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Beim letzten Zählen waren es null Freunde

Nach dem Urlaub kommen die Vorwürfe: Wieder keine Karte an die Lieben geschrieben! Das ist auch für die Postkarte kein schöner Zustand. Hier darf sie sich aussprechen.

Hallo Freunde,

ich bin es, Eure nicht verschickte Urlaubspostkarte. Huhu! Na? Seid Ihr gut wieder zu Hause angekommen? Ich bin immer noch hier, falls ihr Euch das fragt. Immer noch in diesem Postkartenständer. Ist okay. Manchmal wird der Ständer gedreht, dann kreischen wir hier alle sehr leise und sehr bemüht, und am Ende bleibt man meist an irgendeiner neuen Position stehen. Über fehlende Abwechslung kann ich mich also nicht beklagen.

Und es ist voll in Ordnung, dass Ihr mich nicht verschickt habt. Es ist ja die Geste, die zählt. Und die Geste war halt, sich vorgenommen zu haben, eine Urlaubskarte zu verschicken. Das ist eine schöne Geste. Viel schöner, als sich zum Beispiel vorzunehmen, auf gar keinen Fall eine Karte zu verschicken oder jemand Fremdes in die Seite zu zwicken. Ihr seid im Grunde gute Menschen, das weiß ich, das weiß ich sicher. Weiter„Beim letzten Zählen waren es null Freunde“

 

Die Wahrheit nach Dr. Dre

Nach 16 Jahren legt der Rapper ein völlig unreales Album vor. „Compton“ ist ein buntes, nostalgisierendes Täuschungsmanöver und eine misogyne Dummheit.

ComptoncoverSchlechte Zeiten für Gangsta-Rapper: Die Zahl der Gewalttaten in Compton ist im vergangenen Vierteljahrhundert kontinuierlich zurückgegangen. Ende der achtziger Jahre, als die Hip-Hop-Formation N.W.A. ihr kontroverses erstes Album Straight Outta Compton veröffentlichte (und damit dem Genre des Gangsta-Rap zum internationalen Durchbruch verhalf), wurden in der südkalifornischen Stadt noch alljährlich an die 100 Morde verübt.

2014 waren es nur noch ein Viertel so viele. Die junge Bürgermeisterin initiiert seit dem vergangenen Winter regelmäßig friedliche Begegnungen zwischen den Anführern der beiden wichtigsten Gangs, den Crips und den Bloods. Und der neue Slogan der Stadt lautet: Birthing a New Compton − der alte amerikanische Traum von Verfall und Wiedergeburt.

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Triumph des Turbokonsums

Was soll man mit teuren Schweizer Uhren, die eine Atombombe überstehen? Auf dem türkischen Markt lernt man: Das wahre Glück liegt im billigen Imitat. Das Fax der Woche

Jetset-Basar im Stadtteil Rami. Zeltsiedlung, die Zelte bestehen aus Planen und Segeltüchern, die sich über den Ständen spannen. Die Patrizierhäuser im alten Byzanz wären bei dieser Hitze zerschmolzen. Das Volk kauft Imitate. Marktschreier klettern die Metallpfosten hoch, preisen laut Frauenunterwäsche in ziemlichen Worten. Keine einzige unbegleitete junge Frau. Die Händler möchten nicht erleben, dass die Mütter zornig werden. Sie sind Denkmäler der Sittsamkeit.

Es geht das Gerücht, dass erst vor wenigen Tagen eine Mutter Stand und Händler zerlegte: Der junge Mann hatte im Überschwang einer frommen Schwester ein halbtransparentes Nachthemd zugeworfen. Die Mutter schimpfte ihn ein Harnhaupt und einen Madenbeutel, sie hätte ihn fast mit ihrem Sonnenschirm aufgespießt. Weiter„Triumph des Turbokonsums“

 

Für den Krieg zu alt, für Demenz zu jung

Lange wachte er am Rand der westlichen Zivilisation, dann wurde er ihr als Erster geopfert. Mit 62 lernt er kochen. Töten würde er sofort: der ganz normale Ukrainer.

Der ganz normale Ukrainer- Freitext
© Odd Andersen/AFP/Getty Images

Er hat zwei Töchter (wobei er sich immer einen Sohn wünschte), eine Dreizimmerwohnung im sowjetischen Hochbau, die er im letzten Jahr der Sowjetunion als hochqualifizierter Ingenieur noch gratis bekam, und eine Frau, die, wie er sagt, im Erdgeschoss bleibt, während er schon in den neunten Stock hinaufgefahren ist.

Genauso wie alle anderen normalen Ukrainer in seinem Alter verlor er mit dem Zerfall des Ost-Imperiums alles, was er besaß. Allen voran seine Arbeit und seine Würde. Ich könnte Schiffe bauen, sagte er bedauernd, wenn er auf dem Markt in der Nachbarschaft ein kleines Geschäft abgeschlossen hatte. Niemand wollte seine Schiffe, alle wollten seinen Wodka. Weiter„Für den Krieg zu alt, für Demenz zu jung“

 

Kunst kann das Nichts

Das Relevanzdiktat dominiert die Kunst. Und wo sie keine politische Aufarbeitung betreibt, da soll sie bitte wenigstens Aufmerksamkeit erregen. Ist das wirklich sinnvoll?

Copyright: Feng Li/Getty Images
Copyright: Feng Li/Getty Images

Man fliegt um den halben Globus, landet auf einem fremden Subkontinent, Gedichte werden übersetzt. Die Autoren, die einem gegenübersitzen, haben eine Agenda. Nicht, dass man selbst keine hätte. Eine Agenda der Kunstfreiheit etwa, gespeist aus dem Gedankenraum europäischer Aufklärungstradition. Kants Idee der Nutzenfreiheit des ästhetischen Genusses, aufgegriffen und gespiegelt, wenn Luhmanns systemische Sozialmodelle der Kunst die Funktion der Funktionslosigkeit zusprechen.

Das Gegenüber schreibt Botschaftslyrik. Der soziale Ansatz ist aller Unterstützung wert: unterdrückte Ureinwohner, die Fortsetzung tausend Jahre alter Macht- und Beraubungsverhältnisse mit Hilfe europäisch-kolonialistischer Strukturen. Eingesetzt gegen sogenannte Kastenlose oder Frauen, deren Gesundheit und körperliche Integrität in großem Maßstab mit Füßen getreten werden. Poesie also, die versucht, Menschen eine Stimme zu geben, die mit dem Wort kaum umgehen können und gewiss nicht zu Wort kommen – sie leben in Slums, schlafen um den Fuß eines Verkehrsschildes gerollt, werden zum Sterben in einen Zug gelegt, weil niemand ihr Begräbnis bezahlen kann. Weiter„Kunst kann das Nichts“

 

Defilee der halbnackten Terrassendamen

Der Kellner in Istanbul bittet, nicht immerzu an den Stringtangabikinis zu zupfen. Ist der entblößte Arsch der Russin das Fleisch des Fortschritts? Das Fax der Woche

Der Heimkehrer steckt in der Rattenfalle. Es wird nicht besser werden, es wird nicht. Goldtaler regnen vom Himmel. Vor knapp zwei Jahren zog Mustafa von Berlin nach Istanbul, er glaubte an den scharfen Schnitt, an den harten Wechsel. Die Deutschtürken in der Szenenkneipe hatten gejauchzt und gejubelt: Das ist herrlich, Mustafa, du wirst in unserer Heimat gedeihen! Er gedieh nicht, er schrumpfte, er fühlte sich ganz und gar nicht gesegnet. Die Hippen der Stadt pfiffen auf ihn, sie hatten das Meer, den Himmel, und große Dichter, die das Meer und den Himmel besangen. Mustafa, das Mustermännchen, langweilte sie.

Lärm, Lähmung und Legenden, das war für ihn der Orient, man musste gründlich aufräumen, alles Brackige und Bröckelnde verschwinden lassen. Die neuen Freunde sagten: Geh doch rüber, wenn’s dir bei uns nicht gefällt, geh‘ doch wieder zurück, und stutz‘ dort die Hecken. Seitdem hängt er sich an jeden Gast aus Deutschland. Jetzt starrt er auf die Bonsai-Mandarinenbäume in den weißen Übertöpfen. Auf einem Schild am Spieß ist zu lesen, dass der Verzehr der Früchte nicht empfohlen wird, sie sind mit Pestiziden besprüht. Schöne Aussicht auf den Bosporus. Weiter„Defilee der halbnackten Terrassendamen“

 

Die Verschwundenen von Teneriffa

Zikaden, Orangenbäume, Sonnenuntergänge. Teneriffa versteht sich darauf, die Kitschmaschine anzuwerfen. Aber wer genauer hinsieht, stößt auf die Abgründe der Franco-Zeit.

Die Verschwundenen von Teneriffa - Freitext
© Oliver Elm/Wikimedia Commons

Wir kennen uns seit Langem, die Insel und ich. Die Insel hat viele Talente. Sie hat ein unfehlbares Gespür für Timing, kann Spannungsbögen aufbauen, wie wenige andere Orte, liebt Reihungen, neigt zu Knalleffekten. Darum klemmt morgens nach dem Aufwachen der Fensterladen, und wenn er endlich nachgibt, rieselt beim Aufschwingen hellbraunes Holzpulver, Termiten, in einem akkuraten Viertelkreis auf die Bettdecke. Darum steht draußen, im Nachbargarten, ein Mann zwischen den Orangenbäumen und hält eine Flinte. Und weil die Insel gerne ein wenig dick aufträgt, beugt der Mann seine Knie, macht zwei schleichende Schritte, hält inne und legt an. Der Knall ist leiser als erwartet, wenige Meter von ihm entfernt explodiert etwas Kleines zu Blut und stiebenden Haaren.

Wenig Schlaf letzte Nacht, die Frau hat wieder stundenlang „Danièl“ geschrien, sie wohnt in dem Häuserblock gegenüber der Auffahrt, „Danièl, komm her“, schreit sie, „bitte“, immer in der gleichen Tonlage. Das Wasser kocht, steigt in der Cafetera hoch, die Insel gibt keine Ruhe. Die Katzen haben ein Tier in den Patio getrieben, sitzen vor den Blumentöpfen, versuchen mit den Pfoten dahinter zu langen. Du kriegst mich nicht, sage ich zur Insel, darauf falle ich nicht rein, ich sehe nicht nach. Im Garten blühen die Strelitzien, ebenso der Wachsblumenbaum, und weil die Insel einen Hang zum Übertreiben hat, fängt beim ersten Schluck Kaffee die Danièl-Frau wieder an. Gedämpfter als in der Nacht, da stand sie am offenen Fenster und rauchte während sie schrie, zwischen orangefarbenen, sich im Luftzug blähenden Vorhängen. Im Patio wird es kurz hektisch, dann sehr ruhig, die Katzen kommen mit gemächlich langen Schritten in den Garten. Weiter„Die Verschwundenen von Teneriffa“

 

Prominente sind Modeartikel!

Weil die Menschen einsam sind, erschaffen sie sich Prominente. Und wenn sie genug von ihnen haben, entsorgen sie ihre Geschöpfe wieder im Dschungel oder anderswo.

Prominente sind Modeartikel!
Copyright: Andreas Rentz/Getty Images

Adele, komm mal her! Mach Sitz! Und hör gut zu. Heute erkläre ich dir die Prominenz.

Menschen, liebe Adele, sind eigentlich Rudeltiere, genau wie ihr Hunde. Heutzutage sagen sie zwar dauernd, sie möchten unbedingt ihre Ruhe haben und ihre sogenannte Privatsphäre, aber das sind meistens halbe Lügen, wenn nicht gar ganze. Tatsächlich wollen sie nicht allein sein, sie wollen vielmehr, dass man sie beachtet und sich um sie kümmert. Und am liebsten würden sie natürlich geliebt.

Leider sind die Menschen dabei so anspruchsvoll geworden, dass es ihnen keiner mehr recht machen kann. Kaum kümmert sich jemand um sie oder liebt sie gar, da leiden sie schon unter „Zugroßernähe“ oder anderen Gemütskrankheiten. Kein Mensch kann heute noch, bildlich gesprochen, einen Abend lang auf dem Sofa liegen und sich den Bauch kraulen lassen, ohne dabei um seine Integrität als selbstständiges Individuum zu fürchten. Du, liebe Adele, kannst das sogar vollkommen unbildlich! Weiter„Prominente sind Modeartikel!“

 

Neohippies dösen mit Katzen

Unser Kolumnist trifft in Istanbul auf die großen Menschheitsfragen: Wer eignet sich welches Land an, wer flieht vor dem Volkszorn, und wer gibt das Leben in der Heimat auf?

Erster Tag meiner Ankunft, mein Vorsatz: Nähe zum einfachen Volk, raus aus dem klimatisierten Hotelzimmer. Junge Syrer fahren große Ballen auf Sackkarren durch die Gassen. Ein frommer Händler gibt Auskunft: Das sind unsere neuen Bürger, sie flohen vor den verfluchten Kopfabschneidern, jetzt sind sie hier bei uns, hier in ihrer neuen Heimat. Weiter„Neohippies dösen mit Katzen“

 

Ein bombiger Sommer

Jedes Jahr flammt sie auf, diese heuchlerische Diskussion über junge Mädchen in Hotpants. Unsere Autorin überrascht sich selbst mit der Lösung: Her mit der Schuluniform! 

Tragt Schuluniform statt Hotpants! – Freitext
© Reuters

Ich schätze den Berliner Hauptbahnhof ganz besonders: Wenigstens die Rolltreppen funktionieren in der Regel. Verlässlich schwebt man auf ihnen in die obere Gleiswelt, direkt unter den unübertrefflich treffenden Werbeschriftzug auf der Westseite des Gleisdaches: „Bombardier“. In Riesenlettern. Ein bombiges Wort, in Berlin und der hiesigen Geschichte am richtigen Platz.

Letzte Woche passierte es dann. Die Bombe wurde – wirklich. Unmittelbar vor meiner Nase schwebte sie auf der Rolltreppe in Gesichtshöhe vor mir. Gehörte, ich sag jetzt mal: einer Amerikanerin. Sie erleben hier die krude Verwendung eines nationalen Klischees, exakt so, wie es in Wirklichkeit vorkommt. Amerikanerin! Reden hörte ich sie nicht, die beiden jungen Frauen ein paar Stufen über mir, jede mit blonden dicken Zöpfen und noch sehr viel dickeren, weißen, perfekt rasierten, im Übrigen aber eben stämmigen, sprich prall gefüllten, halbnackten Beinen. Eine trug Strümpfe bis zum Knie. Helle Spitze. Der Rest: Haut, gefolgt von einem weit oben sitzenden Hosensaum. Sehr weit oben.

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