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An der Festung Europa

Hinter meterhohen Eisengittern liegt das Flüchtlingslager in der spanischen Mittelmeer-Exklave Melilla. Eine Reise zu einem Grenzzaun

Irgendwo hinter den Alpen stehe ich in einer vierköpfigen Warteschlange in einem Flugzeug vor der Toilette. Die Frau, die sich hinter mich stellt, sieht mich eine Weile aufmerksam an und sagte dann: „Irgendwoher kenne ich Sie!“

Ich sage, dass ich mindestens drei Doppelgänger habe, und hoffe inständig, dass wir uns nicht kennen, denn ich fliege nach Afrika und auf dem Weg dorthin möchte ich niemanden kennen. Ich reise zu einem Grenzzaun. Ich möchte an einem Langgedicht arbeiten. Ich bin dann asozial und maulfaul, deshalb reise ich allein. Weiter„An der Festung Europa“

 

Wer ist heute deutschfidel?

Wer mag sagen: Deutschsein ist selbstverständlich schön? Zu viele sprechen in diesen Tagen von der Verschüttung der Landessitten und dem Ende der Kultur.

Ich sah die Verrenkten aller Stämme in Bahnhofsnähe, sie sprangen mich an, sie suchten meine Nähe, sie wollten sich verschwenden in wilden Gebärden, sie zischten, sie kollerten, sie hechelten, sie schluckten Luft, was hatten sie im Blut, Korn, Keim, Crystal Meth, Mett-Kristall, rief der Marokkaner, der sich als Zeichen der Ankunft im Norden einen Anker unterm Unterlid gestochen hatte, Blutkristall, das ist mein deutscher Stolz, rief er, und ich geriet in einer anderen Stadt, vor einem anderen Bahnhof an einen anderen Verrenkten. Roh und rabiat war er, er paukte laut die Lehrsätze seiner neuen Bestimmung: Ich will keine Maus im Maul der Katze sein, ich will kämpfen gegen die Rotten, die mein Land besiedeln, ich will das Jesuskind beschützen, ich will… Weiter„Wer ist heute deutschfidel?“

 

Sex ohne Liebe, ewig verwirrend

Das größte Problem mit unserer Sexualität entstand, als plötzlich die Romantik dazu kam. Wenn man das seinem Hund erklärt, was sagte er wohl dazu?

Adele, komm mal her! Mach Sitz! Und hör gut zu. Heute erkläre ich dir die Sexualität.

Hm. Das wird jetzt hoffentlich nicht zu heikel. Die Sexualität sollte dir eigentlich besser dein Frauchen erklären. Aber jetzt habe ich nun mal diesen Job übernommen, und das ist vielleicht auch gut so. Tun wir eben was gegen diese alten Geschlechterrollenzuweisungen. Weiter„Sex ohne Liebe, ewig verwirrend“

 

Überall deutsche Moralprahler

Allein in der Kapselwelt: Wer angesichts der Flüchtlinge um Deutschland fürchtet, ist zum Geisteszwerg geschrumpft. Das Fax der Woche

Ich las die Schriften der Gelehrten, die das Volk verachten, das eigene Volk und die flutenden fremden Scharen, sie schimpfen sie Gewimmel und Gesindel, und als würde der Pöbel Giftsporen streuen, fliehen sie, die Experten, die Gelehrten, die Geistesriesen, in die Komfortzone, in die Kummerkammer, aufs Land. Sie schreiben: Deutschsein ist unmöglich heute. Sie wollen nicht zerfallen im Anblick des eingebildeten Zerfalls. Sie sind umgestoßen worden, die harten Winde haben sie erfasst, und also klammern sie sich an die Bücher der nationalen Erhellung. Das sind Gewichte, die sie am Boden halten. Das sind schwere Ziegel, die sie schichten und stapeln zur hohen Schutzwand, auf dass des Pöbels Lärm und Laute daran abprallen. Weiter„Überall deutsche Moralprahler“

 

Ziviler Ungehorsam: 48 %

Verständnis für die Unabhängigkeitsbestrebungen heißt nicht Einverständnis. Wenn die Katalanen nun versuchen, ihren eigenen Staat zu bauen, droht Spanien ein Trauerspiel.

Die Katalanen sind bekannt für ihren Hang zu masochistischer Gedenkkultur. Das Datum, an dem sie ihre politische Eigenständigkeit verloren, begehen sie als Nationalfeiertag. Und nun dies: Am 15. Oktober muss Artur Mas, derzeit katalanischer Regierungschef, auf die Anklagebank. Zur Last gelegt wird ihm ziviler Ungehorsam, was ja durchaus nach alter Volksheldentugend klingt. Weiter„Ziviler Ungehorsam: 48 %“

 

Die Tiefen der englischen Seele

Erster Tag an der neuen Schule in Oxford. Das Kind soll „Pigsoles“ tragen. Schweinesohlen? Kulturelle Unterschiede hin, kulturelle Unterschiede her – das ist seltsam.

Ich fahre mit dem Kinderfahrrad durch Oxford. Ich sehe darauf aus wie ein tretender Affe. Die Nachbarin hat mich angehalten und mir einen Helm aufgenötigt. Er ist grünschwarz, das Fahrrad gelbblau. Ich fahre auf der linken Seite, ich lebe nicht zum ersten Mal hier. Man schaut mir nicht nach, wir sind in England. Ich fahre wie blöd, ich muss zum Supermarkt und in ein Geschäft mit Haushaltswaren. Es ist bank holiday. Alle Geschäfte haben extra lange geöffnet, alle Leute haben Extrazeit, Extrasonderangebote zu shoppen. Der Landlord, der jeden dritten Tag im Haus erschient, um exakt eine Stunde lang zu räumen, sagt, als ich ihn nach dem Anlass für den Feiertag frage: mehr Shopping. Das ist weder ironisch noch ernst, es ist einfach wahr. Weiter„Die Tiefen der englischen Seele“

 

Mädchenmetzger zerstückeln Leben

Eine Frau rupft sich haarlos, rupft sich blutig. Wie findet man Worte für das, was Beschneidung Mädchen antut? Es gibt nur eines: Verbrechen. Das Fax der Woche

Ich fuhr zu der Irren, man nannte sie die Irre, sie hatte Gott geschaut, sie blies die Backen auf, wann immer sich Wind regte. Sie hatte ihren eigenen Schlafplatz, eine Mönchszelle, Krug und Schüssel auf dem Tisch, zerrissene, verdreckte Röcke und Blusen in einem Haufen an der Längswand. Ins Kammerlicht stellte sie sich selten. Weiter„Mädchenmetzger zerstückeln Leben“

 

Gibt es einen Plural von Heimat?

Wenn Menschen wegen ihrer Religion ihr Zuhause verlieren, kann etwas nicht stimmen. Findet man Geborgenheit tatsächlich im Glauben oder helfen in Berlin auch Currywurst und Sechs-Tage-Rennen?

Der Sommer ist vorbei, das ist ganz offensichtlich, jedenfalls in Berlin. Alle sind zurück, und es gibt kein Durchkommen mehr am Landwehrkanal oder am Nollendorfplatz. In der Uhlandstraße ist es aussichtlos, in welche Richtung auch immer abzubiegen. Überall Stau, alles eine riesige Baustelle: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr…“ Haben sie alle plötzlich Rilke gelesen? Aber ich will nicht klagen: „Der Sommer war heiß und lang.“ Weiter„Gibt es einen Plural von Heimat?“

 

Kamenz erwartet den Messias

Unser Autor ist auf Lesereise in der Oberlausitz: Schnitzaltäre, Adenauer-Krempel, Westalgie im Osten und Angst vor Neuankömmlingen. Da helfen nur Pulsnitzer Pfefferkuchenspitzen. Das Fax der Woche

Ich bin der Wandermönch in schwarzer Kutte. Ich steige ein, ich steige aus, ich steige ein. Neue Stadt, neues Glück, fast jeden Tag. Mal verderbe ich den Menschen mit meiner Lesung den Abend; mal lieben sie meine Stimme und aber nicht mein Gesicht. Weiter„Kamenz erwartet den Messias“

 

Wenn die große Liebe plötzlich auf dich zählt

Die Wohnzimmertür geht auf und Adriano Celentano kommt rein. Das muss ein Missverständnis sein, will unsere Autorin vom Sofa aus noch rufen. Aber da singt er auch schon.

Gestern habe ich geträumt, dass ich in einem lila Samtanzug auf einem mir unbekannten Sofa liege und versuche einzuschlafen. Alles ist so hergerichtet, wie ich es mag: Zwei weiche Kissen und eine Decke, die schwer auf mir liegt. Ich atme ein, ich atme aus. Plötzlich öffnet sich die Tür und Adriano Celentano, ebenfalls in einem lila Samtanzug, kommt schüchtern herein. Weiter„Wenn die große Liebe plötzlich auf dich zählt“