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Eintauchen, dann ausatmen

In den vergangenen Jahren beschallte der Däne Raz Ohara die Berliner Clubs mit harten Rhythmen. Sein neues Album mit dem Odd Orchestra kommt behutsamer daher, gefällig gar.

Raz Ohara

Es gibt so viele Geschichten über Raz Ohara. Im Alter von 18 Jahren kam er aus Dänemark nach Berlin, erwanderte sich lebenshungrig die Stadt und ihre Menschen und bezog ein Zimmer über einem Jazz-Club. Er scharte Musiker um sich, spielte mit ihnen. Er verlor sie wieder, weil sie starben oder verrückt wurden. Raz Ohara ist ein Künstler, und so erzählt man über ihn.

Zwei Alben nahm er für das Label Kitty-Yo auf. Das zweite, The Last Legend, entstand im Jahr 2001. Kurz zuvor war sein Vater, ein Seemann, ertrunken. Raz Ohara entdeckte nun die Clubszene Berlins und begann, Techno-Konzerte zu geben. Er veröffentlichte unzählige Maxis. Im vergangenen Jahr reiste er mit dem Elektronik-Musiker Apparat um die Welt.

Sein neues Album nahm er mit Orchester auf, wenn auch nur mit einem ganz kleinen. Oliver Doerell ist das Odd Orchestra, bislang arbeitete er mit dem Ambient-Projekt Dictaphone. Ohara und Doerell schickten sich im vergangenen Jahr Musikfragmente hin und her und bastelten daraus schließlich in einem kleinen Berliner Studio ein Album. Zeitweise hauste Ohara zwischen den Gerätschaften.

Das Album trägt keinen Titel, auf der Hülle steht einfach nur Raz Ohara And The Odd Orchestra. Im Mittelpunkt der elf gefühlvollen Elektropopstücke steht Oharas Stimme. Kürzlich verfeinerte sie das Album Walls von Apparat. Diese Stimme kommt einem nah. Sie klingt, als singe Ohara mit großen, offenen Augen. Auf den älteren Platten fiel sein lautes, hektisches Einatmen auf, das hat er sich fast abgewöhnt. Stattdessen hört man nun beseeltes Ausatmen.

Den Gesang umgeben Klavier, Streicher, Gitarre und Rhythmen, die erzählen eigene Geschichten. Alles hier klingt gelassen, ja gefällig. Man kann in diese Musik eintauchen, man kann es ebenso gut lassen. Am Ende der Lieder stehen weder Ausrufe- noch Fragezeichen. Sie sind einfach da, drängen sich nicht auf und überfordern den Hörer nicht.

Erschienen ist das Album bei dem Berliner Technolabel Get Physical, offensichtlich orientiert man sich dort neu. In seiner Pressemappe stellt die Plattenfirma Raz Ohara als einen entrückten Künstler vor. Er spricht bedeutungsschwere Sätze und lässt den Blick schweifen. Das steht ihm gut. Raz Ohara passt zu seiner Musik. Diese behutsamen, hübschen Poplieder könnten vielen gefallen.

Das unbetitelte Album von Raz Ohara And The Odd Orchestra ist erschienen bei Get Physical Music/Rough Trade.

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Sternzeichen Wollmaus

Scout Niblett ist einfach bezaubernd. Mal trägt sie ihre Lieder sanft vor, dann stampft sie mit den Stiefelchen. Auf ihrem neuen Album „This Fool Can Die Now“ hilft ihr der Folksänger Bonnie „Prince“ Billy.

Scout Niblett This Fool Can Die Now

Scout Niblett sieht aus wie eine Figur von Astrid Lindgren. Wären ihre Füße schmutzig, ihre Nase rotzig und ihre Knie aufgeschlagen, man würde sich nicht wundern. Sie ist bezaubernd.

Gerade hat sie ihr viertes Album This Fool Can Die Now veröffentlicht und ist auf Tournee. In Berlin steht die britische Sängerin, die in den USA lebt, mit roten Wollstrumpfhosen auf der Bühne, sie kräuseln sich an den Knien. Sie kratzt sich unbeholfen am Kopf, die rot-weiße Fender-Gitarre sieht riesig an ihr aus. Die ungekämmten Haare fallen schützend um ihr rundes Gesicht. Wenn sie mit den Stiefelbeinchen auf den Boden stampft, streichen sie über das Mikrofon.

Scout Niblett fühlt sich wohl auf der Bühne. Sie redet mit dem Publikum über Sternzeichen und Lieblingsautos, wirft ihren Mantel neben das Schlagzeug und bewegt sich, als liefe sie durch ihre Studentinnen-Bude. Es ist, als läge man unter dem Bett neben Wollmäusen und lauschte, wie die junge Dame sich zwischen zwei Vorlesungen freisingt. Mal säuselt sie vom Paradies, mal schreit sie und freut sich über ihre Kraft. Sie braucht nicht die Gesten eines Popstars und kein elaboriertes Spiel der Instrumente, nur den Mut zu schiefen Tönen. Sie lässt den Hörer ganz nah ran, an ihre Musik.

Die Lieder sind roh. Man hört die Stimme, die mal sehr schön und weich ist, mal schrill und enervierend. Dazu spielen Schlagzeug oder Gitarre, manchmal beides. Alles ist simpel gemacht, manche Zeilen singt sie einfach immer wieder: „I’m sick and tired of being sick and tired“, heißt es in Dinosaur Egg. Ihr abwechslungsreicher Gesang erinnert hier und da an PJ Harvey, nie jedoch klingt sie ganz so verloren und verhungert wie die Kollegin. Scout Niblett singt wie eine, die die Liebe kennt, auf Pressefotos posiert sie auch mal mit Kaninchen im Arm.

Ihr erstes Album nahm die damalige Kunststudentin im Jahr 2001 auf. Seit ihrer zweiten Platte arbeitet sie mit dem Produzenten Steve Albini zusammen, sein Name steht für raue, direkte Aufnahmen. Für This Fool Can Die Now gewann die Sängerin außerdem den Folksänger Bonnie „Prince“ Billy. Er begleitet sie auf vier Stücken, zwei davon sind Interpretationen von Lieder Marilyn Monroes und Van Morrisons. Der Single Kiss verleiht seine Stimme eine väterliche Ruhe, zusammen mit spärlichen Streichern bringt sie etwas Raum zwischen Musiker und Hörer. Man dankt es ihm, schließlich kann man ja nicht ewig unter Scouts staubigem Bett liegen.

„This Fool Can Die Now“ von Scout Niblett ist als CD und LP erschienen bei Too Pure/Beggars Banquet.

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Wo die Kätzchen tanzen

In Berlin an der Spree liegt die Bar25. Die Nächte sind hier immer zu kurz und die Musik ganz fabelhaft. Jetzt gibt es das elektronische Lagerfeuergefühl auf CD.

Ernte25 Bar25

Die Bar25 in Berlin ist ein Freizeitpark für Menschen ohne Zeitgefühl. In der Holzhütte an der Spree treffen sich an den Sommerwochenenden Tanzfreudige aus aller Welt und bleiben bis zum frühen Morgen. Es gibt viel zu erleben auf der Ranch: schaukeln in der großen Pappel, zu fünft im engen Fotoautomaten posieren, eine Schlacht mit 250 kg Konfetti in der Manege. Leicht vergisst man, dass der Montagmorgen naht. Wer es nicht nach Hause schafft, mietet sich einen kleinen Holzbungalow im Garten.

Die Musik zum vier Tage währenden Wochenende gibt es nun auf der Kompilation Ernte25 zu hören. Musiker aus dem Umfeld sangen der Betreibern der Bar 17 Stücke ins Poesiealbum. Martin Gretschmann alias Console alias DJ Acid Pauli ist einer von ihnen, er kam schon des Öfteren in den Genuss des Exklusiv-Urlaubs an der Spree. Ein anderer ist der Däne Raz Ohara, er nähme gerne mal einen Whiskey an der Bar, heißt es. Gravenhursts Nick Talbot ist mit seiner Zweitband Bronnt Industries Kapital vertreten. Daneben stehen viele unbekannte Künstler, Pilocka Krach, K-Chico und La Deutsche Vita aus Berlin, They Came From The Stars I Saw Them und John Callaghan aus Großbritannien.

Die Auswahl auf Ernte25 ist so vielseitig wie das Programm der Bar und ihr Publikum. Hier speisen Schlipsträger das beste Rinderfilet der Stadt, tänzeln Hippies barfuß über die Holzbohlen, schnurren Selbstdarstellerinnen in Kätzchenkostüm. In den frühen Morgenstunden wärmen sich alle am Lagerfeuer. Die Musik auf der CD reicht von experimentellem Elektrofunk über plingeligen Techno und eingängigen Computerpop bis hin zu groovendem Elektropunk. All das geht erstaunlich gut zusammen. Das verbindende Feuer schürt das Berliner DJ-Team Des Wahnsinns Fette Beute. Es ist für seine verspulte Auflegerei zwischen Indie und trippiger Tanzmusik auch außerhalb der Stadt bekannt und hat die Lieder hier ausgewählt und gemixt, ohne sie zu zerstückeln.

Erschienen ist die auf 1000 Stück limitierte Kompilation beim hauseigenen Bar25-Label, hier wurden bisher nur Technoplatten verlegt. In dem aufwändigen Pappkistchen stecken eine CD und eine Single. Die CD klingt wie ein Geschenk der Bar25 an sich selbst, es geht weniger um die Musiker als um das Lebensgefühl dort, an langen Wochenenden zwischen Ostbahnhof und Jannowitzbrücke an der Spree. Auf der Vorderseite des Vinylscheibchens singt Die Piratenbraut die Hymne zur Bar, 12345und20, ein Gitarrenstück, das beschreibt, weshalb man sich hier so gerne verliert.

Die Kompilation „Ernte25“ ist erschienen bei Bar25, sie ist erhältlich über die Website des Labels

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Von Etta bis Übermorgen

Willkommen zur Geschichtsstunde: Hot Chip legen für die Reihe „DJ Kicks“ ihre Lieblingslieder auf die Plattenteller.

Hot Chip DJ Kicks

Ist es nicht aufregend von seinem Schwarm eine Mixkassette zu bekommen? Er wählt seine Lieblingsstücke aus und zeigt sich und seine Gefühle, das ist sehr persönlich. Natürlich geht er ein hohes Risiko ein. Man stelle sich vor: Der Angebetete überreicht unsicher das handbeschriftete Teil, man wartet gespannt, zelebriert den Moment des Anhörens und spult dann von einem peinlichen Lied zum nächsten. Der Zauber ist verflogen, der Schwarm Vergangenheit.

Die Indiepopper des letzten Jahres, Hot Chip aus London, geben einen solchen Einblick in ihre Herzen. Für das Berliner Tanzmusiklabel !K7 haben sie die 28. Folge der DJ Kicks zusammengestellt. Sie machen das gut, zum Glück, man kann also weiter für sie schwärmen.

In der Reihe sind in den vergangenen 12 Jahren viele Alben erschienen, die das Zeug zur Lieblingsplatte haben. Ob Kruder & Dorfmeister oder Erlend Øye, Andrea Parker oder Four Tet, immer wieder gruben die Künstler außergewöhnliche Stücke und Bands aus. Eine gute DJ Kicks-Platte führt den Hörer in ihm unbekannte Gefilde und gewährt neue Blicke auf die Kompilierenden. Ihre musikalische Sozialisation, ihre Vorlieben und natürlich auch Peinlichkeiten treten zu Tage. Oft ist die Auswahl der Stile überraschend, weit weg von der eigenen Musik.

So auch bei Hot Chip. Beinahe schizophren geht es zu. Die 24 Stücke weisen in alle Richtungen, nur an ihr eigenes Hitalbum The Warning aus dem Jahr 2006 erinnert beinahe nichts. Hier ein bisschen Old School HipHop, Soul und Pop, dort Minimal-Produktionen der Franzosen Nôze und Audion, gemischt in Film 2 von Grauzone. Plötzlich ein paar Breaks, dann wieder verträumter Gesang. Auch die Technoproduzenten Gabriel Ananda und Dominik Eulberg kommen hier unter und laden zum nachmittäglichen Tanz im Wohnzimmer ein.

Doch der Tanz stockt, man reißt die Augen auf. Kaum ein Stück wird ausgespielt und der Mix ist nicht sonderlich engagiert. Hot Chips DJ Kicks klingt halbherzig, so als legten sie es nur drauf an, Unpassendes zu mischen. Weder wollen die fünf Musiker beweisen, dass sie mixen können, noch taugt die CD als Geschenk an Tänzer, die in ekstatischen Bewegungen die Welt vergessen wollen. Vielmehr halten Hot Chip eine kleine Musikgeschichtsstunde ab, bei Etta James und Ray Charles fangen sie an, über New Order und Joe Jackson landen sie in der Gegenwart, bei dem Produzenten Marek Bois, auch bekannt als Daypak. In der Mitte der CD wagen sie mit My Piano einen Blick in die Zukunft, auf ihr im kommenden Jahr erscheinendes drittes Album.

Hot Chip stellen auf DJ Kicks ihre Lieblingslieder zusammen. In einem Internetforum schreibt jemand: „Scheißgeile Platte, scheißmieses Mixing“. Eine richtige Mixkassette also, schließlich geht es dabei nicht um DJ-Künste und immer ein wenig mehr um einen selbst als um den Beschenkten und seine Bedürfnisse.

„DJ Kicks“ von Hot Chip ist erschienen bei !K7

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Am Rande der Party

Über die Jahre (22): Wie minimaler Techno funktioniert – die Berliner Medienkünstler Rechenzentrum zeigten es im Jahre 2001 mit einer Platte für John Peel. Sie klingt immer noch gut.

Rechenzentrum Zhe John Peel Sessions

Am besten setzt man sich auf den Boden und rückt die Lautsprecher an sich heran. Einen neben das linke Ohr, einen neben das rechte. Dann lässt man die CD laufen, dreht die Lautstärke weit auf und schließt die Augen. Auf der Innenseite der Lider beginnt ein Film – manchmal gruselig, dann düster, immer intensiv. Man hält die Luft an und lauscht.

Als das Album The John Peel Session von Rechenzentrum im Jahr 2001 erschien, war es außergewöhnlich für das Genre. Es richtete sich nicht an Clubs und Tanzwillige, das Album klang nach den Rändern der Party. Rechenzentrum machten viel aus wenig, auch heute noch ist es eines der besten Minimal-Techno-Alben.

An der Oberfläche sind die Stücke klar, zurückhaltend und geordnet. Wie eine Hand legt sich die Musik auf den Kopf des Hörers und hält ihn ruhig. Regelmäßige Elektrostöße kontern die Ruhe, von Innen her zwirbelt und treibt und drückt es. Das Konzept liege darin, sagt Marc Weiser von Rechenzentrum, „möglichst viele Klänge, die normalerweise nicht einer Funktionalität unterliegen, miteinander zu kombinieren“. Versteht man das, dann versteht man, wie Techno bei Rechenzentrum funktioniert.

Das erste Mal gemeinsam aufgetreten sind Christian Conrad und Marc Weiser bei der documenta X im Jahr 1997. Seitdem reisen sie gemeinsam um die Welt, gerne auch mal als Vorzeige-Deutsche für das Goethe Institut und oft in Kooperation mit anderen Musikern. Ihr erstes Album erschien im Jahr 2000, daraufhin lud der englische Radiomoderator John Peel sie ein, Stücke für seine legendäre Radiosendung aufzunehmen. Nach nur drei Jahren als Band wurden sie in den Musikadel aufgenommen, neben Rockgrößen wie Led Zeppelin, Queen, Nirvana und den White Stripes. In ihrem eigenen Studio spielten die beiden Musiker sieben neue Stücke für die BBC ein, erstmals nahmen sie neben Geräuschschnipseln von ratternden Eisenbahnen, bedrohlich klingenden Kirchenglocken oder hallend tropfenden Wasserhähnen auch Instrumente und Gesang zur Hilfe. Das macht die Stücke rund, sie lassen sich nicht so einfach als Experiment abtun. Manchmal möchte man zwischen den Lautsprechern aufspringen, um die Hüften zu schwingen. Veröffentlicht wurden die für die Session aufgenommenen Stücke mit vier weiteren im folgenden Jahr auf dem Berliner Label Kitty-Yo.

Rechenzentrum sind eher Medienkünstler als eine richtige Band. Zur Musik treten Videoinstallationen und Filmschnipsel von Lillevän. Bei Konzerten ist das ein Gesamterlebnis. Ihre letzte CD Director’s Cut gab es zusammen mit einer DVD, auf der man sich das ganze Album als Film anschauen konnte, auch auf The John Peel Session gibt es Multimedia. Das zu Sehende ist immer abstrakt, es sind keine Musikvideos im klassischen Sinn. Manchmal mutet es an wie ein Ersatz psychoaktiver Substanzen.

The John Peel Session ist eine Platte, die den bebrillten Kunstmagazinleser genauso fesseln kann wie den aufgeputschten Tänzer. Anhänger elektronischer Musik hielten sie damals für eine Offenbarung, viele andere Hörer führte sie an elektronische Musik heran.

„The John Peel Session“ von Rechenzentrum ist im Jahr 2001 bei Kitty-Yo erschienen, im Herbst kommt ein neues Album der Gruppe. „Director’s Cut“ wird dieser Tage wiederveröffentlicht.

Hören Sie hier „Ahab“

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(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
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(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
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(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

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Sexy Wummern

Jeden Morgen vor dem Musizieren machen die Musiker von !!! gemeinsame Kung-Fu-Übungen in Unterhosen. Soviel Beweglichkeit zahlt sich aus, ihr neues Album „Myth Takes“ fegt lockeren Fußes über die Tanzflächen.

Aus einer dunklen Ecke der Tanzhalle wankt einer hinüber zum DJ-Pult. Er fragt, was da gerade läuft. Der DJ sagt spuckend so etwas wie „tschik tschik tschik“. „Hä?“ Der DJ schreit zurück: „Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen“, malt diese mit dem Finger in die Luft. Er wünscht sich ein Schild mit drei Ausrufezeichen, das könnte er dann hochhalten. Wahrscheinlich verstünde das aber auch niemand.

!!!, welch ein Name. Um in Suchmaschinen etwas über die Band zu finden, muss man chk chk chk eingeben, so wird das meistens ausgesprochen. Weiß man das, dann erfährt man, dass die Gruppe aus Kalifornien kommt und gerade ihr drittes Album Myth Takes veröffentlicht hat. Man darf sie auch pow pow pow oder bam bam bam nennen, Hauptsache dreimal dasselbe einsilbige Wort. Viel weiter unten liest man, dass das aus dem Film Die Götter müssen verrückt sein kommt, dort wurden rhythmische Laute von Ureinwohnern in der Kalahari-Wüste mit „!!!“ übersetzt.

Früher verfingen sie sich oft in langen Stücken. Auf Myth Takes dominieren klare Strukturen mit Strophe und Refrain, es klingt geordneter, gezügelter. Keine „shit, scheiße, merde“-Gesänge mehr, dafür soulige Frauenstimmen und Rhythmen, die durch den Hintern galoppieren. Rockende Gitarren und Schlagzeuge verschmelzen mit wummernden Clubgeräuschen. Und das so sexy, man muss dazu tanzen. Schon ihr letztes Album Louden Up Now war so clubtauglich, dass der Techno-DJ Sven Väth es zu einer seiner liebsten Platten kürte.

Hier geht es um Rhythmen, erzeugt mit Hilfe elektronischer und gedroschener Schlagzeuge. Drumherum Bläser, selbstversunkene Gitarren, Klanggewirr und Glocken, Punk, Rock und Funk. Das alles nie zu sauber. Die Stücke bauen sich auf, explodieren im Klanggewirr und werden dann plötzlich runtergebrochen. Als wäre der Tänzer gestolpert und würde nun auf der Tanzfläche sitzen. Dann steht er wieder auf und tanzt umso ekstatischer weiter. Gucken ja jetzt sowieso alle.

Geschichten gibt es wenige über die Band. Weder verbreiten die Musiker eine spektakuläre Version ihres Kennenlernens, noch Mythen über Drogenexzesse oder Hotelverwüstungen. Allein die Entstehungsgeschichte von Myth Takes wird wohldosiert der Öffentlichkeit preisgegeben. Für die Aufnahmen hatten die acht Musiker sich gemeinsam ein Haus gemietet, jeden Morgen vor dem Musizieren absolvierten sie gemeinsam Kung Fu-Übungen in Unterhosen. Folglich gibt es auch lustige Werbefotos zur Platte.

Auch auf der Bühne seien !!! großartig. Bei solchen Gelegenheiten werde getanzt, wie sonst nur in der Technodisko, heißt es. Im April kann man das selbst überprüfen, da ist die Band zu vier Konzerten in Deutschland.

„Myth Takes“ von !!! ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Warp/Rough Trade

Hören Sie hier „Heart Of Hearts“

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