Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Am Rande der Party

 

Über die Jahre (22): Wie minimaler Techno funktioniert – die Berliner Medienkünstler Rechenzentrum zeigten es im Jahre 2001 mit einer Platte für John Peel. Sie klingt immer noch gut.

Rechenzentrum Zhe John Peel Sessions

Am besten setzt man sich auf den Boden und rückt die Lautsprecher an sich heran. Einen neben das linke Ohr, einen neben das rechte. Dann lässt man die CD laufen, dreht die Lautstärke weit auf und schließt die Augen. Auf der Innenseite der Lider beginnt ein Film – manchmal gruselig, dann düster, immer intensiv. Man hält die Luft an und lauscht.

Als das Album The John Peel Session von Rechenzentrum im Jahr 2001 erschien, war es außergewöhnlich für das Genre. Es richtete sich nicht an Clubs und Tanzwillige, das Album klang nach den Rändern der Party. Rechenzentrum machten viel aus wenig, auch heute noch ist es eines der besten Minimal-Techno-Alben.

An der Oberfläche sind die Stücke klar, zurückhaltend und geordnet. Wie eine Hand legt sich die Musik auf den Kopf des Hörers und hält ihn ruhig. Regelmäßige Elektrostöße kontern die Ruhe, von Innen her zwirbelt und treibt und drückt es. Das Konzept liege darin, sagt Marc Weiser von Rechenzentrum, „möglichst viele Klänge, die normalerweise nicht einer Funktionalität unterliegen, miteinander zu kombinieren“. Versteht man das, dann versteht man, wie Techno bei Rechenzentrum funktioniert.

Das erste Mal gemeinsam aufgetreten sind Christian Conrad und Marc Weiser bei der documenta X im Jahr 1997. Seitdem reisen sie gemeinsam um die Welt, gerne auch mal als Vorzeige-Deutsche für das Goethe Institut und oft in Kooperation mit anderen Musikern. Ihr erstes Album erschien im Jahr 2000, daraufhin lud der englische Radiomoderator John Peel sie ein, Stücke für seine legendäre Radiosendung aufzunehmen. Nach nur drei Jahren als Band wurden sie in den Musikadel aufgenommen, neben Rockgrößen wie Led Zeppelin, Queen, Nirvana und den White Stripes. In ihrem eigenen Studio spielten die beiden Musiker sieben neue Stücke für die BBC ein, erstmals nahmen sie neben Geräuschschnipseln von ratternden Eisenbahnen, bedrohlich klingenden Kirchenglocken oder hallend tropfenden Wasserhähnen auch Instrumente und Gesang zur Hilfe. Das macht die Stücke rund, sie lassen sich nicht so einfach als Experiment abtun. Manchmal möchte man zwischen den Lautsprechern aufspringen, um die Hüften zu schwingen. Veröffentlicht wurden die für die Session aufgenommenen Stücke mit vier weiteren im folgenden Jahr auf dem Berliner Label Kitty-Yo.

Rechenzentrum sind eher Medienkünstler als eine richtige Band. Zur Musik treten Videoinstallationen und Filmschnipsel von Lillevän. Bei Konzerten ist das ein Gesamterlebnis. Ihre letzte CD Director’s Cut gab es zusammen mit einer DVD, auf der man sich das ganze Album als Film anschauen konnte, auch auf The John Peel Session gibt es Multimedia. Das zu Sehende ist immer abstrakt, es sind keine Musikvideos im klassischen Sinn. Manchmal mutet es an wie ein Ersatz psychoaktiver Substanzen.

The John Peel Session ist eine Platte, die den bebrillten Kunstmagazinleser genauso fesseln kann wie den aufgeputschten Tänzer. Anhänger elektronischer Musik hielten sie damals für eine Offenbarung, viele andere Hörer führte sie an elektronische Musik heran.

„The John Peel Session“ von Rechenzentrum ist im Jahr 2001 bei Kitty-Yo erschienen, im Herbst kommt ein neues Album der Gruppe. „Director’s Cut“ wird dieser Tage wiederveröffentlicht.

Hören Sie hier „Ahab“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik