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Unser Unbehagen mit Sotschi

Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy rief gestern in der FAZ dazu auf, Sotschi zu verlassen. Er schrieb über die Absurdität dieser Olympischen Spiele. Von der Gleichzeitigkeit der Bilder aus Sotschi und jenen vom Maidan. Von dem IOC, das in Sotschi weilt und taub und blind ist: „Spüren sie nicht, dass ihre Medaillen nach Blut schmecken?“

Auch wir spüren dieses Unbehagen. Es fühlte sich seltsam an, ein Interview übers Bobfahren zu führen, während nur ein paar Hundert Kilometer von Sotschi entfernt etwas Furchtbares geschieht. In Kiew wurde auf Menschen geschossen. Damit ist ein Konflikt eskaliert, in dem auch Wladimir Putin eine wichtige Rolle spielt. Genau der Mann, der sich in Sotschi im Glanze seiner Spiele sonnen möchte.

Dürfen wir mit unserer Berichterstattung Putin noch eine Bühne geben? Ist es nicht verlogen, über seine Eishockeyspieler oder Eiskunstläufer zu schreiben, während er Machtpolitik betreibt? In einem ersten Reflex haben wir überlegt, die sportliche Berichterstattung einzustellen.

Andererseits: Warum gerade jetzt? Putins Politik wurde schon vor den Spielen lang und breit diskutiert. Man wusste, worauf man sich einlässt. Wo zieht man die Grenze? In Syrien ist Putin auch Akteur, dort starben und sterben noch mehr Menschen. Zudem ist nicht klar, ob es wirklich die ukrainische Regierung war, die am Donnerstag die Situation auf dem Maidan eskalieren lassen hat.

Und ist es nicht wohlfeil, den Sport zu ignorieren? Jetzt, zwei Tage vor dem Ende der Spiele? Und was ist eigentlich mit den Sportlern? Würde man sie um den Lohn ihrer Arbeit bringen? Wir wünschen uns mündige Sportler, ein Recht auf sie haben wir nicht.

Im alten Griechenland herrschte während der Olympischen Spiele Friedenspflicht. Wer Krieg führte, durfte nicht mitmachen. Das sollte sichere Wettkämpfe und eine gefahrlose An- und Abreise der Teilnehmer garantieren. Auch wenn der olympische Friede schon damals mehrmals gebrochen wurde, hat sich die Völkerverbindungs-PR bis heute gehalten. Das olympische Feuer war als Symbol des Friedens gedacht. Während der Wettkämpfe sollten die Waffen ruhen. Diese Symbolik wurde oft missbraucht, zuletzt 2008, als Russland während der Spiele von Peking in Georgien einmarschierte. So unpassend wie damals ist die Friedenspflicht auch heute.

Was folgt daraus? Es wird noch ein paar Medaillen geben, aber die werden nicht mehr glänzen. Vielleicht hilft es schon, dieses seltsame Gefühl einmal zu formulieren. Wir werden versuchen, auch in den letzten Tagen der Spiele noch mehr als bisher über den politischen Aspekt dieser Veranstaltung zu berichten.

Und möchten eine Frage stellen: Wie geht es Ihnen mit diesem Thema, liebe Leser?

 

Olympia-Blog: Ganz schön schwul, dieses Olympia-Design

Christof Siemes
Christof Siemes

Vielleicht hatte ich bislang einfach nur Glück, dass ich noch nicht von den Spielen ausgeschlossen wurde. Oder meine Journalisten-Akkreditierung schützt mich, das laminierte Stück Papier mit dem schwarzen E auf gelbem Grund, das mir Zutritt zu allen olympischen Stätten gewährt. An einem blauen Band baumelt das heftgroße Plastikding um meinen Hals. Die große Regenbogenfahne, die auf meiner Brust prangt, verdeckt das Dokument allerdings nicht.

Bevor wir nach Sotschi abreisten, hatten der ZEIT-ONLINE-Kollege Steffen Dobbert und ich uns in einem T-Shirt-Shop ein Protestleibchen fertigen lassen: Oben prangt unübersehbar die Regenbogenfahne, das Symbol der Schwulen- und Lesbenbewegung. Darunter zitieren wir das sechste der “Fundamentalen Prinzipien” der Olympischen Charta, quasi das Grundgesetz der IOC-Welt: “Any form of discrimination on ground of race, religion, politics, gender or otherwise is incompatible with belonging to the Olympic Movement.” Jede Art der Diskriminierung ist also unvereinbar mit der Olympischen Bewegung.

Wir sind beide nicht schwul. Die T-Shirts sollen ein Test sein. Kann das Internationale Olympische Komitee (IOK) seine Zusage einhalten, dass das sogenannte russische Homosexuellen-Gesetz bei den Spielen nicht angewendet wird? Offiziell ist es ein “Verbot der Propaganda für nicht-traditionelle Lebensformen gegenüber Minderjährigen”; es bleibt vage, was genau eigentlich verboten ist: Küssen auf offener Straße, wenn Jugendliche in der Nähe sind? Händchenhalten? Oder eben das Zeigen der Regenbogenfahne? Dafür sind vor den Spielen, sogar während der Eröffnungsfeier, Aktivisten verhaftet worden.

Dabei hatte der deutsche IOK-Präsident Thomas Bach in einem Interview mit der ZEIT im November 2013 gesagt: “Präsident Putin hat nach einem persönlichen Gespräch mit mir eine öffentliche Erklärung abgegeben, dass in Russland die Olympische Charta respektiert wird und es bei den Olympischen Spielen keinerlei Diskriminierung geben wird, sei es wegen Rasse, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Und dass er sich dafür einsetzt, dass in Russland alle Teilnehmer der Olympischen Spiele willkommen sind.”

Vladimir Luxuria jedenfalls ist schon mal nicht willkommen. Die 1965 als Mann geborene Transsexuelle, mit bürgerlichem Namen Wladimiro Guadagno, war kommunistische Abgeordnete im italienischen Parlament und ist eine der Ikonen der italienischen Homosexuellenbewegung. Am vergangenen Sonntag spazierte sie durch den Olympischen Park, trug einen kleinen Schirm sowie einen Fächer in Regenbogenfarben und schwenkte ein Plakat mit der Aufschrift: “Gay Is Okay” – eigentlich nichts anderes als eine prägnante Zusammenfassung des sechsten Prinzips. Zunächst unbehelligt, sprach Luxuria mit Passanten; doch als sie die Eishockey-Arena Shayba besuchen wollte, wurde sie von Sicherheitsleuten des Parks verwiesen.

Siemes-Selfie
Siemes-Selfie

Kann das IOC also nicht mal im Herzen der Spiele seine eigenen Prinzipien ertragen und seine Zusagen einhalten?

Mark Adams, der britische Pressesprecher des IOK, gab daraufhin wieder eine Kostprobe des dialektischen Denkens, das die Oberolympier zu einer echten Kunstform entwickelt haben. “Für uns ist kristallklar und das Allerwichtigste, dass die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung gegen die Gesetze der Olympischen Bewegung verstößt.” Aber ebenso klar sei auch, dass politische Demonstrationen bei den Spielen verboten seien: “Wir möchten jedermann bitten, sein Anliegen nicht im Olympischen Park oder in den Sportstätten vorzubringen, sondern anderswo.” Selbst wenn man also mit dem IOK mal einer Meinung ist – Diskriminierung soll nicht sein –, darf man sie nicht äußern! Nur mit solchen argumentativen Verrenkungen ist die Illusion des IOK aufrechtzuerhalten, der Sport sei nicht apolitisch, aber politisch neutral – eine der Lieblingsformulierungen von Thomas Bach.

Und das Ergebnis unseres Tests? Ich habe das ZEIT-T-Shirt bei verschiedenen Gelegenheiten getragen, in der Eisschnelllauf- und der Eishockeyarena, während frühsommerlicher Spaziergänge durch den Olympischen Park, in einer IOK-Pressekonferenz. Für den Test bei kälteren Temperaturen hatte ich mir eine Wollmütze in den Farben des Regenbogens bestellt. Damit stand ich im Skisprungstadion, im Extreme Park der wilden Skifahrer, damit saß ich während der Eröffnungsfeier auf der Pressetribüne, keine hundert Meter von jenem Mann entfernt, dessen Unterschrift das umstrittene Gesetz trägt.

Meine Erfahrung bislang: Außer vielen verstohlenen Blicken und dem ein oder anderen Kompliment – “nice t-shirt, man!” – ist wenig passiert. Nun bin ich auch kein Aktivist, habe keine Fahne geschwenkt und kein Plakat hochgehalten. Ich habe lediglich versucht, meine Meinung auszudrücken: Homosexualität ist ein Menschenrecht. Und das gilt es zu schützen. Niemand soll wegen seiner sexuellen Orientierung verfolgt, kujoniert, ins Abseits gedrängt werden oder sich auch nur fürchten müssen vor irgendeiner Form von Repression, schon gar nicht von staatlicher Seite.

Bisher haben die zahllosen Polizisten, Kosaken, Soldaten, privaten Wachleute, die bei diesen Spielen für Recht, Ordnung und Sicherheit sorgen sollen, keinen Anstoß an unseren T-Shirts und Mützen genommen. Doch ich habe gelernt, wie schwer es ist, zu seiner Meinung zu stehen, wenn man weiß, wie teuer sie einen zu stehen kommen kann. Seit einige Frauen der Band Pussy Riot in Sotschi wie Tiere mit Pferdepeitschen malträtiert wurden, nur weil sie auf offener Straße ein Lied singen wollten, trage ich (auch wenn die Verantwortlichen nun bestraft werden sollen) die Farben des Regenbogens nicht mehr leichten Herzens. Sondern voller Unbehagen und Furcht. Diese Angst, die aus einer strategisch erzeugten Rechtsunsicherheit erwächst, nutzt der russische Staat, um seine Bürger (und Besucher) zu kontrollieren.

Dabei sind Verbot und Verfolgung von ein paar Farben lächerlich, Zeichen der Schwäche, nicht der Stärke. In Wladimir Putins olympischer Traumwelt wimmelt es übrigens von ihnen, sie ist ein Hochfest schwul-lesbischer Symbolik: Der Fassadenschmuck des Olympiastadions und die große Fußgängerbrücke vom Bahnhof in den Olympischen Park – regenbogenfarben. Genau wie die Perücken der Animateure der Sberbank, einer der großen, staatstreuen Sponsoren dieser Spiele. Schließlich die bunten Jacken der vielen Tausend freiwilligen Helfer: ganz schön “schwul”, dieses Design, Regenbogen auf LSD. Und leuchtet es nicht am Ende jedes Regenbogens olympisch golden?

 

Früher waren bei Olympia mehr Pferde

Die Olympischen Winterspiele in Sotschi sind so vielseitig wie nie zuvor. Erstmals sind Sportarten wie Snowboard Slopestyle, Ski Freestyle in der Halfpipe und Frauen-Skispringen dabei. Ganze zwölf Disziplinen wurden eingeführt.

Doch da geht noch mehr. Wir haben mal ein paar Wintersportarten rausgesucht, die es bisher nicht zu Olympia geschafft haben oder inzwischen nicht mehr dazu gehören. Gute Unterhaltung ist garantiert.

1. Ski Ballett

Zugegeben, auf zwei langen Holzbrettern zu tanzen, ist eine komische Vorstellung. Doch auch auf Skiern kann man Pirouetten drehen! Einzeln oder als Paar fahren Ski Ballett-Tänzer einen leichten Hang hinunter und zeigen dabei Drehungen, Sprünge und Rollen in der Luft. Wie beim Eistanz läuft dazu Musik.

Zwischen den späten Sechzigern und dem Jahr 2000 war Ski Ballett als Teil des Freestyle Skis eine olympische Disziplin. Bei den Spielen 1988 in Calgary und 1992 in Albertville wurde es als Demonstrationssport vorgeführt.

Eine Pionierin des Ski Balletts ist die US-Amerikanerin Suzy Chaffee. Bekannt wurde sie vor allem durch ihren Auftritt im ChapStick Werbespot (Lippenstift-Marke).

2. Skijöring

Bei diesem aus Norwegen stammenden Wintersport lässt sich ein Skifahrer von einem Pferd, einem oder mehreren Hunden oder einem Motorfahrzeug ziehen. In alten Zeiten ging man so auf Reisen, heute ist Skijöring vor allem ein Wettkampfsport. Bei Olympia wurde es nur ein einziges Mal gezeigt, als Demonstrationswettbewerb bei den Winterspielen in St. Moritz 1928.

3. Speed Ski

Noch sind die Bobfahrer die Geschwindigkeitskönige bei Olympia. Gegen Speed Ski würden sie jedoch alt aussehen. Denn das Geschwindigkeitsfahren, wie es auf deutsch heißt, ist der schnellste, nicht-motorisierte Sport der Welt. Auf Pisten mit bis zu 112 % Gefälle (48 Grad) rasen die Fahrer neuen Tempo-Rekorden hinterher. Ihr Fahrweg ist nicht durch Tore oder Stangen vorgegeben. Die würden nur stören.

Den aktuellen Weltrekord der Männer hält der Italiener Simone Origone mit 251,4 km/h. Die schnellste Frau ist Sanna Tidstrand aus Schweden mit 242,6 km/h. Die beiden sind allerdings Ausnahmefälle, da der Internationale Skiverband (FIS) eine Maximalgeschwindigkeit von 200 km/h vorgibt.

Die ersten Wettbewerbe im Speed Ski gab es schon in den dreißiger Jahren. Bei den Winterspielen in Albertville 1992 wurde es als Demonstrationssport gezeigt. Unglücklicherweise starb einer der Rennfahrer beim Warmmachen, was zur Einführung der Geschwindigkeitsgrenze beitrug.

4. Synchron-Eiskunstlauf

Von Synchronschwimmen hat bestimmt jeder schon mal etwas gehört, immerhin ist es olympisch. Synchron-Eiskunstlauf ist dagegen bis jetzt nur in Skandinavien und Nordamerika populär. Wie beim Einzel- oder Paarlauf werden verschiedene Schritte und Formationen passend zur Musik vorgeführt. Nur das hier eben zwölf bis 20 Personen (meist Frauen) gemeinsam auf dem Eis stehen und alle Bewegungen gleichzeitig ausführen. Oft tanzen sie in parallelen Linien, den sogenannten Blocks, oder in Kreisform.

5. Bandy

Die russische Eishockey-Mannschaft ist raus. Eine ganze Nation ist enttäuscht. Der Traum vom Olympiasieg ist vorbei. Hätten die Russen doch bloß dafür gesorgt, dass bei den Spielen Bandy eingeführt wird. Denn darin sind sie besten der Welt.

Bandy ist eine Art Kreuzung aus Fußball und Hockey, wird aber auf dem Eis gespielt. Es gilt als Vorläufer des heutigen Eishockeys, wobei die zwei Mannschaften jedoch nicht um einen Puck sondern um einen kleinen Ball kämpfen. Mit Hockey-Schlägern bewaffnet, spielen sie elf gegen elf, wie beim Fußball. Das Feld ist so groß wie ein Fußballplatz, die Tore messen 3,50 x 2,10 Meter und ein Spiel dauert 90 Minuten.

Ja, es ist eine seltsame Kombination der Sportarten. Aber die Tradition des Bandy reicht bis ins Mittelalter. 1952 war es als Demonstrationssport bei den Winterspielen in Oslo dabei. Heute wird Bandy vorwiegend in Nord- und Osteuropa sowie Nordamerika gespielt. In Schweden gibt es sogar eine Profiliga.

Kurz vor den Olympischen Spielen in Sotschi fanden in Irkutsk die Bandy-Weltmeisterschaften statt. Den Titel haben sich die Russen nicht nehmen lassen. Immerhin ein kleiner Trost. Vielleicht sollte man den geknickten Eishockey-Spielern eine Umschulung empfehlen.

 

Olympia-Splitter: Das Sotschi-Geschäft

Eine Woche vor den Olympischen Spielen gab Thomas de Maizière der Süddeutschen Zeitung ein völlig nichtssagendes Interview. Egal, worauf das Thema kam, ob Menschenrechte, Sportförderung oder Sportpolitik – der deutsche Innenminister wich aus, als wäre er Sprecher von Radio Eriwan.

Am Wochenende haben wir einen anderen de Maizière erlebt. Beim Besuch im Deutschen Haus in Sotschi kritisierte er die lange Haftstrafe für den russischen Olympiakritiker Jewgenij Witischko, stellte die Steuerzahlungen an den deutschen Sport in Frage und verglich die Stimmung an Sotschis Wettkampfstätten mit denen in Vancouver und London – zu Ungunsten Sotschis.

Seine unerwartet deutlichen Worte fasste er in einem Gruß an den Gastgeber zusammen. Wer sich um Olympische Spiele bewerbe und sie dann bekomme, hat de Maizière auch gesagt, müsse Kritik aushalten. „Wer das nicht möchte, soll sich nicht bewerben.“

De Maizière sagte auch: „Ich habe über die Probleme in Russland auf den Sportseiten der Zeitungen in der letzten Zeit mehr gelesen als in den Wirtschaftsteilen.“ Heißt: An die deutsche Wirtschaft könnten wegen ihres Handels mit Russland auch ein paar Fragen gestellt werden, nicht nur den Sportorganisationen.

Deutsche Unternehmen haben gut verdient an Sotschi. Ein paar Fakten: Mehr als siebzig haben Aufträge im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen erhalten, zählt der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer geht sogar von über hundert aus. Das Auftragsvolumen beträgt Schätzungen zufolge gesamt 1,5 Milliarden Euro.

Den Großteil hat Siemens abbekommen, nämlich 800 Millionen Euro. Rund vierzig Züge hat Siemens größtenteils per Schiff nach Sotschi transportiert. Volkswagen hat die offiziellen Olympiafahrzeuge hergestellt. Auch bei der Bob- und Rodelbahn, dem Eislaufstadion und der Sprungschanze waren deutsche Ingenieure beteiligt. Der Hafen in Sotschi und der Flughafen in Adler wurden von Deutschen mit- oder ausgebaut. Deutsche Hersteller verkauften Sportgeräte und Kleidung, Zelte und riesige Waschmaschinen für die Hotelgäste. Das Dach des Olympiastadions, das flexibel auf Lichteinstrahlung reagiert, hat die Bremer Firma Vector Foiltec entworfen.

Eckhard Cordes, der Chef des Ost-Ausschusses, kritisiert das, aber aus einem anderen Grund: „Man sollte das nicht überbewerten. Zuletzt betrug das Handelsvolumen mit Russland insgesamt rund 80 Milliarden Euro im Jahr. Auch das klingt hoch, aber es könnte und sollte noch höher sein. Hier schöpfen beide Seiten ihre Potenziale noch lange nicht aus.“

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Ein Vergleich: Die Wirtschaft des viel kleineren Österreichs verzeichnete durch Sotschi Investitionen von 1,3 Milliarden Euro. Das geht aus einem Bericht des aktuellen Spiegel hervor. Seilbahnen, Schneekanonen, Startnummern – nur ein paar Beispiele für österreichische Wertarbeit.

Das Auftreten der rot-weißen Delegation ist davon geprägt. „Österreichs Skifahrer sind Teil einer Image-Kampagne. Die Medaillen, die sie gewinnen, sollen russische Touristen anlocken“, schreibt der Spiegel. Die Deutschen hingegen zählten nur die Medaillen. Die Österreicher machten damit Werbung, heißt es. Für das Après-Ski wohl

Kein Wunder, dass das Tirol-Haus das Party-Zentrum der Spiele sein soll. Abfahrt-Olympiasieger Matthias Meyer trägt auf einem Bild im Spiegel am Oberkörper nur seine Goldmedaille. „Die meisten deutschen Sportler, Trainer und Funktionäre wären wahrscheinlich lieber woanders hingefahren, die Österreicher fühlen sich in Sotschi pudelwohl.“

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Einen guten Schnitt haben beim Sotschi-Business auch die Freunde Wladimir Putins gemacht. „Die neuen Oligarchen, Putins Freunde, sind durch Sotschi sehr viel reicher geworden“, schreibt Markus Wehner, politischer Korrespondent der FAZ, in der Sonntagsausgabe.

Putin, der schwarzbegürtelte Judoka, ist seit Längerem dabei, die Macht im Weltsport neu zu ordnen. Russland begreife den Sport als Mittel der Außenpolitik, aber auch zur Geldwäsche „im großen Stil“, schreibt Wehner. Hier eine Auswahl aktueller und ehemaliger, vor allem reicher Weggefährten Putins:

  • Vitali Mutko, Russlands Sportminister und Fifa-Exekutivmitglied
  • Wladimir Lissin, Präsident des Europäischen Sportschützen
  • Michail Prochorow, Präsident des Russischen Biathlonverbands und Mehrheitsgesellschafter des NBA-Vereins Brooklyn Nets
  • Alischer Usmanow, Präsident des Weltfechtverbands und Gesellschafter von Arsenal
  • Marius Vizer, Präsident von Sportaccord, der Vereinigung aller Sport-Weltverbände
  • nicht zu vergessen natürlich Gazprom großer Player im Weltsport

Und Sotschi war’s ja noch lange nicht. In Moskau fand im Vorjahr die Leichtathletik-WM (oft vor vielen leeren Rängen) statt. Im nächsten Jahr sehen wir erstmals einen Formel-1-Grand-Prix in Russland, in Sotschi. Der Judo-Weltverband, dessen Ehrenpräsident Putin ist, wird seine Meisterschaft in Tscheljabinsk (Ural) austragen, die Schwimmer im Becken von Kasan. 2016 findet die Eishockey-WM in Moskau und St. Petersburg statt. Höhepunkt ist natürlich die Fußball-WM 2018, die mit rund 35 Milliarden Euro veranschlagt wird (zuzüglich der gesetzlichen Korruptionsmarge).

„Wer loyal ist, darf sich bereichern. Darauf beruht ein großer Teil des Putinschen Systems“, fügt Reinhard Veser an, ebenso wie wir westdeutscher Schreibsöldner des Kapitals Politikjournalist der FAZ. Im Chat mit seinen Usern schreibt er:

„Natürlich hat niemand etwas dagegen einzuwenden, wenn die deutsche Wirtschaft bei einem Ereignis wie Olympia gutes Geld verdient. Die hohen Kosten in Sotschi sind aber aus mehreren Gründen kritikwürdig: Zum einen sprechen viele Indizien dafür, dass ein wesentlicher Kostenfaktor Korruption war. Manches, wie die Skischanze ist teurer geworden, weil beim Bau nicht auf örtliche Gegebenheiten geachtet wurde: Die Schanze ist während des Baus zweimal ins Rutschen geraten – davor, dass das auf diesem Hang passieren würde, hatten die Einheimischen von Anfang an gewarnt. Und schließlich ist sehr fragwürdig, ob es tatsächlich eine vernünftige Weiterverwendung vieler der olympischen Objekte gibt. Es ist leider wahrscheinlich, dass man in Sotschi in ein paar Jahren Investitionsruinen besichtigen kann.“

Und an anderer Stelle:

„In Sotschi wurde ein gigantomanisches Prestigeprojekt ohne Rücksicht auf Menschen, Umwelt und Kosten durchgesetzt. Unter Missachtung örtlicher Gegebenheiten wurde in die Landschaft gestellt, was bei der Führung in Moskau Gefallen gefunden hatte. Was die russische Regierung unter Beihilfe des IOC in Sotschi angerichtet hat, darf nicht den Sportlern angelastet werden, die sich lange auf Olympia vorbereitet haben.“

So ist es. Der Respekt vor sportlichen Höchstleistungen bleibt unbenommen:

 

777 Millionen Tausendstelsekunden Olympia

Können Sie sich vorstellen, wie lang eine Tausendstelsekunde dauert? Also klar, eine Tausendstelsekunde oder 0,001 Sekunden, aber wie lang soll das genau sein?

Wir haben mal nachgeschaut: Der Schall kommt in einer Tausendstelsekunde, auch Millisekunde genannt, etwa 34 Zentimeter weit. Das Blitzlicht einer Kamera dauert etwa eine Tausendstelsekunde, der Wimpernschlag des menschlichen Auges etwa 300 bis 400 Tausendstel. Wissenschaftler haben mal herausgefunden, dass man eine Pause von einer Millisekunde zwischen zwei Tönen nicht als Pause wahrnimmt. Die Reizschwelle beträgt drei Tausendstel. Das entspricht auch dem Flügelschlag einer Stubenfliege.

Was das alles soll? Drei Tausendstelsekunden, also die Musikreizschwelle und der Stubenfliegenflügelschlag, trennten am Wochenende die Eisschnellläufer Zbigniew Bródka aus Polen und Koen Verweij aus den Niederlanden. Bródka gewann Gold, Verweij Silber, weil er drei Tausendstel oder umgerechnet auf die 1.500-Meter-Strecke knapp vier Zentimeter eher im Ziel war. Verweij ärgerte sich etwas, und freute sich über die Anteilnahme.

 

Im Wintersport gibt es immer wieder knappe Entscheidugen. Das inspirierte etwa die Kollegen der New York Times vor vier Jahren zu einer netten Spielerei, in der sie alle Zeitabstände bei den Winterspielen akustisch darstellten. Heraus kam eine Art olympisches Musical.

Auch wenn es überall knapp zugeht, Tausendstelsekunden werden nur in einigen Disziplinen gemessen. Beim Abfahrtslauf der Damen gab es zum ersten Mal Doppelgold, Tina Maze aus Slowenien und Dominique Gisin aus der Schweiz fuhren beide bis auf die Hundertstel die gleiche Zeit. Die Tausendstel, also ein Sieger, wurden zwar auch erhoben, aber nicht veröffentlicht. So sind die Regeln.

Im Eisschnelllaufen führte man die Tausendstel erst 1998 ein, als das deutsche Frauenteam bei den Olympischen Spielen in Nagano mit 0,02 Sekunden vor Japan Gold gewann. Auch im Rodeln entscheiden die Tausendstel, seitdem 1972 in Sapporo der Thüringer Doppelsitzer von Horst Hörnlein/Reinhard Bredow sowie Paul Hildgartner/Walter Plaikner aus Italien ihre Rennen auf die Hundertstel zeitgleich beendeten und beide Teams mit Gold bekamen. Zur bisher knappsten olympischen Entscheidung kam es 1998, als die Oberhoferin Silke Kraushaar in Nagano mit nur zwei Tausendstelsekunden vor ihrer Teamgefährtin Barbara Niedernhuber Gold gewann.

Und weil das alles viel zu schnell ging, hier einmal 178.000 Tausendstelsekunden im Video.

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Gut eine Woche, oder etwa 777.600.000 Tausendstelsekunden, laufen die Olympischen Spiele jetzt. Und es ist etwas ruhig geworden rund um die Sotschi-Dauerthemen (Menschenrechte, Umweltschutz, Putin). Der Sport regiert, und viele, die genervt sind vom medialen Dauerfeuer meinen, das sei auch gut so. Aber weg sind die Probleme natürlich nicht. In diesen Tagen wird wieder viel über den Fall von Jewgenij Witischko geredet.

Der 40-jährige Geologe war derjenige, der am stärksten die Umweltsünden der Olympischen Spiele anprangerte. In der vergangenen Woche bestätigte ein Gericht die Strafe, die er erhalten hatte, weil er einen Zaun beschmierte, der rings um die Villa des Regionsgouverneurs errichtet wurde: Drei Jahre Lagerhaft. Oder 315 Milliarden Tausendstelsekunden. Witischko sitzt in seiner Heimatstadt im Arrest und muss nun täglich befürchten, abgeholt zu werden.

Nun hat sich auch Deutschland in diesen Fall eingeschaltet. Bei einem Besuch in Sotschi am Sonntag sagte der Innenminister Thomas de Mazière: „Das Strafmaß bei einem Protest am Zaun eines Gouverneurs ist nach unserer Rechtsordnung ziemlich unverhältnismäßig. Keine Frage.“

Das IOC dagegen fühlt sich nicht bemüßigt, einzugreifen. „Nach unseren Informationen hat er gegen geltendes russisches Recht verstoßen“, sagte Präsident Thomas Bach.

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Was passiert, wenn man sich nur eine Tausendstel-Olympia-Sekunde lang gehenlässt, zeigen diese Schnappschüsse: Gesichter des olympischen Eiskunstlaufes.

 

Russische Männer verlieren nicht, nie!

Als ich am Samstagvormittag kurz vor 11 Uhr einkaufen will, wird plötzlich klar, wie wenig ich mich bisher integriert habe in meiner Nachbarschaft, hier in Adler. Brot, Eier, Saft, Tomaten, Lachs, Butter, Hack, Käse, Kartoffeln, Kekse und eine Packung mit vier Büchsen Bier liegen in meinem Korb. An der Kasse hilft die Kassiererin, die zusammengeklebte Öffnung der Plastiktüte zu finden. Ich packe ein, suche meine Rubel. Dann verweigert sie mir das Bier.

Ich gehe nicht ohne mein Bier, sage ich. Sie sagt auch etwas und gibt das Viererpack nicht aus der Hand. Wir streiten uns, mein Russisch ist so gut wie ihr Englisch. Keiner der anderen Leute im Laden hilft zu übersetzen. Ich fühle mich diskriminiert. So geht das fünf Minuten, mindestens. Als die Kassiererin auf ihre Uhr schaut und endlich mein Bier über den Scanner schiebt, ohne Worte, lächeln wir beide nicht mehr. Ich zahle, ohne Worte, und gehe.nachbarn

Am Nachmittag donnert es gegen meine Tür. Ich öffne. Ein Mann mit nacktem Oberkörper, schwarzer Trainingshose und goldener Kette ergreift meine Schulter. Er schüttelt mich und brüllt „Ruuussssssiaa“. Ein paar Kilometer weiter im Bolshoy Ice Dome spielt gerade in der Vorrundenpartie das russische Eishockeyteam gegen die USA. Die Russen führen 1:0.

Der Mann wankt in meine Wohnung, schnappt sich meine Kamera und zieht mich über den Hausflur hinter sich her. „Keine Angst“, lallt er noch in akzentfreiem Englisch. Barfuß laufe ich bis in seine Wohnung, wo mir sein Freund zur Begrüßung die Hand entgegenstreckt.

Beide heißen Alexej, beide sind meine Nachbarn. Auf dem großen Flachbildfernseher läuft das Eishockeymatch. Auf dem Hocker davor steht eine Playstation 3, eine Packung Tomatensaft und eine fast leere Wodkaflasche. Die beiden lümmeln sich im Ehebett, rote Rosen auf dem Bettbezug. Die Tür zum Balkon steht offen. Draußen flattert eine Russlandfahne. Der eine Alexej ist dunkelhaarig und nur halb so betrunken, wie der andere, der mir jetzt eine Kaffeetasse, halbvoll mit Wodka, reicht. Er sagt, ich solle trinken.

Der dunkelhaarige Alexej, der blonde ganz betrunkene Alexej und ich freuen uns, da wir zusammen das Spiel gucken, auf gute Nachbarschaft. Wenn ich Journalist sei, sei es Zeit, das wahre Russland kennenzulernen, sagen sie. Ich solle Bilder machen. Da schlittert der Puck über die Linie. 1:1. Der blonde Alexej haut mit der flachen Hand aufs Bett. Sein Becher Tomatensaft kippt um. Er schreit: „Fucking USA“.

Der dunkelhaarige Alexej nimmt schnell meine Hand und zieht mich aus dem Zimmer über den Flur in seine Wohnung. Seine Frau Irina lacht. Der ganz betrunkene Alexej kommt hinterher. Er hat sich einen roten Bademantel umgeworfen. Er will mehr Wodka trinken, auch hier. Irina lacht nicht mehr. Sie kocht Kaffee für uns drei.

Da sitzen wir nun. Der dunkelhaarige Alexej zeigt auf die gemauerte Wand und das verlegte Laminat, beides sehr akkurat verarbeitet. Alles ist neu und chic. Er sei LKW-Fahrer, alles sei sein Werk. Ich nicke. Der ganz betrunkene Alexej arbeitet als Arzt mit Aidskranken, verdient unglaublich viel Geld, hat drei Mal die USA bereist und wenn die Russen nicht Hitler gestürzt hätten, säßen wir jetzt nicht hier, sagt er. Wir lachen viel. Nur den Kaffee verschütten wir versehentlich ein wenig.

Zurück in der Wohnung des blonden Alexej. 2:2 steht auf der Anzeigentafel im Fernseher. Ein russischer Spieler drischt den Puck in die obere Torecke. Der blonde Alexej reißt sich den Bademantel wieder vom Leib, springt aufs Bett, Fäuste in den Himmel. Doch der amerikanische Schiedsrichter erkennt das Tor nicht an. Alexej brüllt, so laut dass es die Menschen auf dem Balkon im Haus gegenüber hören. Er haut immer wieder mit der Faust aufs Bett, steht auf, geht ins Badezimmer und kommt mit einem schwarzen Gewehr mit Fadenkreuzzielvorrichtung zurück.

Er will laden, der dunkelhaarige Alexej hält das für keine gute Idee und nimmt ihn die Waffe aus der Hand. Sie kämpfen. Nach einer Weile hält der blonde Alexej sein Gewehr wieder in der Hand. Der Dunkelhaarige schüttelt den Kopf und geht zurück zu seiner Frau. Ich sage, schau auf den Fernseher, Penaltyschießen.

Als der blonde Alexej mir das Gewehr zeigt und einmal ohne Munition durchs Zimmer schießt, muss ich an einen Text über russische Männer denken. Den schrieb mal eine Kollegin, die in einen Russen verliebt ist. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Das Penaltyschießen ist spannender als alles andere in Sotschi.

„Russen verlieren nicht, nie!“, erzählt mir der blonde Alexej. Dann gewinnen die USA. Er weint. Ich laufe und hole aus meinem Kühlschrank das Viererpack Bier. Wir trinken. Er erklärt mir, die Playstation 3 und den Applecomputer habe er sich erst vor einigen Wochen gekauft, nachdem seine Frau ihn mit seinem eineinhalb Jahre alten Sohn verlassen habe. In Moskau gefalle es ihr besser, sagt er. 30.000 Rubel zahlt er nun jeden Monat. Er schimpft über seine Frau. An der Wand hängen noch Fotos von den dreien. Er schimpft auch über seinen Job. Ständig würden die Leute ihm neben seinem Gehalt Schwarzgeld anbieten.

So reden wir eine ganze Weile. Bis das Bier alle ist. Ich sage, mit Hitler habe ich nichts zu tun, und inzwischen sei ich mir sicher, dass die Russen das olympische Eishockeyturnier noch gewinnen werden. Alexej sagt, das wusste er schon lange, beides. Außerdem solle ich nicht über die Verkäuferinnen unten im Laden schimpfen. Die dürfen vor 11 Uhr keinen Alkohol verkaufen.

 

Olympia-Splitter VII: Bayern besser als der Rest der Welt

Was wären Olympische Spiele ohne den Medaillenspiegel? Für die einen das Wichtigste überhaupt, weil sie sich in dem Tableau der Medaillen so schön spiegeln können. Für die anderen stumpfer Nationalismus. Andere wiederum finden es unfair, dass im Medaillenspiegel nur Medaillen zählen, während ein vierter Platz genau viel wert ist wie Platz 20, nämlich gar nichts. Und auch, dass der Medaillenspiegel nach Goldmedaillen sortiert ist und nicht nach der Gesamtzahl von Bronzesilbergold, ist Wasser auf die Mühlen derer, die das The-Winner-takes-it-all-Prinzip kritisieren. Das der Spiele, des Sports, ja des ganzen Lebens.

Ein paar lustige Spielchen lassen sich mit dem Medaillen aber auch anstellen. Hier sei noch einmal auf unsere interaktive Medaillengrafik verwiesen, die alle deutschen Medaillen seit 1952 auf einen Blick zeigt, geordnet nach Sportarten und Jahren. Ein nettes Spielchen ist es auch, die Sotschi-Medaillen auf die deutschen Bundesländer herunterzubrechen.Dann erkennt man zum einen schnell, dass sich die deutschen Medaillen bisher auf gerade mal vier Bundesländer verteilen (Bayern, Thüringen, Baden-Württemberg und Sachsen). Und: Bayern regiert die Welt, nicht nur im Fußball.

Mit fünf Goldmedaillen war der Freistaat zu Beginn dieses Olympia-Samstags eine echte Weltmacht. Wäre Bayern eine eigenständige Nation, wäre sie die Beste. Im Laufe des Tages kam bisher noch eine Silbermedaille für Maria Höfl-Riesch und eine viertel Bronzemedaille dazu (Langlauf-Staffel der Damen). Mia san mia, auch im Schnee.

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Dass dieser Schnee überhaupt noch liegt, ist ein mittleres Wunder. Sotschi, 19 Grad, herzlich willkommen bei den Olympischen Frühlingsspielen:

 

 

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Temperaturen wie gemacht für Felix Neureuther. Der Mann ist zwar Skifahrer, aber sagt: „Ich brauche jetzt Wärme und viel Ruhe.“ Neureuther wollte eigentlich am Freitag nach Sotschi fliegen, wurde aber unsanft an den alten Spruch aller Anti-Flugangst-Kursleiter erinnert: „Das Gefährlichste am Fliegen ist der Weg zum Flughafen.“ Auf eben diesem touchierte Neureuther mit seinem Wagen eine Leitplanke. Er konnte nicht verreisen, musste zum Bayern-Arzt Dr. Müller-Wohlfahrt, der ein Schleudertrauma und eine Zerrung des Bandapparats diagnostizierte. Zu allem Überfluß leitete die Staatsanwaltschaft München II auch noch ein Ermittlungsverfahren wegen Fahrerflucht ein, weil Neureuther am Unfallort nicht die Polizei rief.

Nach Sotschi fahren darf er dennoch. Am Samstag probiert er es noch mal. Vielleicht nimmt er sich ja ein Taxi.

 

Olympia-Splitter VI: Deutschland, Deine Schlitten

Gegen die Dominanz der deutschen Rodler und Rodlerinnen ist selbst der FC Bayern ein schlagbarer Gegner. Die Sieger von Sotschi heißen: Felix Loch, Natalie Geisenberger, Tobias Wendl und Tobias Arlt im Doppelsitzer. Diese vier gewannen auch im Team, in diesem Jahr erstmals olympisch. Vier Rennen, vier Mal Gold für Deutschland. Für andere blieb nichts übrig.

Das ist nichts Neues. Eine statistische Auswahl, seit Rodeln olympisch ist (1964): Rund drei von vier Wettbewerben, inklusive Sotschi, gewannen Athleten und Athletinnen aus der DDR und der BRD (32 von 43). Bei den Frauen gingen 31 von 42 Medaillen an Deutsche. Rund drei von fünf Medaillen insgesamt (75 von 129) gingen an deutsche Frauen und Männer.

1964, 1972 und 1976 standen ausschließlich deutsche Männer auf dem Podest. Das letzte Mal, das keine deutsche Frau Gold gewann, ist 20 Jahre her, auch wenn man es an ihrem Namen nicht erkennt: Gerda Weißensteiner aus Italien. Bei fast der Hälfte der Spiele, zu denen Rodeln olympisch war (1972, 1976, 1984, 1988, 2002 und 2006), sah man auf den Siegerehrungen der Frauen nur schwarz-rot-goldene Fahnen.

1988 gab es sogar im Doppel, eine reine Männerdisziplin, deutsches Gold, Silber und Bronze. In zehn aufeinanderfolgenden Doppelwettbewerben von 1968 bis 2002 gab es nur ein Mal (1994) kein deutsches Gold. 2006 und 2010 gewannen allerdings die Österreicher Andreas und Wolfgang Linger das Doppelrennen, in Sotschi wurden sie Zweite.

Österreich ist eins der wenigen halbwegs konkurrenzfähigen Länder im Rodeln. Überhaupt haben nur noch Italien (also Südtirol) und die UdSSR (1 Mal Gold 1980) jemals einen olympischen Rodelwettbewerb gewonnen. Es gibt also nur vier Siegernationen. Und noch zwei andere, USA und Lettland, die es mal aufs Treppchen geschafft haben.

Wie kommt das? Liegt uns Deutschen das Rodeln im Blut? Kommt das vom vielen Schlittenfahren? Liegts am Rodelabitur? Sind wir ein Volk der Rutscher und Lenker? Eher nein, Rodeln ist weniger eine Frage des Talentpools, sondern eine der Investition. Für diesen Sport braucht man Geld. Die technische Entwicklung der Schlitten und Kufen ist teuer. Bahnen bauen und warten kostet, Deutschland leistet sich gleich vier: Königssee/Berchtesgaden (Bayern), Oberhof (Thüringen), Winterberg (Nordrhein-Westfalen) und Altenberg (Sachsen). Auf der ganzen Welt gibt es nur 17. USA, Kanada und Russland haben gerade halb so viele wie Deutschland. Wenn sie nicht Gastgeber von Winterspielen gewesen wären, hätten sie vermutlich nur eine.

Auch die Athleten sind vom Staat bezahlt. Loch, Arlt und Geisenberger sind bei der Polizei, Wendl bei der Bundeswehr. Ein Staatssport also, eine „medaillenintensive Sportart“, wie es im Slang der DDR hieß. Deutschland führt nun den Medaillenspiegel an – erkauftes Gold sozusagen.

Das alles ist Rodeln. Was Rodeln allerdings nicht ist: Breitensport. Beim Deutschen Bob- und Schlittenverband gibt es insgesamt 201 aktive Kader-Athletinnen und -Athleten – und da sind die Bob- und Skeletonfahrer mitgerechnet. Da stellt sich schon mal, wie auch in manch anderer olympischen Disziplin, die Sinnfrage nach der Investition. Gehört Rodeln zur Alltagskultur, werden deutsche Kinder jetzt mit dem Nischensport Rennrodeln beginnen?

 

Ja, Rodler und andere Sportler verdienen zu wenig Geld und bekommen zu wenig Aufmerksamkeit – im Vergleich mit den verwöhnten Fußballern. Aber man darf angesichts der Zahl der aktiven Rodler schon mal die Konkurrenzsituation eines Bundesliga-Fußballers dagegenhalten. Der musste sich unter Millionen durchsetzen.

Offenbar geht es den deutschen Rodlern zu gut. Denn im Team gab es einen heftigen Streit. Die Gewinnerin der Silbermedaille, Tatjana Hüfner aus Oberhof, sagte nach dem Rennen: „Denen, die nicht in Berchtesgaden sind, wurde das Leben schwer gemacht.“ Ihr Vorwurf: Der Verband bevorzuge den bayerischen Standort. Diesmal ging alles deutsche Gold nach Bayern. Vor acht Jahren war noch Thüringen die führende Kraft. Hüfners Trainer André Florschütz war im vorigen Herbst suspendiert worden. Das habe ihre Chance auf den Sieg genommen, sagte Hüfner. Die stärkste Konkurrenz haben die Deutschen im eigenen Land.

 

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Fundstücke: In der New York Times finden wir eine schöne Animation von Sporthelmen. Mashable spießt das Fake Ad von Audi mit den – inzwischen – vier Olympischen Ringen auf. Und die Russland-Basher vom öffentlich-westlichen Systemfunk NDR lassen Putin Pharrell Williams und Daft Punk singen und legen ihm Folgendes in den Mund: „Ich mach mich tierisch gern nackig.“

Und noch ein Gruß vom Biathlon-Olympiasieger:

 

Olympia-Splitter V: Heiner Lauterbach und das Eishockey

Am Mittwoch begann das Eishockey-Turnier der Männer. Ganz sicher eins der sportlichen Highlights der Spiele. Ich bin zu einer Zeit groß und Sportfan geworden, da war Eishockey hinter dem ewigen Fußball noch TV-Sportart Nummer zwei. Auf die fast jährlichen Weltmeisterschaften und die Olympische Turniere freute ich mich schon Monate zuvor. Kein Zufall, dass in Männer, dem Kinoerfolg Doris Dörries aus dem Jahr 1985, unsere beiden Charakterdarsteller Uwe Ochsenknecht und Heiner Lauterbach in ihrer WG Eishockey schauen (ich glaube, es kommentiert Günter-Peter Ploog: „Das Powerplay, das beherrschen die Deutschen bei diesem Turnier noch nicht.“):

Didi Hegen, Gerd Truntschka, Erich Kühnhackl, Udo Kießling, Xaver Unsinn – das sind Namen, die waren damals fast so bedeutend wie Schumacher, Rummenigge und Völler. Verehrt haben wir natürlich auch Tretjak und die anbetungswürdigen Makarow, Larionow und Fetisow, das Eishockeykollektiv der Trainerlegende Tichonow. Die UdSSR gewann in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern die meisten großen Turniere. Von 1964 bis 1992 gab es bei Olympia nur eine Ausnahme in der Goldfrage: den Sensationserfolg der US-Boys 1980 in Lake Placid, das verfilmte Miracle on Ice.

Doch mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schwand die Macht der „Sbornaja“. Bei Olympia gab’s seitdem kein Gold mehr. Das soll sich in Sotschi ändern, etwa mit dem NHL-Star Owetschkin, heute steigen die Russen ins Turnier ein. Eishockey war immer auch Kalter Krieg auf dem Eis, auch sozialistischer Bruderkampf, etwa das Duell zwischen der UdSSR und der ČSSR ein halbes Jahr nach dem Ende des Prager Frühlings. Vielleicht erklärt der historische Epochenwandel 1989/91 den Bedeutungsverlust des Eishockeys zum Teil. Natürlich ist eine weitere Ursache, dass die deutsche Bundesliga im Pay-TV verschwand.

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„Ein Zyniker ist ein Mensch, der von jedem Ding den Preis und von keinem den Wert kennt.“ Das ist ein Zitat von Oscar Wilde. Es beschreibt die Haltung der meisten Sportsponsoren ganz gut.

Eine Ausnahme ist der amerikanische Telekommunikationskonzern AT&T, Partner des Olympischen Komitees der USA. Er kritisierte Putins Homosexuellengesetz als „verletzend“. Die Süddeutsche Zeitung hat sich unter den deutschen Olympia-Sponsoren umgehört, wie sie über die Lage in Sotschi denken.

Ergebnis: Die einen äußern sich gar nicht oder weichen aus. Die anderen reagieren immerhin, allerdings mit vorgefertigten Textbausteinen, die ihnen offenbar der DOSB als Vorlage geschrieben hat. Krisen-PR per Copy & Paste, so geht’s zu im Sport.

Eine Ausnahme ist das Reiseunternehmen Dertour, es bezeichnet die Diskriminierung russischer Homosexueller als „erschreckend und mehr als heikel“. Von Adidas hingegen vernimmt man nur Worthülsen, etwa dass Sport ein Menschenrecht sei. Dazu muss man wissen: Bei Adidas regt sich ethisch nur etwas, wenn Götze Nike-Strümpfe trägt.

Man könnte es auch andersherum auslegen. Die Herzogenauracher stehen zu ihrer Unternehmenstradition. Adidas hat nämlich große Verdienste in der Entwicklung der Sportkorruption, der Gründer Horst Dassler hat ein Bestechungssystem im globalen Sport aufgebaut, das bis ins 21. Jahrhundert nachwirkt. Und er war bis zu seinem frühen Tod 1987 ein großer Förderer eines gewissen Herrn Blatter.

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Zum Abschluss das aktuelle Dossier über Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Wir zitieren: „In Russland haben mehrere repressive Gesetze die Medienfreiheit weiter eingeschränkt. Seit 2013 ist es verboten, in den Medien Schimpfwörter zu benutzen, religiöse Werte zu beleidigen oder für ’nichttraditionelle sexuelle Beziehungen‘ zu werben. Immer wieder werden Journalisten unter dubiosen Vorwürfen strafverfolgt. Das Fernsehen ist fast flächendeckend staatlich kontrolliert, und rechtzeitig vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi verlor die unabhängige Nachrichtenagentur Rosbalt ihre Lizenz. Vor allem im Nordkaukasus werden immer wieder Journalisten ermordet; die Täter bleiben generell unbestraft.“

In der Rangliste ist Deutschland um 3 Ränge auf 14 geklettert. Im oberen Teil findet man hauptsächlich die Streber aus Nordeuropa. Die Russen stehen auf 148 von 180, also sogar noch hinter den NSA-Freaks aus den USA.

 

Olympia-Splitter IV: Skispringerinnen, die Mary Poppins des 21. Jahrhunderts

Die Geschichte der Frauenbewegung reicht zurück bis ins 19. Jahrhundert. Ihren ersten Höhepunkt erlebte sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Großbritannien und den USA, als die Suffragetten das Wahlrecht erkämpften. Ihr Accessoire war der Regenschirm. Frauen, an die Schirme! Ihre Protestformen waren passiver Widerstand, Hungerstreiks, Störungen von Veranstaltungen und öffentliches Rauchen, was Männer vorbehalten war. Literarisch und musikalisch schön aufgearbeitet ist der Stoff in Mary Poppins:

Zu jener Zeit, 1908, sprang auch die erste Frau von einer Skischanze (ohne Zigarette, soweit man weiß): Gräfin Paula Lamberg aus Kitzbühel, Tochter von Hugo Anton Emil Reichsgraf von Lamberg. „Im langen Rock und tadelloser Haltung“ landete sie bei 24 Metern, heißt es in den Chroniken. Das ist deutlich weiter als so mancher Mann heute. Wir haben keine Bewegtbilder, aber wir dürfen uns Frau Gräfin wie Mary Poppins vom Himmel schwebend vorstellen.

Am Dienstag um 18.30 Uhr (live in der ARD) können wir in Sotschi die Mary Poppins des 21. Jahrhunderts beobachten. Zum ersten Mal stören springen Frauen bei Olympia und zwar deutlich weiter. Den Rekord hält Daniela Iraschko-Stolz mit 200 Metern, wie die Gräfin aus Österreich.

Das wurde aber auch Zeit für die Olympia-Reife, und sie sollte selbstverständlich sein. Ist es aber nicht. Alexander Arefjew, der Trainer der russischen Männer, sagte jüngst: „Ich bin gegen Frauen-Skispringen. Skispringen ist schwierig und traumatisch. Wenn sich ein Mann verletzt, ist es nicht schlimm. Wenn sich eine Frau verletzt, kann es böse enden.“ (Wobei man sich fragen kann, ob das nicht nur frauen-, sondern auch männerfeindlich ist. „Wenn sich ein Mann verletzt, ist es nicht schlimm.“ Hallooo!)

Wer die New York Times anklickt, kann sich diesen Sport multimedial erklären lassen. Wer die Neue Zürcher Zeitung liest, weiß, dass damit nur noch zwei olympische Disziplinen Männern vorbehalten bleiben: das 50-Kilometer-Gehen im Sommer und die Nordische Kombination im Winter. Demgegenüber stehen Synchronschwimmen und die Rhythmische Sportgymnastik, zwei reine Frauensportarten. Hoffen wir, dass sich das bald ändern wird. Es wird Zeit, den Spieß umzukehren. Männer, an die Reifen!

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Dutzende Schneemaschinen rattern über die Pisten Sotschis. LKWs schaffen neuen alten Schnee heran. Den hatte man vorsorglich im letzten Winter aufgehoben und in riesigen Lagerhallen untergebracht. Eine weise Entscheidung, wie sich jetzt zeigt. Denn bei den wärmsten Winterspielen aller Zeiten macht sich der weiße Niederschlag rar.

Auf über 15 Grad Celsius stieg das Thermometer am Montag. Das ist auch für eine der südlichsten Städte Russlands ein Rekord. Normal sind dort im Februar Temperaturen zwischen 3 und 10°C. Diesmal ist alles anders.

Frühling liegt in der Luft. Statt dicken Pullovern, Mützen und Schals hätten die Athleten mal lieber Badesachen einpacken sollen. Die japanischen Eishockey-Frauen haben immerhin kurze Hosen dabei.

Dazu passt ein herrlicher Fund der ARD in ihrem Archiv: ein Porträt von Sotschi aus dem Jahr 1966, der Sommerresidenz Stalins, der „Amüsieroase erholungsbedürftiger Stakhanovisten“. Der Schlafanzug sei aus der Mode gekommen auf der Promenade, erfahren wir über die damalige Verwestlichung, soll man sagen: Nizzaisierung, Sotschis. „Und die puritanische Heilbäderstille der Stalinzeit hat der Donnerhall der heißen Rhythmen aus dem Repertoire des Klassenfeinds zerrissen.“

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Bei dem Wetter ein kühles Bierchen am Strand trinken, das wär doch was. Und natürlich ist in Sotschi für alles gesorgt: Ein Kühlschrank voller Freibier steht bereit. Um ihn zu öffnen, braucht man lediglich kanadische Freunde. Denn nur mit einem kanadischen Pass lässt sich der Kühlschrank öffnen.

Abgefüllt werden sollen die kanadischen Sportler auf diese Weise aber nicht. Kanadas größtes Brauunternehmen Molson will mit der Aktion nur auf sich aufmerksam machen. Interessenten gibt es im olympischen Dorf bestimmt genug.

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Zum Abschluss die tägliche Dosis Politik: „In russischen Medien wird Putins Elan für die Olympischen Spiele bereits mit jenem des Zaren Peter des Großen verglichen, der im 18. Jahrhundert ein Sumpfgebiet an der Ostsee trockenlegte“, schreibt die NZZ über Wladimir, den Superzar. Und wer mehr über die politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und sportpolitischen Hintergründe der Sotschi-Spiele und vor allem über Putin wissen will, nehme sich eine halbe Stunde Zeit für eine Folge Jung & Naiv, der Sendung für „Politik für Desinteressierte“, wie es in der Selbstbeschreibung heißt. Zu Gast: Jens Weinreich. Stehen zwei äußerlich ähnliche Typen vor der Kamera, finde ich.

Mitarbeit: Juliane Dräger