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Die Welt ist eine Kirsche

Der Hamburger Jacques Palminger kleidet auf „Mondo Cherry“ humoristische Zeilen in ein kuscheliges Kostüm aus Dub und Reggae

Jacques Palminger ist einer der drei Humoristen von Studio Braun. Seine Qualitäten als feinsinniger Unterhalter übersah man bislang leicht: Neben Rocko Schamonis Schnoddrigkeit und Heinz Strunks oft streberhafter Hysterie gab Palminger den distanzierten Filou mit Oberlippenbart. Während die Kollegen in den letzten Jahren Platten aufnahmen, die Bücherlisten eroberten und sich bei Zimmer frei! befragen ließen, blieb Palminger im Hintergrund. Dem Massengeschmack war seine Rolle als selbsternannter „einfacher, dünner, bisschen dümmlicher Typ“ zu undurchsichtig – vielen Anhängern galt er gerade deshalb als das interessanteste Mitglied von Studio Braun. Umso erfreulicher ist, dass er sein Können nun mit dem Soloalbum Mondo Cherry beweist. Es wird deutlich: Während Strunk und Schamoni sich vor allem als Musiker auszeichnen, ist Palminger ein genialer Wortschöpfer.

Gleich das erste Stück mit dem bezeichnenden Titel Worte nur Worte zeigt, dass es Jacques Palminger vor allem um Sprache geht. Sein lyrischer Mischmasch aus Werbejargon, Schlagertexten und abstrahierten Sinnsprüchen machen Mondo Cherry zu einem ungeheuer komischen Album. Mit dem Humor der sogenannten Comedians hat es nichts gemein, denn Jacques Palminger verlässt sich nicht auf lustig gemeinte Stimmakrobatik und Schenkelklopfereien. Seine Texte sind nicht einfach nur albern – er spricht eine Sprache, die ohne das übliche Vokabular des Humoristen auskommt. Im Wechselspiel von freier Assoziation und dadaistischer Fleißarbeit entstehen Verse wie „Drehe deine Leber zur Sonne und du bist ein Star“. Palminger betont seine Sätze nachdrücklich – so entsteht der Eindruck, man könne diese schiefen Bilder entschlüsseln. Da ist eine rätselhafte Hintergründigkeit, zwischen Albernheit, Poesie und Geheimsprache ist oft nur schwer zu unterscheiden. Darin liegt der eigentliche Witz der Texte. Die Coverversion der Italo-Disco-Schnulze I Like Chopin macht dies besonders deutlich. Palminger hat den englischen Text wortwörtlich übersetzt, es ist erstaunlich anzuhören, wie er die sinnfreien Zeilen („Weißt du noch, das Piano / So leicht, so ungewöhnlich / Die klassische Sensation / Sentimentale Verwirrungen“) so in eine surreale Traumvision verwandelt.

Angesichts solcher Wortspielerei ist die Musik auf Mondo Cherry eher zweitrangig. Der von Viktor Marek produzierte Dub klingt entspannt und luftig, aber auch unspektakulär. Die Musik erfüllt ihren Zweck, sie dient dem Vortrag als Folie. Interessant aber wird es immer erst, wenn Jacques Palmingers Stimme zu hören ist. Seine Sprachkunst richtet sich in den rhythmischen Aushöhlungen von Dub und Reggae behaglich ein, die tiefen Bässe und der schleppende Groove schaffen Resonanzräume. Dass Mondo Cherry dennoch eine gelungene Pop-Platte ist, verdankt Palminger der Sängerin Rica Blunck. Der Soul ihrer Stimme stellt sich seinem lakonischen Sprechgesang entgegen. Mal umschmeichelt sie den Playboy, dann wieder singen sie im Duett. So erklingen schließlich doch richtige Ohrwürmer, denen man Palmingers Schwäche für Schlager und Chansons immer wieder anhört.

Ganz am Ende gönnt sich Palminger dann noch eine ganz große Geste. Bei Deutsche Frau spielt er mit einem Orchester. In dieser sinfonischen Dichtung treffen Kitsch und geheimnisvoller Text aufeinander: „Deutsche Frau, du hast zwei Beine / Du gehst damit oft zu weit.“ Die irrsinnige Unternehmung entpuppt sich bei mehrmaligem Hören als vollkommen logisch: Schließlich geht es Palminger bei aller Albernheit auch immer um große Gefühle. Nachvollziehbarer ist auch, dass Jacques Palminger im Laufe des Albums immer wieder enerviert aufstöhnt. So klingt es eben, wenn einem die Selbstverständlichkeit des eigenen Genies Kopfschmerzen bereitet.

„Mondo Cherry“ von Jacques Palminger & The Kings Of Dub ist als CD und LP erschienen bei PIAS/Rough Trade.

Lesen Sie hier Ulrich Stocks Porträt von Jacques Palminger.

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Ego schmeckt toll

Zwanzig Jahre hat Grace Jones kein Album veröffentlicht. Mit sechzig wagt sie einen neuen Anlauf. „Hurricane“ ist ein eitles Werk. Wie gut das klingt!

So kann man sie sich wirklich nicht vorstellen. Grace Jones steht am Fließband. In Arbeiterkluft mit Haarnetz. Keine Party, null Glamour. Das ist das Szenario im Heftchen, das ihrer neuen Platte beiliegt. In Plastik gegossene Körperteile liegen auf dem Fließband, am Ende der Produktionskette sind das Hunderte – wenn nicht tausend – Klone. Grace Jones reproduziert sich – klingt die Musik auch so?

Unbedingt!

Donnerte Horst Hrubesch dieser Tage wieder Kopfbälle zwischen die Pfosten, stiege Mohammed Ali wieder in den Ring – es käme uns mächtig exotisch vor. Zwanzig Jahre hat Grace Jones nun kein Album mehr veröffentlicht, mit sechzig wagt sie einen neuen Anlauf. So etwas geht meistens schief, die einen biedern sich dem Zeitgeist an, die anderen dokumentieren den Stillstand.

Grace Jones macht es besser, sie besinnt sich auf ihre Stärken. Das fiel ihr noch nie schwer. Hurricane ist ein eitles Werk, von Egozentrik durchdrungen: „Grace Jones is in the house …“ tönt eine Ansage, Jubel verhallt. Oder hat sie ihn verschluckt? Und wie schmeckt ihre Eitelkeit?

Lecker!

Ihre Platten aus den frühen Achtzigern klingen auch heute noch frisch. Zweieinhalb Dekaden nach Alben wie Night Clubbing und Warm Leatherette zaubert Grace Jones auf Basis des Erfolgsrezept ein neues Süppchen. Wie damals köchelt sie zum Rhythmus von Sly & Robbie. Die beiden sollen in ihrer Karriere etwa 200.000 Lieder eingespielt haben – da sind diese neun weiteren nur ein kleiner Gefallen! Sie bearbeiten Schlagzeug und Bass angenehm routiniert, eine innere Ruhe federt jeden Ton, jeden Taktschlag. Ihre Rhythmen sind luftig, man möchte ihnen stundenlang lauschen. Sie sind Grace Jones’ narrativem Stil eine geniale Grundlage.

Und da sind viele Gäste. Tony Allen ist dabei, der Erfinder des Afrobeat, Adam Green, die Thereminvirtuosin Pamelia Kurstin. Brian Eno spendet Geist, einem Stück leiht Tricky sein Krächzen. In dieser Runde entsteht düsterer Pop, der glänzt und funkelt.

Die Diva selbst bleibt eine Überzeichnung. Spielt mit Kannibalismen, sonnt sich im Ego. Nur einmal verbrennt sie sich: Amazing Grace hätte sie nicht singen müssen. Schon gar nicht zum Breitbandwabern des Synthesizers. Aber was sind schon dreißig Sekunden in einer hermetischen Dreiviertelstunde.

Lesen Sie hier die Rezension zum Album aus der ZEIT Nr. 46

„Hurricane“ von Grace Jones ist als CD und LP erschienen bei Wall Of Sound/Rough Trade.

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Im Nachtbus durch London

Die skelettierten Rhythmen auf Burials Album „Untrue“ erzählen von der Einsamkeit in der nächtlichen Metropole. Die Party ist zu Ende, den Weg nach Hause muss jeder allein gehen.

Burial Unture

Eine Stimme schält sich aus dem Straßenlärm: „I saw your light. It burns forever.“ So beginnt Untrue, das zweite Album des Londoner Produzenten Burial. Das ewige Licht heißt Dubstep, ein Hybrid aus synkopischen Raggabeats, Überresten des Rave und bleischweren Bässen. Dubstep ist in den Clubs der Londoner Stadtteile Croydon und Brixton beheimatet. Neue Stücke werden über lokale Radiosendungen bekannt, oft gibt es sie nur auf Vinyl und in kleinen Auflagen.

Burial ist ein radikaler Geheimniskrämer des Genres. Statt in Interviews und auf Fotos hinterlässt er Spuren in der Musik. Seine eigentliche Identität verschleiert er, dem britischen Guardian sagte er, „only five people know I make tunes“.

Auf Untrue durchstreift er die nächtlichen Vorstädte Süd-Londons und zeichnet ein Klangbild urbaner Vereinsamung. Die Musik ist pures Kopfkino, eine Reise ins Herz der Finsternis. Die Schauplätze dieser morbiden Nachtfahrt sind Orte der Verelendung und Entfremdung – Dog Shelter, In McDonalds und Homeless heißen die Stücke, in denen Burial die Trostlosigkeit beschwört.

Das Gerüst der 13 Stücke bilden skelettierte Rhythmen und subsonische Basslinien, sie entfalten einen Sog. Nur vereinzelt schiebt sich eine melancholische Akkordfolge in den Vordergrund, ertönt verzerrter seelenvoller Gesang, um kurz darauf in den Tiefen des Klangs zu verhallen. „I can’t take my eyes off you“, singt eine geisterhafte Stimme in Near Dark. Ist das die Fantasie eines Stalkers oder ein Liebesschwur? In dieser somnambulen Filmmusik lassen sich Traum und Realität nur schwer auseinanderhalten. Das Unheimliche hat viele Gesichter.

Immer wieder blendet Burial hörspielähnliche Szenen ein, sie erzeugen eine dichte Atmosphäre. Straßengeräusche und geheimnisvolle Stimmen erzählen von der Einsamkeit in der nächtlichen Metropole, vom Umherstreunen in verlassenen U-Bahnstationen. Auf Untrue ist die Party zu ihrem Ende gekommen. Den Weg nach Hause muss jeder allein gehen.

„Untrue“ von Burial ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Hyperdub/Cargo.

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Da bibbert das PVC

Oliver Jones aus London nennt sich Skream und macht Dubstep. Auf Vinyl veröffentlicht er in der Reihe „Skreamizm“ dunkle elektronische Musik mit gaaanz tiefen Bässen.

Skream Skreamizm

Kürzlich spielten Skream beim Sziget Festival in Budapest. Sie standen dort spät in der Nacht auf der Meduza-Bühne, einem Zelt ohne Dach. Es war unfassbar laut, die Bässe brachten die herabhängenden PVC-Bahnen zum Bibbern, auf der Theke der Cocktailbar hüpften die Gläser.

Bei tiefen Bässen denkt manch einer an Prince und Amy Winehouse, an Dub und House. Skreams Bässe waren so tiiieeef, kurz darunter fielen sie wohl aus dem hörbaren Bereich.

Skream heißt eigentlich Oliver Jones, ein Londoner DJ Anfang zwanzig. Sein Dubstep ist dunkle elektronische Musik, meist instrumental. Auf der Bühne in Budapest begleiteten ihn ein Rapper, zwei Videokünstler und ein weiterer DJ. Der Rapper improvisierte flotte Reime, die beiden Künstler legten hektische Bilder unter die Musik. Der zweite DJ durfte Oliver Jones die Platten reichen und mit ihm scherzen, auch das sind wichtige Aufgaben.

Dubstep entstand um die Jahrtausendwende in London, meistens erscheint er auf Vinyl-Maxis. In den vergangenen zwei Jahren wurde das Genre populär, mittlerweile läuft die Musik im britischen Radio. Auch der englische Durchschnittshörer wollte nun eine Dubstep-Scheibe im Auto haben. Oliver Jones stellte die populärsten seiner Stücke zusammen, ergänzte sie um ein paar alternative Versionen und eingängige neue Nummern und veröffentlichte die CD Skream!. Die klang etwas halbgar, beinahe anbiedernd. Vielen Verehrern seiner Kunst waren die meisten der dreizehn Stücke zu reggaelastig, zu fröhlich. Der Klub-Hit Midnight Request Line war in einer vierminütigen Radiofassung auf der CD; aus dem alten Stück Rottan wurde das neue Rutten, die Melodie des Keyboards nun von einer Panflöte interpretiert. Das war zu viel.

Stimmiger sind seine Doppel-Maxis Skreamizm, Teil 1 bis 3. Die ersten beiden erschienen im Jahr 2006, noch vor dem Album, der dritte Teil in diesem Jahr. Je vier bis sechs Stücke sind auf den Platten. Düster geht es zu, die Rhythmen sind karg, die Bässe dumpf und treibend. Oft werden Schläge ausgelassen, dann wieder werden sie gedoppelt – so richtig entspannt tanzen kann man dazu eigentlich nicht. Beim Sziget Festival standen die Menschen zusammengedrängt, die Masse hatte einen gemeinsamen Rhythmus, der manchmal auch gegen den Takt der Musik lief. Die Tanzenden wiegten sich, betäubt von der Lautstärke. Über den Bässen und Rhythmen schraubten sich immer wieder Keyboardflächen in luftige Höhen, da hoben die Menschen die Arme und flogen davon.

Jede der drei Doppel-Maxis hat ihre Höhepunkte. Auf Skreamizm Vol. 1 stechen das polternde Monstrum Lightning und das aufreizend entschleunigte Rottan heraus. Hier hört man, woher der Dubstep kommt – manches klingt, als hätte man eine Drum’n’Bass-Platte in der falschen Geschwindigkeit aufgelegt. Auf Teil 2 reißt vor allem der 0800 Dub den Hörer mit, eine schwerfüßige Version von Midnight Request Line. Auch der Morning Blues ist prima, da umfließen ein paar lockere Gitarrentöne das Dröhnen. Teil 3 fällt ein bisschen ab, Chest Boxing und Make Me ragen hervor, die beiden anderen Stücke sind leider nicht ganz so gut.

Leise oder auf schlechten Boxen gehört ist Dubstep übrigens unerträglich.

Die drei Doppel-Maxis „Skreamizm“ von Skream sind erschienen bei Tempa

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Der Bass von nebenan

Das Tied + Tickled Trio aus München und das Kammerflimmer Kollektief aus Karlsruhe kommen mit je einem Album. Das eine klingt, als sei es Tür an Tür mit dem anderen aufgenommen worden

Tied + Tickled Trio Aelita

Es war ein denkwürdiger Abend im Herbst des Jahres 2006. Da beging die kleine Plattenfirma Hausmusik im Münchner Feierwerk ihr fünfzehntes Jubiläum mit einem Festival, der zweite Tag endete mit einem spontan angesetzten Auftritt des Tied + Tickled Trios. Die Bläser ihres jüngsten Albums Observing Systems waren nicht dabei, vier Musiker – oder waren es fünf? – rührten eine trübe Dub-Suppe an. Die unerwartet monotonen Rhythmen, das düstere Scharren und die Bassbrummereien waren des Festivals Salz und Sahnehäubchen. Es war laut, ohrenbetäubend laut, dunkel und stickig; kaum jemand wagte es sich zu bewegen, nur der Haarschopf des Bassisten Micha Acher federte vor seinen geschlossenen Augen hin und her. Alles passte, es war unfassbar.

Offenbar selbst von diesem Auftritt beeindruckt, begaben sich die Musiker alsbald ins Studio, um die Stimmung zu reproduzieren. Innerhalb von drei Tagen entstand Aelita. Der Versuch misslang. Die Euphorie des Abends konnten sie nicht herzaubern. Im Scheitern brachten sie etwas Drittes, gleichwohl Fabelhaftes hervor. Aelita ist direkt, drängend und tieftraurig. Nur eines der acht Stücke, Other Voices Other Rooms, reißt eine Melodie an, die ins Licht führt.

Der tiefe Dub ist noch da, das swingende Grummeln. Die Bässe graben im Subsonischen, Melotron und Xylofon – oder ist das ein Vibrafon? – singen melancholische Melodien. Trüffelschweinen gleich durchwühlen diese Musiker ihre Klangwelt. Rhythmen werden ewig durchgehalten, jede einzelne Idee so lange ganz leicht variiert wiederholt, bis sie alles zusammen haben. Meist sind dann sieben Minuten um. Vielleicht macht das Schlagzeug Markus Achers den Unterschied zum Konzert. Beherrscht klingt es, nicht so ausgefeilt und schnell wie auf der Bühne.

Auch wenn die Platte nicht die Kraft jenes spätsommerlichen Abends hat, zeigt sie doch die Sicherheit des zur Zeit fünfköpfigen Trios und dessen Gabe, sich einmal mehr in eine unerwartete Richtung zu entwickeln.

Kammerflimmer Kollektief Jinx

Als das Tied + Tickled Trio im Studio stand, nahm nebenan das Kammerflimmer Kollektief sein Album Jinx auf. So jedenfalls klingt es. Der tiefe Dub aus München scheint wie durch eine dicke Wand in die Stücke des Karlsruher Trios zu dringen. Das Kammerflimmer Kollektief spielt Variationen dazu, Gemurmel, Gekratze. Schon im Eröffnungsstück verknoten sich die Linien verschiedener Gitarren, von Harmonium, Percussion, Synthesizer, Doppelbass, Kalimba, E-bow, Wurlitzer und Viola zu einem dicken Geräuschwust.

Während der Aufnahme des Titelstücks Jinx müssen die Studiotüren sogar nur angelehnt gewesen sein. Hier mischen sich Dub und Distinktion, Coffeeshop und Konservatorium. Hektische Stimmen kreischen, johlen und plappern in die weite Welt, ein einfacher Lauf der Steelgitarre und der Rhythmus fangen sie immer wieder ein.

Die Stücke auf Jinx feiern den Schwermut. Nach und nach treten die Melodien, das Hörbare, das Fließende in den Vordergrund, dann klingt das Album richtig warm und nah. Beim fünften Hören zerspringt alles in seine Einzelteile.

Der Kritiker Dietmar Dath liefert einige Überlegungen mit, sie liegen dem Album bei: „So wichtig wie der Text, wie Zeilenzahl, Konkordanz, Register, Lesartenverzeichnis, Fußnotenapparat und Palimpsest ist der Schauspielerin die Musik, die alle Menschen hören, während sie zusehen. Es kommen da keine langen Walgesänge auf, das Summrollen, das die Arme und Beine des musizierenden Trios erzeugen, macht jedes Fiepen zunichte, das sich mit Ozeanischem aufspielt. Komische Aufführungspraxis: Applaus gibt es keinen, nur ein Flüstern wie mitten in der Grünen Hölle“, schreibt er. Das klingt so absurd wie angemessen.

Das finale Stück des Albums, das zehnminütige Subnarkotisch, wurde wohl erst am vierten Tag eingespielt, da waren die Tanzbären von nebenan schon beim Fototermin. Da ist überhaupt kein strukturierender Rhythmus mehr, nur langsam geschichtete, prozessierte Klänge von Streichinstrumenten. Jinx endet im Lärm.

„Aelita“ vom Tied + Tickled Trio ist als CD und LP erschienen bei Morr Music; „Jinx“ vom Kammerflimmer Kollektief ist als CD und LP erschienen bei Staubgold. Beide Alben werden vertrieben über Hausmusik

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Various: „The World Is Gone“ (XL Recordings/Indigo 2006)

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Mehr Albtraum!

Das Londoner Duo Various flicht auf der Platte „The World Is Gone“ sanfte Folkharmonien in seinen fiesen Ganoven-Dub

Various The World Is Gone

Vor wenigen Jahren haben die jungen Londoner Clubgänger und ihre DJs wieder einmal einen neuen elektronischen Tanzmusikstil ausgerufen. Aus Two Step und Dub entstand Dubstep. Dröhnende Megabässe mischen zu Samples aus Kung-Fu-Filmen seither den Untergrund auf. Die dumpfe Atmosphärik dieser Musik und ihrer gerne bekifft abhängenden Kundschaft ist jedoch nicht jedermanns Sache.

Seit diesem Herbst wehen neue Gerüchte und andere Töne aus England herüber, das Duo Various versetzt alle in Erregung mit der Geheimniskrämerei um seine Existenz und mit einer frischen Folkdusche für den schwerfälligen Dubstep. Die beiden Londoner Adam Philips und Ian Carter betreiben ihr eigenes kleines Label Various Productions und ein gut laufendes Tonstudio, mehr lässt sich über die Formation mit dem missverständlichen Namen tatsächlich nicht herausfinden. Ihr erstes Album The World Is Gone ist bebildert mit morbiden erotischen Fantasiezeichnungen, die an die Illustrationen in Oscar Wildes Romanen erinnern. Interviews geben die beiden so gut wie gar keine, wer auf ihrer Platte singt, verschweigen sie beharrlich.

Verwirrung stiften sie wohl gerne. Das Eröffnungsstück Thunnk bollert, eine Stimme erzählt monoton vor bedrohlich zersägten Streicherklängen, das zweite Stück Circle of Sorrow ist eine verstörend schöne Folkballade. Da klampft und klöppelt es nach alter irischer Überlieferung, beinahe denkt man, eine ganz andere CD sei angelaufen. Erst in Hater finden Sängerin und Gangsterfilmakustik näher zueinander, eine hochbrisante Mischung aus Gefahr und zarter Harmonie erwächst.

Mysteriös bleibt der Ursprung der Bedrohung. „Sweet oblivion keeps me alive“ nur das süße Vergessen lässt mich überleben, singt einer in Soho. Das wiederkehrende Instrumentenriff gleicht in seiner schrillen Penetranz fast tongenau einem Motiv im Soundtrack von Stanley Kubricks Eyes Wide Shut. Dort untermalt es wie ein Alarmsignal den Moment der Gefahr inmitten einer leuchtenden Umgebung: Ein Yuppie-Pärchen wird von pornografischen Albträumen verfolgt und gerät in die Kreise einer rätselhaften Gruppensexsekte. Kurz vor der Katastrophe endet der böse Trip während eines Weihnachtseinkaufs mit der verschämten Rückkehr von Saubermann und -frau alias Tom Cruise und Nicole Kidman in ihre heile Welt.

Bei Kubrick bleibt ein unterschwelliger Rest von Beklemmung – Various wollen es deutlicher. Die verzerrten Glissandi aus Beatbox und Synthesizern fordern finster dröhnend, hämmernd, kreischend: Mehr Albtraum! Albträumen gegen die aufgeräumten Kulturlandschaften voll ihrer kalten Kriege, und womöglich auch gegen eine allzu saubere Musikindustrie, deren Verwertungsmechanismen sie sich so vehement verschließen? Sie befeuern ihre Visionen lyrisch aus den Tiefen folkloristischer Traditionen, aus der Mystik und Mythologie des Dunklen und Unberechenbaren in der Begegnung des Menschen mit der Natur, dem Ursprünglichen und sich selbst. Ausgelebt werden diese Begegnungen jedoch auf einer Ebene modernster Klangerzeugung und den zugehörigen posttraditionalistischen, rebellischen Haltungen.

Im Stück Sweetness beschwören Mann und Frau im Duett eine Art schwarze Messe, in der Abschlussballade Fly dreht gar der schwarze Rabe im Walzertakt die letzte Runde durch die untergehende Welt. Mit ähnlich düsteren Selbstfindungsreisen und elektronisch verhextem Modern Folk macht der ebenfalls aus London stammende junge Teufelsgeiger Patrick Wolf seit zwei Jahren von sich Reden. Selbst im kühlen Synthiepop der Achtziger und Neunziger spukten mitunter recht märchenhafte Folkgespenster. Ein sehr britisches Phänomen, erinnert sei an die ehemalige Lemon-Kids-Sängerin und schillernde Solo-Performerin Danielle Dax und ihren Auftritt im Fantasyfilm Die Zeit der Wölfe.

Doch bevor es zu melodramatisch wird, kommt bei Various der Kick aus der Kammer des magischen Dub-Echos und kitzelt den verträumten Fantasten subsonisch am Zwerchfell: Hey, wir sind auf dem Dance Floor! Mag auch gelegentlich zu viel vom Dope die Atmung und die Bewegungen verlangsamen – ein Groove ist ein Groove – und das hier keine Gruftiegrotte.

„The World Is Gone“ von Various ist als CD und Trippel-LP erschienen bei XL Recordings/Indigo

Auf der Website des Vertriebs Indigo können Sie Ausschnitte aller zwölf Stücke des Albums hören

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