen auf Förmlichkeit wie Nachnamen oder so einen Quatsch. Sie sind stolz auf ihre Spitznamen, weil es in ihrem Land doch persönlicher und lockerer zugeht als im Rest der Welt. Jeder wird spitzgenannt: der Pförtner, der Professor, selbst Staatspräsidenten. Luiz Inácio da Silva, bis 2011 im Amt, nahm seinen Spitznamen Lula sogar in seinen offiziellen Namen auf.

Und natürlich die Fußballer: Fast niemand kann etwas mit Edson Arantes do Nascimento anfangen, fast alle mit Pelé. Manuel Francisco dos Santos kennt jeder nur als Garrincha, benannt nach einem etwas zerrupft aussehenden Vogel, weil Garrincha mit einem X- und einem O-Bein nicht den elegantesten Eindruck machte.

Ricardo Izecson dos Santos Leite war eindeutig zu kompliziert für dessen kleinen Bruder, der sich das für deutsche Ohren nicht ganz stubenreine Kaká einfallen ließ. Carlos Caetano Bledorn Verri litt unter seinem Onkel; der dachte, der kleine Carlos wachse nicht mehr und benannte ihn deshalb nach dem siebten und kleinsten Schneewittchen-Zwerg: Dunga.

Hmm, vielleicht doch Ähnlichkeiten mit einem Schneewitchen-Zwerg? Carlus Dunga, Ex-Spieler und -Trainer der brasilianischen Nationalelf (Foto: Martin Rose, Getty Images)
Hmm, vielleicht doch Ähnlichkeiten mit einem Schneewitchen-Zwerg? Carlus Dunga, Ex-Spieler und -Trainer der brasilianischen Nationalelf (Foto: Martin Rose, Getty Images)

Doch es geht auch weniger subtil. Es gab Fußballer, die hießen Formiga (Ameise), Bigode (Schnurrbart), Boquinha (kleiner Mund). Ein anderer hieß Manteiga (Butter), weil seine Pässe weich wie selbige waren. Selbst vor Hautfarben machte niemand halt. Ein Kicker heiß Escurinho (kleiner Dunkler), ein anderer Petroleu (Öl), der nächste Meia Noite (Mitternacht). Pretinha (kleines schwarzes Mädchen) spielte 1996 für Brasilien bei den Olympischen Spielen in der Frauenfußballnationalelf.

Bei der WM 1990 spielte der Stürmer Luis Antoni Correa da Costa, der sich einen ganz besonderen Künstlernamen wählte: Müller. Sein Vorbild war übrigens Gerd, nicht Thomas.

Es gibt sogar Überlieferungen von Fußballern, die nach Zahlen benannt wurden. Einer hieß 84, der nächste 109, ein anderer Duzentos (Zweihundert). Airton Beleza (Airton hübsch) soll es eher nicht so gewesen sein. Ein Fußballer bekam den Namen Shampoo verpasst, weil er nebenher als Frisör arbeitete. Einen seiner Söhne nannte er Shampoozinho, den kleinen Shampoo.

Spitznamen, ein Symbol der ewigen Jugend

Woher dieser Hang zum lockeren Namen kommt, ist nicht ganz klar. Die einen sagen, die Portugiesen sind Schuld, weil ihr Namenssystem viel zu kompliziert ist. Die Kolonisatoren kamen meist nicht ohne vier Namen aus: einen Vornamen, den eines Heiligen sowie den Nachnamen der Mutter und des Vaters. Da tat ein wenig Reduktion not.

Andere halten Spitznamen für ein Überbleibsel der Sklavenzeit, also vor allem für ein Mittel der Repression. Wieder andere sehen in den Spitznamen ein Symbol der verlängerten Jugend. Wer sich mit Spitznamen anredet, ist ein Kumpel. Ein Nationalteam voller Spitznamen zeigt, dass die Jungs genauso gut auch noch am Strand oder im Park kicken könnten.

Aus dem aktuellen WM-Kader haben 17 Spieler ausgedachte Namen. Der exotischste: Hulk. Wie er zu seinem Namen kam, darüber gibt es verschiedene Erzählungen. Er sieht ein wenig so aus wie der grüne Superheld, aber vor allem soll er so heißen, weil er als Kind schon gerne Comics las.

Doch, kommt hin: Hulk halt (Foto: Buda Mendes, Getty Images)
Doch, kommt hin: Hulk halt (Foto: Buda Mendes, Getty Images)

Auffällig auch: Torhüter oder Verteidiger haben seltener Spitznamen als offensive Spieler. Die Brasilianer lieben nun einmal ihre Offensivkünstler um einiges mehr als die Kaputtmacher. Für einen Defensiven ziemen sich Künstlernamen nicht, sie sollen gefälligst arbeiten. Die Innenverteidiger Thiago Silva und David Luiz klingen für brasilianische Verhältnisse auch anständig bodenständig.

In den sechziger Jahren versuchte der brasilianische Radiokommentator Edson Leite eine Kampagne zu starten, die die echten Namen durchsetzen wollte. Pelé sollte Edson Arantes heißen und Garrincha lieber Manuel Francisco. Es klappte nicht, die Magie wäre weg.

Oft sind ja auch die Eltern Schuld. Sie geben ihren Kindern gleich von vorneherein die absurdesten Namen. Wo in Deutschland jeder Standesbeamte vor Schreck umfallen würde, grinst er hier nur. So gibt es Fußballer, die heißen Michael Jackson, Allan Delon oder Michael Douglas. Ein anderes Talent heißt Kierrison, benannt nach Keith Richards und Jim Morrison.

1970 wurde ein Baby Tospericagerja genannt, das so viele WM-Helden wie möglich in seinen Namen vereinigen sollte: Tostão, Pelé, Rivelino, Carlos Alberto, Gérson und Jairzinho. Es gibt auch Berichte von Kindern die Gol, also Tor, heißen. Manche auch Gooooool. Vielleicht ist das in neun Monaten ja wieder ein beliebter Name.

 

Auf der Fähre sind wir alle gleich

Dodo

Fern hallt das Rattern ihrer Dieselmotoren. Noch kann ich sie in der schwarzen Nacht Brasiliens nicht sehen, weiß nicht, ob sie sich nähert oder ob sie sich entfernt. Das Rattern verrät es nicht. Ich sehe ein schwaches Licht, das stärker wird. Eine Maschine taucht auf aus dem Dunkel, gespenstisch, archaisch wie der Flammenwerfer in Dr. No, einem der ersten James-Bond-Filme aus den 60ern, mit dem der Bösewicht die Inselbewohner glauben machte, er wäre ein feuerspeiender Drache. Das ist sie, die Fähre von Santo André, die mich und die vielen anderen Wartenden über den Rio João de Tiba bringen wird, der den nördlichen vom südlichen Teil des Dorfs trennt.

Ich bin während meiner Zeit in Brasilien wie die meisten deutschen Journalisten auf der südlichen Seite des Dorfes untergebracht. Was bedeutet, dass wir fast jeden Tag zwei Mal auf den Drachen warten. Einmal morgens, einmal abends nehmen wir die Fähre. Morgens zum DFB-Camp auf der Nordseite, abends nach Hause.

Der Fährunternehmer hat auf die Anwesenheit der vielen Journalisten reagiert, er setzt eine zweite Fähre ein. Die eine heißt Dodo, die andere Cascavel. Cascavel ist der große Bruder von Dodo. Ich glaube, ich kann ihr Rattern auseinanderhalten. Vielleicht täusche ich mich aber auch.

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Cascavel trägt etwa zwölf Autos. Oft machen sich auch Kleinbusse oder Transporter breit, neulich gar ein Wagen mit Pferden. Sie scheuten nicht auf während der Fahrt, vermutlich hat sie das Rattern beruhigt. Auch an Bord: viele Fußgänger. Manche von ihnen lassen ihr Auto auf der einen Seite stehen und steigen auf der anderen bei Kollegen zu. Dodo und Cascavel bringen uns zusammen.

Vorbei ziehen wir an einer Dschungellandschaft aus Sumpf, Kokosnuss- und Mangrovenbäumen. Wir passieren ein Stück Land, das kein Tourist betreten wird. Leben dort wilde Tiere? Wir fahren nur wenige Meter vom Ufer entfernt, es ist eine andere Welt.

Die Fähre ist ein Zeitfresser. Erst wartet man, dann treibt sie in stoischer Langsamkeit dem anderen Ufer entgegen, das hinter einer Biegung liegt. Auch Auf- und Abladen dauert. Die Polizei hat Vorfahrt. Als ich einmal vom Camp zurück auf die andere Seite musste, um Geld abzuheben, hat mich das zwei Stunden gekostet. Auf der Fähre pulsiert das Leben Brasiliens, und zwar in einer sehr niedrigen Frequenz.

„Hier kommt man runter“, sagen alle, oder „eine herrliche Entschleunigung“. Auf der Fähre finden wir die Ruhe und Konzentration, um all die wichtigen Informationen und Eindrücke aufzunehmen, die auf den Pressekonferenzen und Trainingseinheiten auf uns einprasseln.

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Egal wann und auf welcher Seite man aufsteigen will, es bildet sich eine Schlange von Autos, Motorrädern und Lastern. Ein Junge verkauft aus dem Rollwagen Wassereis am Stiel mit Limettengeschmack. Ein mobiler Bäckerstand bietet Kaffee. Schnell noch einen für die Fahrt. Der erste schmeckte mir zu süß, inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.

Auf und an der Fähre kommt man ins Gespräch. Hier hört man Reisetipps für Salvador oder die neuesten Gerüchte aus der Mannschaft. Oder Debatten über Spaniens 0:2 gegen Chile, Tiki-Taka ohne verliert gegen Tiki-Taka mit Testosteron. Manche wollen Spaniens Aus schon immer kommen gesehen haben. Andere sagen: „unglaublich“.

Beliebtes Thema unter Journalisten auf der Fähre: die Hierarchien der Medien und ihr Verhältnis untereinander. Können die Fernsehleute mit den Schreibern? Pflegen die Fernsehleute untereinander Rivalität? Wie verstehen sich Print und Online? Sind die Schreiber alle Fatzkes?

Auf der Fähre selbst gibt es keine Hierarchien. Auf der Fähre sind wir alle gleich. Ob Bild oder Lokalzeitung, ob Sport1 oder Hörfunk. Wer ein bisschen Portugiesisch kann, spricht mit den Einheimischen in ihren gelben Trikots. Neulich fuhr die DFB-Spitze um den Präsidenten Wolfgang Niersbach mit. Dodo fuhr nicht eine Spur schneller als sonst. Und sein Diesel ratterte wie immer.

Auch die deutschen Spieler müssen übers Wasser, allerdings nur zu den Spielen. Nach dem Sieg gegen Portugal sangen sie auf der Fähre, sie heulten den Mond an, wollten das Rattern übertönen.

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Jetzt ist es früher Abend, in Brasilien heißt das Nacht. Nachts fahre ich am liebsten. Jetzt hört man das Klopfen der Diesel besonders. Und man sieht nur die Silhouette des Dschungels im Mondlicht, sie zieht langsam vorbei. Jemand Das Herz der Finsternis von Joseph Conrad gelesen?

Auf einem der Laster ruht sich ein Arbeiter aus. Er hat sich auf die Bierkisten gelegt, ein Bein ist angewinkelt. Als Dodo mit zwei knallenden Schlägen seine Rampe an das Betonufer kratzt, wacht er auf. Am Kiosk neben dem Ticketverkauf sitzen deutsche Journalisten und verqualmen ihren Feierabend. Dem kleinen Fernsehgerät entfährt ein Torschrei. Kroatien hat getroffen.

Ich hab sie verflucht, ich hab ihr hinterhergerufen, dass sie doch noch zwei Minuten auf mich hätte warten können. Ich habe mich geärgert, als ich auf Cascavel wartete und Dodo an der Rampe an uns vorbeidrängelte. Was Dodo mit heißen Abgasen erwiderte. Doch nicht erst jetzt, wo er mich wieder mal sicher ans Ufer schifft, wird mir klar: Ich werde sie nie vergessen, sie wird mir fehlen, die Fähre, die mich zu Jogi Löw bringt, und das Rattern ihrer Diesel.

 

 

Schland am Strand

Kinder vor der Strandbar "Tor" (Foto: Christian Spiller)
Kinder vor dem Strandkiosk „Tor“ (Foto: Christian Spiller)

Vielleicht ist es die Sonne. Sie glänzt hier ganz besonders. Oder die Brise, die vom Meer herüberweht. Oder die Aussicht auf den sichelförmigen Sandstrand auf der einen und die Felsen auf der anderen Seite. Auf deren Spitzen scheinen die grünsten Palmen der Welt zu wachsen. Oder alles zusammen. Auf jeden Fall ist es an der Copacabana viel zu schön, um blöd herumzugrölen.

Ich hatte einiges befürchtet. Einen der bekannten Strandkioske hat das deutsche Generalkonsulat während der WM-Wochen gemietet. Zum öffentlichen Fernsehgucken, wie es seit einigen Jahren arg angesagt ist. Wo sonst die Cariocas entspannt ihr Bierchen schlürfen und schöne Menschen am Strand beobachten, wollen die Deutschen nicht ganz so schönen Menschen auf einem fernen Fußballplatz zugucken. Dafür hingen sie schwarze, gelbe und rote Luftballons auf und verteilten aufblasbare Klatschhilfen und Hawaiiketten. „Tor“ nannten sie ihren Kiosk auch noch. Oje.

Für jedes deutsche Tor, so war es versprochen, würde es zudem Freibier geben. In Kombination mit der Mittagssonne, Anpfiff gegen Portugal war um 13 Uhr Ortszeit, ließ das nichts Gutes erahnen. In dieser Zeit kocht die brasilianische Sonne mit großer Freude mitteleuropäische Großhirne weich. Zumal ich mich unwohl fühle auf Fanfesten, all die scwharz-rot-güldene Seligkeit macht mich oft schon ohne Sonne ganz schummrig. Ich hasse Hawaiiketten. Und ein paar Schland-Deutsche und Fanmeilenprollos würden es sicher bis nach Rio de Janeiro schaffen. Ist doch klar.

Und dann kamen Leute wie Erika Schmidt. Erika Schmidt hatte sich an diesem Tag die Farben der deutschen Fahne auf die Wangen gemalt. Sie hatte extra ein schwarzes Top und goldene, in diesem Fall halt gelbe, kurze Hosen angezogen. Erika Schmidt ist für Deutschland, doch das einzige deutsche Wort, das sie halbwegs sicher beherrscht, ist – sorry – „Scheiße“. Sie spricht es so schön weich aus, wie „Scheise“.

Es geht an diesem Nachmittag herrlich unprollig zu. Das Publikum ist tendenziell jung und weiblich, was die Zahl der deutschen Bürstenhaarschnitte in einem überschaubaren Rahmen hält. Ebenso die Zahl öder „Deutschlaaaaand-Deutschlaaaand“-Choräle, ich vermute da einen Zusammenhang. Bei der Hymne bleiben fast alle sitzen. Gesungen wird, wenn überhaupt, nur der Refrain.

Erika Schmidts Großvater kam aus Deutschland, der andere aus Portugal, was die Sache an diesem Tag aber nicht verkomplizierte. „Scheise“, sagte sie, als in der siebten Spielminute der Fernseher ausfiel und alle im Tor das Erste von Thomas Müller verpassten. Einer aber hatte immerhin ein Handy mit Zimmerantenne dabei, als er jubelte, jubelten einfach alle mit. Es kam zu ersten spontanen Freibier-Sprechchören, die sich noch öfters wiederholen sollten.

Tatsächlich hatte niemand mit Thomas Müller gerechnet. Schon zur Halbzeit, 3:0 stand es da, waren die Torjubel fast routinemäßig in Freibier-Forderungen übergegangen. Doch die Biervorräte waren aufgebraucht. Ein deutsches Fanfest ohne Bier – das ist wie Public ohne Viewing.

Vor dem Strandkiosk "Tor" (Foto: Christian Spiller)
Vor dem Strandkiosk „Tor“ (Foto: Christian Spiller)

Auch Paul aus Australien ist etwas besorgt ob der zu Ende gehenden Getränkevorräte. Er trägt ebenfalls schwarzrotgold auf der Wange, weil die Deutschen ein großartiges Team haben. Er erzählt, wie angenehm er es hier findet. Ich erzähle ihm von meinem Problem. Er sagt, er wisse, was ich meine. Vor einiger Zeit ließ er sich ein Australien-Tattoo stechen, weil er sein Land so liebe. Später hörte er, dass in seiner Heimat einige Australier auf Muslime losgingen. Und viele von denen ließen sich jetzt dasselbe Tattoo stechen. Er würde seines am Liebsten wieder wegmachen. Doch ein Tattoo wird man fast ebenso schwierig los wie seine Nationalität.

Hier und heute aber ist alles harmlos. Das deutsche Fanfest kommt als Campusparty daher, zu der man ein paar Tonnen Sand herangeschafft hat. Das Spiel läuft so nebenher. Auf dem Bürgersteig bilden sich Grüppchen, die entspannt plaudern. Vom Strand kommen ein paar Beachboys mit freiem Oberkörper und wollen sehen, warum die Leute auf den Fernseher schauen statt auf sie. Kleine Kinder spielen mit Deutschland-Fähnchen im Sand.

Brasilianisches Fernsehteam in der Strandbar "Tor" (Foto: Christian Spiller)
Brasilianisches Fernsehteam im Strandkiosk „Tor“ (Foto: Christian Spiller)

Als es wieder Bier gibt, habe ich nur noch ein Ziel: All den Fernsehkameras aus dem Weg zu gehen. Vier oder fünf Teams sind da, aus Brasilien und Deutschland, sie wollen Jubelbilder und blöderweise sitze ich in der ersten Reihe, weil ich mal wieder zu spät kam und woanders nichts mehr frei war. Ich versuche mich, bei den Toren extra wegzuducken, aber es fallen ja so viele, am Ende vier.

Kurz nach dem Spiel bekomme ich eine Nachricht. Ich wurde im Fernsehen gesehen. Beim Torjubel. Mit einer schwarz-rot-goldenen Hawaiikette. Ich denke, so etwas kann schon mal passieren.

 

 

Durch die WM mit der brasilianischen Wunderbeere

Baskets of acai berries sit on a truck waiting to be taken to market in Abaetetuba
Die Beere in Reinform (Foto: Paulo Santos/Reuters)

Sie werden lachen, aber so eine WM ist eine anstrengende Sache. Das Turnier hat noch nicht einmal begonnen, schon hat mich der brasilianische Alltag so gut wie verschlissen. Dass ich mit meiner Wohnung in Rio de Janeiro auch zwei Katzen gemietet habe, kann ich, obwohl eher Hundetyp, noch verschmerzen. Sie verheddern sich am liebsten in meinen mitgebrachten Ladegeräten, von denen eines (Smartphone) problemlos in brasilianische Steckdosen passt, das andere (Notebook) jedoch nicht. Ein technisches Rätsel, das ich wohl bis zum Finale nicht gelöst haben werde.

Schon anstrengender: Für den Erwerb einer brasilianischen SIM-Karte sollte man sich als Ausländer mindestens einen halben Tag Zeit nehmen. Nur das geballte Wissen von etwa sechs SIM-Karten-Verkäuferinnen kann am Ende des (halben) Tages weiterhelfen. Wer dann fröhlich aus dem Laden läuft und träumend eine erste SMS in die Heimat tippt, der wird durch die Gefahren des Straßenverkehrs wachgerüttelt. Autos und Busse brettern durch Rios Straßen, dass einen der Fahrtwind fast vom Bürgersteig fegt.

Und selbst am Strand, dem Sehnsuchtsort jedes Teutonen, ist alles nicht so einfach. Schon von Weitem fallen wir auf, mit unseren blassen, schlappen Körpern. Die Brasilianer sitzen breitbeinig daneben, grinsen und streicheln über ihre braun gebrannten, öligen Muskeln. Wer es dann noch wagt, ein Buch in die Hand zu nehmen, braucht sich nie wieder hintrauen. Ein Buch! Am Strand! Wo es da doch so viel zu sehen gibt. Gehst du auch mit einem Buch ins Fußballstadion? Das fragte mich mal ein braun gebrannter, öliger Muskelmann.

Ja, sie raubt schon jetzt Kraft, diese WM. Doch es gibt Hilfe. Eine kleine, dunkelblaue Beere wird mich durch das Turnier tragen. Eine wahre Wunderbeere, ohne die in Rio de Janeiro schon längst nichts mehr geht. Sie ist eine natürliche Droge, Rios Red Bull, bloß ohne Dosen. Vergessen Sie die Strände, den Samba, den Jesus. Der einzig wahre Grund in diese wundervolle Stadt zu reisen heißt: Açaí.

Vor 20 Jahren kannte die kleine, dunkelblaue Beere außerhalb der Amazonas-Region noch niemand. Sie wächst nur dort auf den sogenannten Kohlpalmen. Mittlerweile ist sie Teil der brasilianischen Strandkultur. Jede Saftbar, jeder Sandwichladen, der sie nicht im Angebot hat, kann eigentlich dicht machen. Die Beere macht stark, gibt Energie und soll auch als Aphrodisiakum wirken. Es gibt Erzählungen, wonach sich der Kinderwunsch bei einigen brasilianischen Paaren erst nach regelmäßigem Açaí-Konsum eingestellt hat.

Dabei sieht das Zeugs zunächst einmal aus wie ein Haufen Schlamm. Açaí wird halbgefroren als eine Art Sorbet gelöffelt. Der Geschmack erinnert an eine Mischung aus Himbeeren, dunkler Schokolade und einer Handvoll Mutterboden. Erst nach einem halben Becher fängt es an, zu schmecken. Nach zwei Bechern ist man süchtig.

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Die Beere zum Löffeln (Foto: Christian Spiller)

Açaí soll vor Herzinfarkt und Krebs schützen. Die Beere strotzt vor Vitaminen und hat Kalorien ohne Ende. Oft gibt es sie mit viel Zucker, geschreddertem Müsli und anderen zermanschten Früchten. Die großen Becher nennen sich dann Açaí Bombada oder Super Energético. Wie gemacht für die körperbessenen Cariocas, die Einwohner Rios. Tim Wiese würde es lieben.

Das Schöne an der Beere: Sie verdirbt schnell, weshalb sie in ihrer echten Form nicht weit über Brasilien hinauskommt. In den USA gab es vor ein paar Jahren mal einen Boom, allerdings mussten die Amerikaner sich mit der Pulverform begnügen. Ein toller Anachronismus im Zeitalter der Globalisierung: In einem Teil der Welt wollen es alle, in einem anderen hat man noch nie etwas davon gehört.

Darauf ein Buch am Strand.

 

Sperrgebiet Traumstrand

Der DFB ist in Brasilien in einem Dilemma. Einerseits soll sich die Nationalelf in Ruhe auf das WM-Turnier vorbereiten. Andererseits versteht sich der Verband als Botschafter Deutschlands. Der DFB wolle ein Teil Brasiliens sein, sagte Oliver Bierhoff während der Eröffnungspressekonferenz am Montag: „Wir wollen das zweite Team der Brasilianer sein.“

Das Dilemma führt zu rhetorischen Anstrengungen. Die Delegation und die Mannschaft hätten sich von der brasilianischen Lebensart beeinflussen lassen, sagte Bierhoff. Sie hätten sich darauf vorbereitet, sich zu arrangieren. Das eine oder andere „Problemchen“ sei bereits gelassen gemeistert worden. „Mit Widrigkeiten muss man in Brasilien klarkommen“, sagte der Manager des Nationalteams.

Deutschlands neue Mauer
Deutschlands neue Mauer (Copyright O. Fritsch für ZEIT ONLINE)

Als ein Journalist wissen wollte, welche Widrigkeiten er meine, antwortete Bierhoff: „Da fließt mal das Wasser nicht, und da geht die eine Steckdose nicht.“ Und verwies auf die allseits bekannte Anekdote vom Vortag, als der Reisebus des DFB zunächst nicht die Fähre verlassen konnte, die den Fluss Joao de Tiba überquert.

Das klang ein bisschen nach Abenteuer im Urwald. Das klang dem ehemaligen CDU-Politiker Friedrich Merz, der seine bürgerliche Sauerländer Jugend nachträglich mit wilden Storys frisieren wollte, mit angeblichen Fahrten auf dem Moped.

Helmut Sandrock, der Generalsekretär, sagte auf der gleichen Pressekonferenz: „Wir sind freundlich begrüßt worden – von Menschen, Frauen und Kindern.“ Ein Versprecher, freilich, aber vielleicht bezeichnend dafür, dass uns Deutschen die diplomatische Eleganz nicht im Blut liegt. Zur Frage, ob die sozialen Proteste und das Fifa-Desaster die WM in Brasilien beeinträchtigen könnten, sagte Sandrock: „Dazu werden wir uns zu gegebenem Zeitpunkt äußern.“

Der DFB hat sich zur Mission Titelgewinn in eine Traumwelt zurückgezogen, manche sagen in eine Parallelwelt. Er hat nicht eins der Quartiere gewählt, das die Fifa vorgeschlagen hat, sondern eins, das erst gebaut werden musste: das Campo Bahia in Santo André. Zugänglich ist der Abschnitt nur über eine Fähre. Andere Teams residieren in den Metropolen Rio und Sao Paolo (und werden nun mit U-Bahn-Streiks bestraft). Der DFB hat sich in ein Nest am Atlantik einquartiert, das keine tausend Einwohner zählt. Sie leben an einem Traumstrand. Manche von ihnen leben aber auch in armen Häusern und an Sandstraßen. Einige Läden sind in Garagen untergebracht.

Santo André erlebt nun staunend die Invasion der Deutschen. Am nördlichen Ende des Orts hat der DFB einen Trainingsplatz mit perfektem Rasen und Flutlicht bauen lassen, mitten im Naturschutzgebiet. Das Teamhotel ist abgeschirmt. Davor stehen Militärpolizisten mit Gewehren. Sie bewachen auch den Trainingsplatz während des Trainings, ihn umgibt ein Zaun mit Sichtschutz. In den wenigen Restaurants spricht man nun Deutsch.

Die Leute im Ort sind den Fremden gegenüber zwar aufgeschlossen, das sah man beim Empfang am Sonntag. Bloß bietet sich ihnen ein ungewohntes Bild. Sicherheitskräfte sehen sie hier sonst selten. Und der kolonnenhafte Verkehr der riesigen deutschen Delegation samt einem riesigen Appendix namens Presse provoziert irritierte Blicke, auch Ansätze von Trotz. Auf dem Mittelstreifen der einzigen asphaltierten Straße bewegt sich ein schwarzer Hund auch dann nicht vom Fleck, wenn von zwei Seiten Autos auf ihn zufahren (was nie passieren dürfte, wenn nicht gerade WM ist).

Manche Leute in Santo André merken nun, dass sie für die nächsten Wochen in einem Sperrgebiet leben werden. Einwohner bestimmter Zonen müssen sich ausweisen, wenn sie ihr Haus betreten wollen. Kinder fühlen sich auf dem Weg zur Schule behindert, es gibt einige Facebook-Einträge dazu.

Spricht man mit Einheimischen, ist augenzwinkernd die Rede von der Invasion der deutschen Armee. Folha, eine der wichtigsten Zeitungen Brasiliens, schreibt: „Deutschland baut die Mauer wieder auf.“ Das ist weit übertrieben. Doch eine Straßenverkäuferin, die in der Nähe der Deutschen wohnt, lässt sich in dem Artikel mit den Worten zitieren: „Ich empfinde es als demütigend. Wer sich hier auszuweisen hat, sind die Zugereisten, und nicht ich. Ich bin hier geboren.“

Die Spieler bekommen davon wohl nichts mit. Sie sollen ja auch ein Fußballturnier gewinnen. Am Montag gab es eine nette Geste gegenüber den Einheimischen. Zu Besuch waren die Pataxó, ein indigenes Volk. Sie kamen mit Federschmuck und Pfeil und Bogen. Sie feierten Miroslav Klose, der Geburtstag hatte, mit einem Ständchen. Von Journalisten sammelten sie Autogramme und ließen sich zu „Deutschland, Deutschland“-Chören verleiten. Lukas Podolski machte eine Art Polonaise mit ihnen, vielleicht auch weil er sich wie beim Karneval in Kölle fühlte.

 

Beim Empfang am Sonntag wirkten die deutschen Profis in ihren schwarzen Hemden und hinter dunklen Sonnenbrillen noch nicht voll akklimatisiert. Man wünscht ihnen eine Spur der Leichtigkeit, die man etwa den Holländern nachsagt, und von denen es heißt, sie spielten in Rio am Strand. Sie kommt sicher auf dem Platz.

Am Dienstag fragte eine argentinische Journalistin auf der Pressekonferenz Philipp Lahm und André Schürrle nach ihrer Meinung über den Artikel in Folha. Die beiden Spieler schwiegen kurz irritiert, dann antwortete ein Sprecher des DFB, das Sicherheitskonzept sei mit den lokalen Behörden abgestimmt – und bevor Lahm etwas zu sagen wollen schien: „Nächste Frage, bitte.“

 

Die Tops und Flops von Sotschi

Eine kleine Bilanz nach 16 Olympia-Tagen:

Tops

– Carina Vogt gewinnt das erste olympische Skisprung-Gold.

Die Slopestyler, die Figuren des neuen, modernen Olympias. Wie sie mit Niederlagen umgehen, wird zwar dem Klischee gerecht, steht aber im größtmöglichen Gegensatz zu der beinahe militärischen Verbissenheit der traditionellen Wintersportarten.

– Twitternde Sportler. Durch das (fast) neue Medium Twitter haben wir erfahren, dass Sportler auch lustig sein können. Besondere Erwähnung: der Biathlet Martin Fourcade.

 

Schwanensee bei der Eröffnungsfeier

– T.J. Oshie, der Penalty-Schütze, der die Eishockey-Russen fast allein besiegte.

– Steffi Böhler, deutsche Skilangläuferin, bei der 2012 Schilddrüsenkrebs diagnostiziert wurde und die in Sotschi sensationell sechste, vierte und dritte wurde.

– Das Eishockey-Finale der Frauen, ein dramatischer knapper Sieg für Kanada gegen die USA mit zwei kanadischen Last-Minute-Toren, die die erst die Verlängerung möglich machten und den Siegtreffer in der Verlängerung. Beste Werbung für den Sport, der auf der Streichliste der IOC landen könnte, weil nur zwei Teams konkurrenzfähig sind: Kanada und die USA. Aber dann würde uns so was entgehen.

Die Gold-und-Silber-Buckelpisten-Schwestern

– Das warme Wetter, endlich mal kein gefrorener Speichel an Langläufer-Kinnen.

– Dieses Foto-Finish

 

– Bogdana Mazozka, die ukrainische Sportlerin, die aus Solidarität mit den Demonstranten in ihrer Heimat abreisen wollte.

Flops:

Die Toten in Kiew

– Manipulationsvorwürfe beim Sieg der russischen Eiskunstläuferin Adelina Sotnikowa über die Koreanerin Yuna Kim. Ein Jurymitglied ist die Frau des Präsidenten der Russischen Eiskunstlauf-Union. Ein zweites war schon mal in einen Absprachen-Skandal in Salt Lake City 2002 verwickelt. Das IOC schweigt. Katharina Witt: „Ich war komplett fassungslos und sauer auf unseren Sport, da muss man sich nicht wundern, wenn sich die Leute abdrehen.“

Die verfehlten Medaillenziele der deutschen Sportler.

– Das Weichspülprogramm der Öffentlich-Rechtlichen (Zitat aus einem Porträt über den IOC-Chef Thomas Bach: „Ein Bach in der Menge, dem mächtigsten Sportfunktionär, ganz nah.“)

– Etwas peinliche Hysterie in westliche Medien, weil mal eine Gardinenstange abgefallen ist. Höhepunkt: Ein falscher Wolf macht weltweit Schlagzeilen.

– Evi Sachenbachers Dopingfall und die schnellen verharmlosenden Aussagen (Michael Vesper: „Leute, wir sprechen nicht über Heroin oder Epo oder solche Drogen“, Athletensprecher Christian Breuer: „Von einem Doping-Fall spreche ich nicht. Ich nenne es für mich zunächst eine positive Probe“, Maria Höfl-Riesch: „So wie ich die Evi kenne, kann ich mir unmöglich vorstellen, dass sie was gemacht hat. Es ist für uns Sportler natürlich immer wahnsinnig schwierig, wir müssen viele Zusatzpräparate nehmen, Vitamine, Mineralstoffe, um den Haushalt im Gleichgewicht zu halten… Da ist leider eben immer die Gefahr da, dass man etwas Verunreinigtes erwischt.“)

– Doppeltes Trauerflor-Verbot des IOC (Norwegen, Ukraine)

– Zu viele, teilweise absurde Disziplinen, was bitte soll ein Team-Rodel-Wettbewerb?

Langsame deutsche Bobs („Trabis“), das schlechteste Bobergebnis seit 50 Jahren inklusive Tränen.

Braves, taubes, stummes IOC inklusive des Chefs Thomas Bach angesichts der Probleme der Putin-Spiele.

– Kosaken

Und Sie? Was waren Ihre olympischen Tops und Flops?