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Endstation Reiswaffelmutter

Wenn Kinder nicht mehr Sandy und Kevin, sondern Luise und Konrad heißen, muss die Welt noch lange nicht besser sein. Ein Tag auf dem Spielplatz.

Ein Tag auf dem Spielplatz
Adam Berry/Getty Images

Auf dem kleinen Spielplatz in der Hasenheide, einem Berliner Park zwischen Kreuzberg, Neukölln und dem Tempelhofer Feld, steht plötzlich, nachdem ich der Tochter Schwung gab, ein Junge vor mir und sagt: „Kannst du mich schaukeln?“ Ich nicke, hebe ihn auf die andere und gebe ihm Schwung. Er trägt ein türkisfarbenes T-Shirt mit dem Schriftzug „Meine Mutter ist schöner als deine“. Als er vorschaukelt, sehe ich auf der Rückseite das Wort „Wirklich“. Weiter„Endstation Reiswaffelmutter“

 

Klein Hitler versteht die Welt nicht mehr

Heißt Integration, so zu werden wie der handelsübliche Kleinbürger? Mit Parolen und dumpfem Volksstolz? Da hilft selbst kein Dackelkauf!

Auf den dummen Ausländer stoße ich im Wirtshaus. Deutschland führt, wir brüllen wie Lottokönige. Mann mit Glatze zerreißt Serviette in Schnipsel, wirft sie in die Luft. Kinder schnappen nach Schnipseln wie Echsen nach Libellen. Weiter„Klein Hitler versteht die Welt nicht mehr“

 

Einmal den perfekten Moment, bitte

Sommerferien sind die vorprogrammierte Überforderung. Und Luxussorgen der Extraklasse. Dieses Jahr müssen es trotzdem die schönsten aller Zeiten werden.

© Robin Utrecht/AFP/Getty Images
© Robin Utrecht/AFP/Getty Images

Das grüne Leuchten ist ein Film von Éric Rohmer – ich habe ihn ungefähr 16-mal gesehen. Es gab Zeiten, da gab ich sogar Essen, um meinen Freunden – nach der Pasta – den Film zeigen zu können. Aber die meisten mochten ihn nicht. Trotz der vorzüglichen Nudelgerichte nur Unverständnis für meine Begeisterung.

Das grüne Leuchten erzählt die Geschichte einer jungen Frau in Paris, die einen Tag vor den großen Sommerferien von ihrem Freund sitzen gelassen wird – oder war es ihre Freundin? – und nicht mehr weiß, wie sie den Sommer verbringen soll.

Alle verlassen Paris, also fährt auch sie zu Freunden aufs Land, geht alleine wandern, mit einer drallen Blondine ans Meer. Aber nirgends kommt sie wirklich an. Bis am Ende…, aber man verrät ja keine Filmenden. Weiter„Einmal den perfekten Moment, bitte“

 

Das Glück zu wissen, was schön ist

Bald ist wieder Fashion Week in Berlin. Für Stadthunde eine besonders aufregende Zeit. Wie erklärt man Mode einem Vierbeiner?

© Getty Images
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Adele, komm mal her, ich muss dir was erklären. Mach Sitz und hör schön zu! Heute werde ich versuchen, dir begreiflich zu machen, was Mode ist. Ich fürchte, das wird ziemlich schwierig, weil Mode eine reine Menschenangelegenheit ist und in deinem Hundeleben gar nicht vorkommt.

Das heißt, halt!, eine gewisse Verbindung gibt es doch. Hast du dich schon einmal gefragt, warum wir auf unseren Hunderunden so vielen Labradoren, Jack Russel Terriern und Golden Retrievern begegnen und so wenigen Samojeden, Komondoren, Pulis und Portugiesischen Wasserspanieln? Ja, jetzt guckst du! Das sind Hunderassen, von denen du noch nie gehört hast. Auch ich kenne sie nur aus den Hundefilmen auf Animal Planet. Diese Hunderassen sind nämlich hierzulande gerade nicht in Mode, obwohl sie sich nur in Details von deinesgleichen unterscheiden. Und damit hast du schon gelernt: In Mode zu sein, das bedeutet, alle oder wenigstens sehr viele finden es gut und tun dabei mit.

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Frauen sterben, bevor sie sterben

Männer, diese aufgepumpten Wichte, pfuschen das Leben irgendwie so hin. Frauen beugen sich der männergemachten Welt – und altern und verzweifeln daran. Das Fax der Woche

Tischgesellschaft, sieben Frauen um die Vierzig. Was stimmt nicht? Sie sind lustig, sie werden lustiger: die Cocktails. Sie rühren mit dem Strohhalm im hohen Glas, strudelnder Eisbruch. Sie schauen und staunen nicht. Sie sind verlegen. Ehering am Finger. Sie reden nicht über ihre Männer. Entlastung. Pause. Schöner Frauenabend. Was stimmt nicht? Sie werden die Rechnung begleichen und zurückkehren.

Kellner sagt: Frauen sind ein Segen. Aber sie bestellen nur ein Getränk … Angst vor dem Rausch. Sie würden sich beschwipst eingestehen: Ich wollte es so. So ist es nicht richtig. Ich bin nicht für Beständigkeit gemacht. Ich will schön bleiben. Die Tage, sie sind Gift. Ich schwinde. Mein Mann wird dick wie ein Onkel. Ich liebe ihn, ich liebe ihn nicht, ich liebe ihn … Ich sitze am Nebentisch und denke: Frauen und Dichter, sie dürfen nicht sterben. Weiter„Frauen sterben, bevor sie sterben“

 

Haha ist nicht Hoho

Es gibt viele Formen des Lachens. Die wichtigste zersetzt jede Autorität, und für viele Menschen ist dieser Gedanke unerträglich.

Lachen: Haha ist nicht Hoho * Freitext

Die Menschen, die lachen wollen, sind eine Minderheit. Und zwar eine viel kleinere, als man denken mag, wenn man sieht, wer alles vermeintlich gerne lacht. Auch das Überangebot an Comedy in Gesellschaften wie unserer sollte darüber nicht hinwegtäuschen, denn es ist größtenteils auf Menschen zugeschnitten, die nicht lachen wollen. Weiter„Haha ist nicht Hoho“

 

Hinterm Loch die Party

Der Berliner Club Antje Øklesund ist sagenumwoben. Marode Orte wie dieser machten in den Neunzigern den Charme der Stadt aus. Nun wird dort zum letzten Mal gefeiert.

Antje Øklesund: Hinterm Loch die Party * Freitext
© Jan Brandt

Martin, ein alter Schulfreund, der wie ich seit Jahren in Berlin lebt, schwärmte mir schon lange von diesem Ort vor: das Antje Øklesund, ein halb verfallenes Gelände einer Möbelfabrik an der Rigaer Straße im Stadtteil Friedrichshain. Die eine Hälfte des ehemaligen Kesselhauses sei abgebrannt, sagte er, als loderten die Flammen noch in seinem Herzen, die andere stehe noch und beherberge einen Club, ein echter Geheimtipp, nirgendwo weise ein Schild darauf hin, hinein komme man nur durch ein Loch in der Mauer. Das Antje, sagte er, sei der letzte Rest des im Krieg zerstörten Berlins – ein Abenteuerspielplatz wie es, als wir Ende der neunziger Jahre herzogen, noch viele gegeben hat. Und dann schwelgte er in Erinnerungen an besetzte Häuser und illegale Bars, an all die Ruinen, die inzwischen Neubauten gewichen waren, an eine Zeit, die es nicht mehr gab und niemals wieder geben würde in Deutschland.

Martin war damals oft unterwegs, er arbeitete als Schlafwagenschaffner. Wenn ich Martin doch einmal traf, allein traf, sprach er über Frauen, und wenn er nicht über Frauen sprach, dann deshalb, weil er von ihnen umgeben war, und daher hoffte ich, er würde mir Antje Øklesund, die Namenspatin jenes mythischen und doch erst 2005 gegründeten Clubs, eines Tages vorstellen. Aber das tat er nicht. Stattdessen sagte er, was das Antje einzigartig mache, sei das Adriano Celentano Gebäckorchester, das dort regelmäßig auftrete und italienische Schlager spiele. Das, sagte er – er sprach mir dabei tief in die Ohren –, müsse ich mir unbedingt einmal anhören. Weiter„Hinterm Loch die Party“

 

Der Furor des Atheisten

Mohammed-Karikaturen, Metallschweine an der Abendmahltafel? Natürlich darf sich die Kunst über Religion belustigen. Sie sollte nur gut und klug sein. Das Fax der Woche

Der Gottlose nennt Gott: den unbeweglichen Beweger, den großen Ingenieur. Er war nie und ist nicht willens zu glauben, das überlässt er den Kindern und Kindsköpfen. Ein strenger Meister. Er spricht zu einem Mann gleichen Sinnes, der ihn unterbricht, um die Propheten zu beleidigen. Ist das ein Satanistenkongress? Nein, es sind Zivilisten ohne Gott, sie pfeifen auf den himmlischen Beistand, sie fürchten den Herzinfarkt mit fünfzig, und aber nicht den Teufel.

Gott, sagt der eine, hat mit uns nix zu schaffen, kümmert dich etwa die Ameise? Der andere blutet seinen Hass in Demagogenparolen. Sie spucken auf das Heilige. Die Pfaffen, sie spucken auf ihre Schäfchen, also geht es manchmal gerecht zu in dieser Welt. Dann aber gerate ich zwischen die Fronten. Furor des Atheisten, ich weiche: Jedes Wort würde im Nu verrosten. Weiter„Der Furor des Atheisten“

 

Nur Tod. Nur Lachen

Die Medien sind voller Nachrichten aus der Ukraine. Doch unsere Autorin fürchtet, dass wir ihre Heimat und deren Menschen keineswegs verstanden haben.

Ukraine: Nur Tod. Nur Lachen * Freitext
amir Sagolj/Reuters

An dieser Stelle sollte ein anderer Text stehen. Der allerdings ist mir misslungen. Es ging darin um die Ukraine und ihren Krieg, um die Sowjetunion und ihre unaufgearbeiteten Verbrechen, für die nie jemand verurteilt wurde. Und es ging um die Denkmäler der sowjetischen Politiker, die noch vor Kurzem überall in der Ukraine standen, als ob sie nicht Mörder, sondern nationalen Helden darstellten. Eine grauenhafte Realität scheint ihre Gründe in einer noch grauenhafteren Vergangenheit zu haben. Erst vor einem Jahr begannen die Ukrainer, die sowjetischen Denkmäler in großem Maßstab zu zerstören – eine erschreckend verspätete Aktion der Entsowjetisierung, die beinahe an ein exorzistisches Ritual grenzte.

In dem misslungenen Text schrieb ich auch über meinen Urgroßvater, einen reichen ukrainischen Bauern, der im Jahr 1933 gezwungen wurde, seinen Hof über Nacht zu verlassen, mitnehmen durfte er nur die notwendigsten Habseligkeiten. Auf der Treppe eines Kinderheimes sagte er seiner kleinen Tochter, sie solle hier auf ihn warten, er hole etwas zu essen und käme sofort zurück. Die Tochter wartete brav, und manchmal überkommt mich der Verdacht, dass sie insgeheim immer noch auf ihn wartet. Weiter„Nur Tod. Nur Lachen“

 

Wenn der Makler mit der Luxuswortanlage klingelt

Die Investorenprosa unserer Tage kann man lächerlich finden. Auf den ersten Blick. Auf den zweiten ähnelt das prätentiöse Palaver dem aufgeplusterten Jargon der Nazis.

Neulich auf Usedom: An der historischen Seepromenade klafft zwischen den Gründerzeitvillen eine Lücke, als hätte man der Reihe historischer Gebäude einen Zahn ausgeschlagen. Davor informiert eine Schautafel über das Gebilde, das demnächst aus der Baugrube wachsen soll. Eine „neue Definition von Wohnfreude“ wird hier angeblich formuliert. Die „Magie der glanzvollen Kaiserbäder“ werde sich in dem „Wohnprojekt“ widerspiegeln. Und dann, ich zitiere wörtlich, aber aus Gründen der Menschlichkeit nicht in voller Länge: „Das stilvolle Exterieur des Objektes greift die prunkvolle Bäderarchitektur auf, ohne an Mondänität und Novität zu verlieren. 20 Luxusapartments auf vier Etagen zeigen, wie Exklusivität und Purismus sich zu einer einzigartigen Sinfonie vereinigen.“ Natürlich zeichnet für das Bauvorhaben nicht ein schnödes Immobilienbüro verantwortlich, sondern ein „contor“ − in retrofuturistischer Kleinschreibung, aber allen Ernstes mit c, so als handelte es sich um einen Kaufmannsbetrieb aus der Kaiserzeit.

Die Behauptung, dass die fischdumme Investorenarchitektur, die hier entsteht, stilistisch an die historische Bäderarchitektur anschließe, ist, das sieht man sofort, schlichtweg gelogen: Anhand der neben der Maklerprosa prangenden Bilder kann selbst der architekturhistorische Laie erkennen, dass es sich bei dem beworbenen „Objekt“ um ein x-beliebiges Apartmentgebäude im Hochpreissegment handelt, das genauso gut am Starnberger See oder in Bad Lippspringe stehen könnte. Mit den umliegenden Gebäuden hat es so viel gemein wie eine Hundehütte mit einem Hallenbad: ein Dach, Wände, Fenster. Aber darum geht es hier nicht, die Sünden wider die Baukultur mögen Kompetentere anprangern. Weiter„Wenn der Makler mit der Luxuswortanlage klingelt“