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Alles ist Rhythmus

Die Chilenin Dinky tanzt voraus: Ihre Clubmusik lebt von den Zwischentönen im Wumms. Auf „May Be Later“ türmt sie Klänge, deren Herkunft sich nur erahnen lässt

Ist das der Nachbar, der da brabbelt? Die Tür muss mal wieder geölt werden. Oder maunzt die Katze? Jetzt macht sie sich über die Töpfe her. Stimmen, Quietschen, Klappern: Es passiert viel in der Musik von Dinky. Der pochende Puls des Techno ist nur ein Klang von vielen.

Im Minimal-Techno herrscht eine neue Freiheit. Das stete Bum-Bum-Bum-Bum wird von Ellipsen überlagert. Klangschnipsel jeglicher Herkunft gesellen sich zu den guten alten Bekannten, zum geraden Wumms, zum rhythmischen Klavier. Da setzt der Taktschlag auch mal aus, ziehen Blaskappellen um die Häuser.

Der erfolgreiche DJ Ricardo Villalobos nahm sich mit seinen Produktionen einiges heraus und öffnete das Genre. Seine Stücke wurden immer länger und seltsamer, die Tanzenden liebten das. Wie Ricardo Villalobos wurde auch Dinky in Chile geboren, ihr bürgerlicher Name ist Alejandra Iglesias. In New York begann sie eine Karriere als Tänzerin und Choreografin. Am Tage tanzte sie, in der Nacht ließ sie tanzen. Nach dem 11. September 2001 änderten die Vereinigten Staaten ihre Visa-Politik, Dinky musste ausreisen. Seitdem lebt sie in Berlin.

Mehr noch als die Melodien liegen Dinky die Zwischentöne am Herzen. Als Kind hatte sie Klavierunterricht, heute hört sie häufig moderne Klassik. Ihr Album May Be Later sei von dem Pianisten Erik Satie inspiriert, erzählt sie. Sie schätze seinen Umgang mit Disharmonien, die eine Spannung hervorriefen, die im zeitgenössischen Pop oft fehle. Von Satie stamme auch die Idee, kleine musikalische Motive zu wiederholen – heute hilft dabei der Sampler.

Dinky füttert ihren Sampler mit frühem Jazz und Blues aus Chicago und afrikanischer Musik. Und auch wenn der Ursprung der Klänge auf May Be Leter sich meist nur erahnen lässt, liegt Dinky viel an der Tradition der Schwarzen Musik. Ihre Stücke orientieren sich nicht an der europäischen Funktionsharmonik, sondern an Mikrotonalität und Synkopen. Viele basieren auf orientalischen Skalen. Ihr Keyboard habe da so einen Schalter, erzählt sie, den habe sie einfach umgelegt, weil ihr der exotische Klang gefiel.

So klingt das Album ebenso wegweisend wie tanzbar. Durch Mars Cello eiert ein verfremdeter Gong, kehlige Stimmen wispern insektenhaft, Schaben und Rascheln erzeugen eine unheimliche Stimmung. Der stete Puls wird von Handklatschen und einem vibrierenden Bass begleitet. Burdelia klingt wie eine Samba-Schule im Weltall: Polyrhythmen umtänzeln Fiepgeräusche. Anders als Ricardo Villalobos erzeugt Dinky Dichte. Ihre Stücke sind sehr konzentriert. Hier mäandert nichts, hier wird geschichtet. Ein richtiges Lied gibt es auch, auf She Is Moving klingt der Sänger Big Bully wie Jamie Lidell.

Manchmal erinnert May Be Later an Brian Enos und David Byrnes Klassiker der Klangcollage, My Life In The Bush Of Ghosts. Eno und Byrne schufen damals im Jahr 1981 ein neues Verständnis von Weltmusik: Alles ist Klang! Aus allem lässt sich Musik machen! Die Geräusche, Stimmen und Instrumente aller Welt existieren gleichberechtigt nebeneinander. Dinky macht sich dieses Verständnis zu eigen: Man kann in ihre Stücke eintauchen und immer wieder Neues entdecken. Und man kann dazu tanzen, denn alles ist Rhythmus.

„May Be Later“ von Dinky ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Vakant/Rough Trade.

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Klingeln im Origami-Saustall

DJ Scotch Egg zwängt Bach, Free Jazz und Stockhausen in seinen Gameboy und unterlegt das Gequängel mit harten Rhythmen. Unerträglich? Von wegen! Es macht sogar Spaß

Drumized DJ Scotch Egg

Elvis ist tot. Johann Sebastian Bach lebt. Er ist Japaner, wohnt in England und spielt leidenschaftlich Gameboy. Am Wochenende fährt er gerne mal nach Rotterdam und treibt sich auf Gabber-Partys herum. Gabber, das ist knallharter Techno, der Klang des Weltuntergangs.

Schuhe aus – hier kommt DJ Scotch Egg! Er ist weder Schotte noch DJ. Wahrscheinlich ist er nicht einmal ein Ei. Dafür ist er Vertreter einer Musikgattung, die sich KFC-Core nennt – in Anlehnung an den Hühnchen-Schnellbrater Kentucky Fried Chicken. Wer will uns denn so in die Irre führen? Es ist Shigeru Ishihara, ein in Brighton gestrandetes Schlitzohr. Wäre er Architekt, er würde Brücken bauen.

Er liebt die Bach’sche Fuge, die Metal-Experimente des John Zorn, den Free Jazz, Karlheinz Stockhausens abrupte Klangfarbenwechsel und den Klingelton. Seine Musik komponiert DJ Scotch Egg am Gameboy. Sie hört sich an, als spielte man mit zwei Fingern in der Steckdose ein Computerspiel, während nebenbei der Fernseher läuft, das Handy klingelt, ein Baby schreit und der Nachbar seine Leidenschaft für den Schlagbohrer entdeckt. Einige werden es Folter nennen, für andere ist es Pop mit durchgedrücktem Gaspedal. DJ Scotch Eggs Album Drumized dauert keine 27 Minuten. Wenn es ausklingt, ist es, als sei ein Spuk vorbei.

Im Musikvideo zu Scotch Hausen posiert Ishahara als Dirigent eines Daddel-Orchesters. Anstelle von Geigen und Bratschen haben die Musiker Gameboys in der Hand. Eine Eintagsfliege? Von wegen: Drumized ist bereits sein viertes Album, er hat viele Anhänger und ist dauernd auf Tournee. Von Roskilde bis Lowlands trat er bei allen großen Festivals auf, denn sein Klang fasziniert Tausende. Unerträgliches macht plötzlich Spaß, wenn der DJ mit vier seiner Klingelkisten hantiert. Die gesunde Mischung aus Akribie und Freiheit, Dreistigkeit und Humor ist seine Kunst. Ein Origami-Saustall. Game Over.

»Drumized« von DJ Scotch Egg ist als CD und LP erschienen bei Load Records.

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Ein tiefergelegtes »Muuuhh«

Das schwedische Duo Minilogue zaubert Technoides aus alten Hüten. Leise wummern die Ambientfantasien mit großem Panorama, allerlei Viechern und übersinnlichen Kräften.

Minilogue Animals

Im Film Die Reifeprüfung mit Dustin Hoffman gibt es diese wunderbaren Szenen vor dem Aquarium in Benjamins Zimmer und im Swimmingpool der elterlichen Villa. Der heimgekehrte Sohn und erfolgreiche College-Absolvent starrt in die Stille seines Aquariums, angeödet von Moral und Luxus zwischen weiß lackierten Möbeln, weltfremd unter der ewig verschwenderischen kalifornischen Sonne. Er dümpelt mit Luftmatratze oder im Tauchanzug durch den Pool, unter Wasser ist Schweigen, die einzige ihm erträgliche Antwort auf die innere Leere. Und die späteren Poptroubadoure Simon & Garfunkel schmettern The Sound of Silence dazu.

Könnte man den Subtext dieser Szenen zwischen den Liedzeilen und Filmbildern herauslösen und in eine instrumentale Zweitstimme übersetzen, er klänge wie die Musik von Minilogue. Sie verweben den Schrei der Stille zu einem fliegenden Teppich aus Minimal-Techno, bunt wie eine Popballade, organisch wie manches Geräusch in der Musique Concrète, elektronisch strömend, schwebend und fantastisch wie Ambientmusik.

Aus der Underground-Szene Malmös kommen Minilogue, bisher haben sie ihre implosiven Clubhits auf Labels wie Wagon Repair und den Kölner Traum Schallplatten veröffentlicht. Das Doppelalbum Animals ist nun beim Geldadel der Clubkultur, bei Cocoon Recordings, erschienen.

Wenn zu Beginn Yesterday Bells geläutet werden, muss das wohl etwas zu bedeuten haben. Die erste CD kündet zunächst von dem, wofür die zwei Schweden seit Jahren im kleinen Kreis bekannt sind. Ihre angenehm weiche Vierviertelgrundierung mit den minimalen Farbklecksern passen genau ins Bild der frühen Neunziger-Elektronika. Alles bloß Nostalgie?

Da kommen Minilogues Erfahrungen ins Spiel – und die Tiere! Sebastian Mullaert lernte klassische Instrumente und gab schon als Achtzehnjähriger Geigenunterricht, später machten er und Marcus Henriksson sich als Trance-DJs Namen. Im zweiten Stück Cow, Crickets And Clay wird ein tiefergelegtes »Muuuhh« als künstliche Synchronstimme eingesetzt, ein comicartiger Ausreißer aus dem Gleiten in minimaler tänzerischer Euphorie. Das Giant Hairy Super Monster trifft auf die »Sicht eines Jonglierballs« und seltsame Fantasiewesen, die Minilogue als visuelle Gestaltung ihrer Musik verstehen und in Hüllenentwürfen und kleinen Videos auch auf ihrer Website präsentieren.

Musikalisch ist das dem Schaffen des ehemaligen Kölner Labelkollegen Dominik Eulberg nicht unverwandt, doch wo seine Flora und Fauna trotz Naturthema die nervöse Unruhe urbaner Klangprägung nicht leugnen kann, strahlen Minilogues Stücke nordische Gelassenheit jenseits der Tag- und Nachtgleiche aus. Stets klingen die Rhythmen nach einem flotten Spaziergang mit den Händen in den Hosentaschen, wie ein verträumter junger Kerl, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Das ist die Intimität, die ein Blick zurück – vorbei am Sehen und Gesehenwerden auf dem Tanzboden – braucht, um mit altmodisch quäkendem Keyboardgeleier und knisternder Basstrommel neu zu überzeugen.

Leise sumsen 33.000 Honeybees, eigentlich hört es sich nur nach einem Bienchen an, ein in Zeitlupe angeworfener winziger Flugmotor, Rotorblätter aus Elfenlicht. Bei den elektronischen Quietschern und Knursplern geht es weniger um das Geräusch in seiner analytisch differenzierbaren Künstlichkeit, als um das sinnliche Hineinhören in Stimmfrequenzen, Lautbildungen, Vokalverschiebungen. Es sind die Bewegungen eines Insekts durch die Lupe betrachtet, außerhalb des Zeitflusses. Besonders in den Stücken der zweiten CD ist das Zeitgefühl aufgehoben, wandelt der Hörer auf wallenden Synthesizer-Glissandi durch übereinandergelagerte Erinnerungen und ständig ihre Form auflösende Zeiträume. Eine Steel Guitar weht aus der Ferne durchs offene Fenster, wie weggezoomt ist plötzlich die Lupe, und riesige Panoramen öffnen sich im Hörkino der Stücke Windows, City Lights, In The Shade Of The Sun und Even The Wind Seemed In Deep Sleep.

Die tatsächliche Bildabfolge in den Videoclips zu Old Water und Hitchhiker‘s Choice läuft dafür genau umgekehrt zum musikalischen Effekt relativ zu schnell. Aus Minilogues defokussierendem Blickwinkel verschwindet das Essenzielle so flink, wie die gezeichneten Comictierchen ihren Charakter wechseln und die Bildchen umblättern. In dem Stück Six Arms And One Leg fabuliert eine Stimme im Tonfall des Erzählers aus dem Skandalhörspiel War Of The Worlds von Tieren mit sechs Armen und nur einem Bein. Sie sind ohne Augen, und doch nicht blind, sie stehen im Licht und sind doch unsichtbar. Auch in Kinderbilderbüchern wird durch Umklappen nur einer Bildhälfte aus dem Schwein und der Kuh ein fantastischer Zwitter – Minilogue spielen auf ähnliche Weise mit dem Wesen des scheinbar Lebendigen und seinem Verhältnis zur elektronisch erzeugten Kunst.

„Animals“ von Minilogue ist als Doppel-CD und Doppel-LP (mit ausgewählten Stücken) erschienen bei Cocoon Recordings.

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Detroit ertasten

Der Luxemburger Francesco Tristano hat an seinem Konzertflügel ein Technoalbum aufgenommen. „Not For Piano“ zeigt, wie Klaviermusik auch klingen kann.

Francesco Tristano Not For Piano

Francesco Tristano-Schlimé ist ein klassischer Pianist. Kompositionen von Bach, Ravel und Berio hat er aufgenommen, aber auch Alben mit eigenen Stücken. Irgendwann durchbrach der 26-Jährige die Konzertroutine und begann zu improvisieren. Vor zwei Jahren fügte er seinem Repertoire ein überraschendes Stück hinzu: Derrick Mays Strings Of Life, ursprünglich im Jahr 1987 unter dem Projektnamen Rhythim Is Rhythim veröffentlicht. Es ist eines der frühen Stücke des Detroit-Techno.

Jetzt nahm Tristano ein ganzes Techno-Album auf, Not For Piano heißt es, zu hören ist fast nur das Klavier. Die Idee vom Techno ohne Techno-Beat hatte Derrick May bereits mit einem Remix seines eigenen Stücks verfolgt. Auf dem im Jahr 1991 erschienenen Sampler RetroTechno/DetroitDefinitive ist Strings Of Life in einer auf das Thema reduzierten Version zu hören. Es ist ein hypnotisches Stück Klaviermusik, zu dem man tanzen kann. „Es kann sein, dass ich zuerst diese Version des Stücks gehört habe“, erzählt Francesco Tristano, „und dass das der Auslöser für mein Album war. Ich bin ja nicht mit Detroit-Techno groß geworden, sondern habe die Sachen erst nachträglich kennengelernt.“

Das Faszinierende an Not For Piano ist nicht die Idee, Techno auf dem Klavier zu spielen. Die hatten auch andere schon, Maxence Cyrin zum Beispiel. Doch wo Cyrin die melodischen Anteile des Techno als Ausgangspunkt seiner Modern Rhapsodies nimmt, arbeitet sich Tristano an dem zentralen Moment des Techno ab: dem Rhythmus.

„Das Album heißt Not For Piano, weil ich darauf Musik spiele, die nicht für das Piano gedacht ist. Es ist sozusagen ein Piano-Album mit einem Augenzwinkern“, sagt er. „Der Hauptunterschied zwischen elektronischer Musik und Klavier-Musik ist ja, dass man bei programmierter Musik jeden Klang genau festlegen kann. Das Klavier hingegen ist unkontrollierbar.“ Aus diesem Kontrast beziehen seine Interpretationen ihre Faszination. Er fordert die vermeintliche Unvereinbarkeit des Techno mit dem klassischen Flügel heraus.

„Das Album wurde wie ein Klassik-Album aufgenommen. Alessandra Galleron, die Toningenieurin, arbeitet sonst für das Klassiklabel Naxos. Ich habe dann zusammen mit dem mexikanischen Techno-Produzenten Murcof beim Mastering – für das wir uns sehr viel Zeit genommen haben – den Klang präzisiert und kleine Effekte hinzugefügt“, erklärt Tristano. Die Effekte ähneln elektroakustischen Kompositionen, in denen die ursprüngliche Klangquelle elektronisch verfremdet wird.

Auf Not For Piano finden sich auch drei Coverversionen. Neben Strings Of Life sind dies Overand von Autechre und The Bells von Jeff Mills. Andover heißt das Stück von Autechre in Tristanos Bearbeitung, er transferiert ihren vertrackten Ambient in eine dunkel schwelende Etüde. Aus den delikaten Beats des Originals werden tropfende, repetitive Klaviermuster, dezent unterlegt mit flächigen elektronischen Klängen. Andover klingt wie eine sanfte Version des klassischen Minimalismus. „Techno ist Minimalismus“, sagt Tristano. „Ein Ritual. Maschinenmusik, aber das Gefühl ist organisch.“

Seine Version von The Bells unterstreicht dies. Die wuchtigen Klavierlinien und die Härte des Anschlags lassen an Charlemagne Palestine denken. Auch Cecil Taylors Definition des Klaviers als Perkussionsinstrument („88 tuned drums“) kommt einem in den Sinn. Aber The Bells klingt nicht nach freiem Jazz, Tristano entwickelt das Material wie ein klassischer Komponist. „Die ganze Idee ist, das Ausgangsmaterial zu nehmen und es dann graduell zu verändern, sodass man es am Ende nicht wiedererkennt. In der ZEIT gab es kürzlich einen Artikel über Giacinto Scelsi. Es ging darum, wie er in jungen Jahren mit lediglich einer Note gespielt hat und welche Möglichkeiten in dieser Begrenzung liegen.“

Tristanos Eigenkompositionen sind üppiger. Two Minds One Sound könnte eine Latin-House-Nummer zugrunde liegen. Ausnahmsweise nimmt er Schlagwerk, Violine und die Stimm-Improvisationen von Raimundo Penaforte hinzu. Barcelona Trist erinnert an eines der ruhigeren Solo-Stücke Brad Mehldaus. Harmonischer Jazz und klassische Etüde reichen sich die Hand. Alles dreht sich um den Rhythmus. Wie früher auf Strings Of Life, aber jetzt kommen Melodie und Beat aus dem Klavier.

„Not For Piano“ von Francesco Tristano ist als CD erschienen bei Infiné/Discograph.

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Vier aufs Kopfsteinpflaster

Das kanadische Trio Cobblestone Jazz bringt dem Techno warme Klänge – und endlich wieder improvisatorischen Esprit nach Berlin.

23 Seconds Cobblestone Jazz

Am Anfang ist der Odem der Maschinen. Ein Stöhnen wie aus zeitlosen Ursphären haucht aus dem Vocoder im Eröffnungsstück The Waiting Room. Es führt ein in eine Welt analoger Vierviertelschläge und organisch brummelnder Elektronik. 23 Seconds heißt das Debüt des kanadischen Trios Cobblestone Jazz, der Titel betont nicht ohne Grund die Emphase des Augenblicks inmitten der sich ewig schlängelnden Technovibrationen.

Einer der drei Kanadier, Danuel Tate, ist studierter Pianist und spielt seit seiner Jugend in Jazzbands. Fern der Fertigmuster aus dem Kochstudio der Computerklänge vereinfacht er mit seinem Keyboardspiel die komplexen Harmonien des Jazz zu springlebendig hüpfenden Elektrohymnen. Das Stück Lime In Da Coconut ist so ein Knaller, gebaut aus einer einzigen Melodie, um die herum er variiert und phrasiert, bis einem auch ohne Diskokugel die Lichter vor den Augen tanzen. Die beiden anderen im Bunde sind der DJ und Produzent Tyger Dhulas und der Technostar Mathew Jonson.

Die Unberechenbarkeit museumsreifer Drumcomputer gibt bei Cobblestone Jazz den Ton an. Sie haben einen Hang zu den schönsten Traditionen der elektronischen Musik und verstehen sich aufs Einfache im Überschwang der technischen Möglichkeiten. In 23 Sekunden kann viel passieren, vielleicht ist das die Botschaft des Albumtitels.

Schon bei der fast 15 Jahre zurückliegenden Kooperation mit Juan Atkins und Moritz von Oswald für die Platte Jazz Is The Teacher forschte Mathew Jonson an der Improvisationsfähigkeit der Technomusik. Nun steht wieder Berlin im Fokus des transatlantischen Austauschs, hier befinden sich das Studio von Cobblestone Jazz und Jonsons Wohnsitz.

Wenig spektakulär, doch umso ergreifender knatschen gemütliche Basssynkopen aus den alten Synthesizern, mit dem Track W erobern sie gerade die Clubs weltweit. In einem Dreieck aus Jazz, House und Techno krabbeln die sparsamen musikalischen Ideen wie elektrifizierte Ameisen hin und her, immer wieder aufgescheucht durch Vocoder im Dauereinsatz. Im Morphing der Echos und Klangverschiebungen transzendiert diese Beweglichkeit in ein unaufgeregtes Fließen und Schweben, feenartig verzerrt umwehen klassische House-Chöre und künstliche Streicher das wummernde Beatgerüst. Trance nannte sich diese atmosphärisch suggestive Musik einmal, doch Cobblestone Jazz machen keinen Kuschelrock für den Techno-Wühltisch.

Sie sind keine Nesthocker, die – überdrüssig der computerisierten Klangästhetik der letzten zehn Jahre – an den heimischen Ofen zurückwollen. Ihnen ist die analoge Produktionsweise ein musikalisches Ziel, dem sie in der Improvisation nachgehen. Ungehemmt darf sich der Hörer den eigenen Vorstellungen hingeben, wie die vier satten Grundschläge des Techno auf das alte Kopfsteinpflaster vor der Jazzbar trommeln, bevor sie den Clubtanzboden erreichen.

23 Seconds ist ein Doppelalbum, das ist keineswegs vermessen. Unwiderstehlich toben auf der zweiten CD die beiden Vorjahreshits India In Me und Dump Truck, kontrapunktisch zu einer 40 Minuten langen, einem Jazz-Konzert gleichenden Live-Aufnahme.

„23 Seconds“ von Cobblestone Jazz ist als Doppel-CD und Dreifach-LP erschienen bei !K7/Wagonrepair.

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Klangteppich, himmelwärts

Michaela Melián dreht die Musik auf ihrer zweiten Solo-Platte „Los Angeles“ um einen Rhythmus, der nicht mehr da ist. Aber man vermisst ihn gar nicht.

Michaela Melian Los Angeles

Michaela Melián gehört zur Münchner Band Freiwillige Selbstkontrolle, kurz FSK. Seit den späten Siebzigern haben sie von New Wave über Americana bis Post-Rock eigentlich jedes Genre erkundet, zuletzt nahmen sie ein Album auf mit dem Pionier des Detroit Techno, Anthony Shakir. Der Minimalismus von Velvet Underground hat die Band geprägt: Lieder entstanden aus repetitiven Kürzeln, die Texte waren häufig Auflistungen und wurden kühl vorgetragen. Die Textur war wichtiger als die Dramaturgie. So ist es nicht erstaunlich, dass Michaela Melián nun beim minimalen Techno angelangt ist.

Los Angeles ist ihr zweites Soloalbum, das erste hieß vor drei Jahren Baden-Baden. Beide Alben schließen mit einem Stück von Roxy Music. Auch diese Band war für FSK immer eine wichtig, sie liebte das Künstliche. Ihr ambivalenter Vortrag machte es schwer, zwischen Ironie und Affirmation zu unterscheiden. Der spätere Erfinder der Ambient-Musik, Brian Eno, war anfangs Mitglied von Roxy Music.

Melián interpretiert nach A Song For Europe nun Manifesto, zum zweiten Mal ein Stück aus der Zeit nach Brian Eno. Manifesto erschien im Jahr 1979, Eno steckte zu der Zeit mitten in seinem Ambient-Projekt, Roxy Music erreichten gerade ihre Hochglanz-Pop-Phase, die so einflussreich in den Achtzigern werden sollte. In ihrer Version führt Melián die späten Roxy Music wieder mit Eno zusammen. Die seltsamen Klänge der Synthesizer und die Streicher-Arabesken erinnern an das Experimentelle, das mit Eno aus dem Klang der Band verschwand.

Die Musik von Michaela Melián lädt zur Spurensuche ein, ihr geht es um Kontexte, Referenzen und Zitate. Sie arbeitet als Künstlerin, in ihren Werken verbindet sie oft Objekt und Klang. Auch die Stücke auf Los Angeles sind für Ausstellungen entstanden. An diese ursprüngliche Verwendung erinnern Namen wie Föhrenwald (ein Hörspiel, das sie für den Bayerischen Rundfunk produzierte) und Locke-Pistole-Kreuz. Zudem basieren alle Stücke auf Samples, die auf die Kunstwerke verweisen, manchmal ist es nur das Knacken einer Platte. Melián lädt den Hörer ein, die Referenzen zu verfolgen.

Er kann es auch lassen und sich einfach in die Musik vertiefen. Meliáns FSK-Kollege Carl Oesterhelt hat wie schon bei Baden-Baden die Elektronik bedient, Melián spielt Cello, Bass, Ukulele, akustische Gitarre, Orgel und Melodica. Sie webt einen Klangteppich voller kleiner Details, der in die Wolken davonzuschweben scheint.

Los Angeles klingt, als sei es um einen stumpfen Techno-Beat herum entstanden, der im letzten Moment wieder entfernt wurde. Um diese Leerstelle drehen sich die Stücke. Oft erwartet man, dass ein harter Rhythmus einsetzt. Beim sechsten Stück Stift tut er es tatsächlich. Man hat ihn nicht vermisst, man möchte ihn jetzt nicht missen. Er ist der Herzschlag, der uns auch dann begleitet, wenn wir ihn nicht wahrnehmen.

„Los Angeles“ von Michaela Melián ist als CD erschienen bei Monika. Zwei Stücke des Albums sind in längeren Versionen auf der Vinylmaxi „Convention Manifesto“ erhältlich.

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Tanzen in der Tropfsteinhöhle

Das erste Album der Pariser DJane Chloé führt den Hörer in klangliche Tiefen. Unser Autor staunt, welch detaillierte Schraffuren, welch geheimnisvolle Konturen es hier zu entdecken gibt.

Chloé The Waiting Room

Es geht los mit einem kurzen Stück leichter Elektronik, das so ähnlich auch in den Achtzigern entstanden sein könnte. Zu hören ist ein Reggae-Shuffle und skurrile Klänge, die an die deutsche Elektroband Der Plan erinnern. The Waiting Room ist das erste Album von Chloé Jane Thevenin, kurz Chloé. Als DJane machte sie im Pariser Lesbenclub Le Pulp auf sich aufmerksam.

Der spielerische Beginn täuscht. Wir stehen am Anfang einer Entdeckungsreise, die uns in ungeahnte Tiefen führt. Wie ihre DJ-Kollegin MIA aus Berlin nutzt Chloé das unerschöpfliche Klangarchiv der achtziger Jahre. Nicht, um ihrem Minimal-Techno eine nostalgisch glitzernde Elektro-Oberfläche zu verpassen, ihre Bezugspunkte sind vielmehr die Kühle von Throbbing Gristle und das Experimentelle der Biting Tongues. Chloé nutzt diese Klänge, um die rigiden Strukturen des Minimal zu brechen.

Das erstaunlichste Stück auf The Waiting Room ist Around The Clock. Das Ticken einer Uhr gibt den Rhythmus, eine Akustikgitarre wird geschrammelt, und Chloé singt die immergleichen Worte. Schnarrende Laute brechen den Beat auf, die Uhren vervielfältigen sich. Irgendwann beginnen eine Posaune und ein Saxofon, den Marsch zu blasen.

In vielen ihrer Stücke passiert so viel, dass man nicht mehr von Minimal-Techno sprechen mag, das ist dann schon Micro-House. Chloé ist es wohl gleich, wie man es nennt. Sie wühlt in den alten Klangarchiven und sucht ihre eigene Sprache. Sie vertieft sich in kontinuierliche Mutationen von Rhythmus und Klangverschiebungen. Stellenweise irritieren ihre merkwürdigen Halleffekte, es klingt, als stünde man in einer Tropfsteinhöhle.

„Beneath the sea / Below the ground / There is no sorrow“, singt Chloé in einem Stück, begleitet von einer gezupften Akustikgitarre und einem beschleunigten Joy Division-Bass. Drum herum schwirren elektronische und natürliche Klänge, und ein gelegentlich brummender Bass verspricht Erdung. The Waiting Room kann einen zunächst deprimieren. Doch wer sich drauf einlässt, wird fasziniert sein: Chloé führt den Hörer in klangliche Tiefen, und er staunt, welch detaillierte Schraffuren, welch geheimnisvolle Konturen es hier zu entdecken gibt.

Arbeiten übliche Tanzstücke auf Höhepunkte hin, strebt Chloé zu immer neuen Gründen. Das Album ist ein langsamer Abstieg. Alleine lässt sie einen nicht, immer haben die Stücke auch etwas Vertrautes, etwas Freundliches. Man muss es nur finden.

„The Waiting Room“ von Chloé ist bei Kill The DJ Records erschienen.

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