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170. Prozesstag – Gericht untersucht das NSU-Bekennervideo

Es war das Bekenntnis, mit dem sich der NSU im November 2011 enttarnte: das zynische und menschenverachtende Bekennervideo, in dem die zehn Morde thematisiert werden, die heute der Zwickauer Terrorzelle zugeschrieben werden. Bereits zweimal wurde es im Gericht vorgeführt. Nun hört der Strafsenat eine Ermittlerin des Bundeskriminalamts, die den Film untersucht hatte.

Im Video laufen mehrere Hinweise zusammen, die auf Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Schuldige für die zehn Morde der NSU-Serie deuten. So sind darin Zeitungsausschnitte verwendet, die auch in der letzten Wohnung des Trios in Zwickau lagen. Auch werden darin Fotos von Mordopfern gezeigt, die offensichtlich von den Tätern gemacht worden sein müssen. 15 Exemplare des Films soll Beate Zschäpe während ihrer Flucht nach dem Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt verschickt haben.

Zudem ist ein Polizist geladen, der im Jahr 1996 Zschäpe und den Mitangeklagten Ralf Wohlleben vernommen hatte. Sie mussten bei der Polizei im Fall der Bombenattrappe aussagen, die Uwe Böhnhardt an einer Autobahnbrücke nahe Jena platziert haben soll. Zschäpe und Wohlleben gaben ihrem Freund ein Alibi. Für die Tat wurde Böhnhardt verurteilt, später wurde das Urteil aus Mangel an Beweisen aufgehoben. In seiner ersten Vernehmung konnte sich der Ermittler kaum noch an die Befragung von vor 18 Jahren erinnern.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Wie der NSU-Prozess zerbröselt

Immer mehr Zeugen, immer schrillere Töne: Bleibt der Terrorprozess als Strafverfahren in Erinnerung – oder als Untersuchungsausschuss? Für die Aufklärung im Gericht schwindet das Verständnis.

Die Nachricht war fast eine Erlösung: Ab Mitte Januar wollen die Richter im NSU-Prozess den Sprengstoffanschlag in der Kölner Keupstraße behandeln, wie am Dienstagabend bekannt wurde. 22 Menschen wurden 2004 bei dem Attentat durch eine Nagelbombe verletzt, gezündet mutmaßlich durch die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Rund anderthalb Jahre lang mussten die Opfer seit Prozesseröffnung warten, bis nun ihr Fall vor dem Münchner Oberlandesgericht behandelt wird – länger als alle anderen, die von den Morden und Anschlägen der Zwickauer Zelle betroffen sind.

Sie sind nicht die einzigen, die warten. Gedulden müssen sich auch Bankangestellte und ihre Kunden, Opfer der Raubüberfälle, die Mundlos und Böhnhardt für den Lebensunterhalt des NSU-Trios verübten. Es sind traumatisierte Menschen, die zwar überlebt haben, aber bis heute mit den Nachwirkungen einer Extremsituation leben müssen.

Wann kommen sie zu ihrem Recht? Eine Antwort darauf kann derzeit niemand sicher geben. Der sechste Strafsenat unter Leitung von Richter Manfred Götzl kümmert sich gerade um den umfangreichsten Komplex von allen: die mutmaßlichen Unterstützer und Mitwisser des Trios. Ein wichtiger Bestandteil der Aufklärung. Doch auch einer, der das Verfahren derart lähmt, dass selbst die Opfer den Sinn dieser juristischen Durchleuchtung mittlerweile infrage stellen müssten. So stand am Mittwoch, 169. Verhandlungstag, zum zweiten Mal die Rechtsextreme Antje B. aus Sachsen im Zeugenstand.

1998 flüchteten Beate Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt vor der Polizei in den Untergrund – es war der Auftakt einer Serie aus zehn Morden, zwei Anschlägen und 15 Überfällen, die erst mit der Enttarnung des NSU im November 2011 endete. Kurz nach dem Untertauchen soll B. vorgehabt haben, Zschäpe ihren Reisepass zu überlassen. Dass sie es tat, ist bisher nicht bewiesen. Auch nicht, dass sie dies geplant hätte.

So geht es in den vergangenen Monaten immer wieder um: Zeugen, die einmal in Kontakt mit Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gestanden haben könnten und ihnen vermutungsweise beim Leben in der Anonymität halfen. Im November sagte ein Neonazi und V-Mann aus, der die drei gar nie getroffen hatte, sondern nur einen anderen V-Mann, den Thüringer Tino Brandt, der das Trio eben auch nur eventuell unterstützt hatte. Olaf Klemke, Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben, warf dem Gericht daraufhin vor, es verrenne sich in „Nebenkriegsschauplätzen“.

Aktuell forscht der Strafsenat nach möglichen Kollaborateuren aus den Reihen der militanten Neonazi-Organisation Blood & Honour, deren sächsischen Ableger Antje B. mitgegründet haben soll. Zeugen wie sie sind nicht in der Anklageschrift erwähnt. Erst im Laufe des Prozesses beantragten Anwälte der Nebenkläger die massenweise Ladung von Unterstützerzeugen.

Motivation dahinter ist der Wille nach Aufklärung für ihre Mandanten – Opfer und Angehörige der NSU-Taten. Das haben die Anwälte vor Prozessbeginn immer wieder betont. Doch der Prozess erlahmt zusehends durch die Zeugen, die sich immer wieder für sehr vergesslich erklären oder ihr Wirken in der rechten Szene verklären.

Bei den anderen Prozessbeteiligten schwindet das Verständnis für die nicht enden wollenden Zeugenladungen – die Wut entlud sich am Mittwoch in schrillen Tönen, als Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann die Zeugin befragte: Einige der Anwälte missbrauchten das Verfahren als „Ermittlungsbühne“, erboste sich Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl.

Ungewohnter Beistand kam von einem Vertreter der Anklage, dem Bundesanwalt Herbert Diemer: „Blood & Honour ist nicht Gegenstand der Anklage“, polterte er. Anspruch auf Aufklärung hätten „die wirklich Verletzten, nicht die politisch Verletzten“. Hoffmann schrie danach durch den Saal: „Das muss ich mir von Herrn Diemer nicht gefallen lassen! Das ist eine Beleidigung gegen meine Mandantin!“

Scharmützel wie dieses zeugen davon, dass manche Prozessparteien der Ermittlungen im rechtsextremen Umfeld mittlerweile müde sind. Für das Verfahren ist das eine Krise: So zerbröselt der eigentliche Sinn des Prozesses, der die Angeklagten im Falle eines Schuldspruchs ihren gerechten Strafen zuführen, zum anderen auch die Fragen der Opfer und ihrer Angehörigen beantworten soll.

Wie weit darf sich die Verhandlung von dem Vorwurf entfernen, der in der Anklageschrift geschrieben steht? Wie weit kann und muss Richter Götzl bei seinen Ermittlungen ausholen, während zwei der fünf Angeklagten seit drei Jahren in Untersuchungshaft sitzen? Vorsorglich setzte er Anfang Dezember neue Prozesstage bis 2016 an.

Die Befragungen, die bis dahin stattfinden, sind Tagesgeschäft für die Juristen, die dreimal in der Woche im Verhandlungssaal sitzen. Für die Betroffenen der Terrorserie sind sie jedoch eine andere Welt. Von ihnen lässt sich kaum noch jemand im Gericht blicken.

 

169. Prozesstag – Mögliche Helferin Antje B. erneut im Zeugenstand

Zum zweiten Mal sagt am Mittwoch die Zeugin Antje B. aus. Sie muss sich vermutlich scharfen Fragen aus den Reihen der Nebenklageanwälte stellen – denn bei ihrer ersten Vernehmung war sie den Prozessbeobachtern vor allem aufgefallen, weil sie ihre Zeit in der rechten Szene beschönigte und das radikale Netzwerk Blood & Honour verharmloste.

Den Verdacht gegen sie bestreitet sie: Demnach soll sie Beate Zschäpe nach der Flucht des NSU-Trios im Jahr 1998 ihren Reisepass zur Verfügung gestellt oder das zumindest versucht haben. Durch Aussagen anderer Zeugen gilt als gesichert, dass sie gemeinsam mit ihrem damaligen Mann den V-Mann Carsten Sz. alias Piatto in ihrem Szenegeschäft anstellte und ihm dadurch die vorzeitge Entlassung aus dem Gefängnis ermöglichte. Piatto wiederum meldete dem Verfassungsschutz, dass B. ihren Pass an Zschäpe weiterreichen wollte.

Zudem sagt ein Ermittler aus, der im Jahr 2012 Beweismittel zum zynischen Bekennervideo sammelte, das nach dem Auffliegen der Terrorzelle 2011 auf DVD verbreitet wurde.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

168. Prozesstag – Erkenntnisse zum Mann von Blood & Honour

Immer deutlicher wird im NSU-Prozess die Rolle des radikalen rechten Netzwerks Blood & Honour, das Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach ihrem Untertauchen 1998 unterstützt haben soll. Wichtigster Helfer aus dem Kreis der mittlerweile verbotenen Organisation war nach Aussage mehrerer Zeugen der Neonazi Jan W. aus Chemnitz. Im Gericht durfte er die Aussage verweigern, weil gegen ihn ein Ermittlungsverfahren läuft. Deshalb sagen am Dienstag zwei Polizisten aus Baden-Württemberg aus, die im Jahr 2012 Ermittlungen über W. führten.

Der Zeuge soll den Auftrag gehabt haben, dem geflüchteten Trio eine Waffe zu besorgen. Das hatte der Brandenburger V-Mann Piatto dem Verfassungsschutz gemeldet.

Zudem sagt eine deutsche Richterin aus, die an der Befragung der Schweizer Zeugen Hans-Ulrich M. und Peter-Anton G. beteiligt war. Beide waren im Juni im schweizerischen Thun befragt worden, nachdem sie zu ihren Vernehmungen in München nicht erschienen waren. Sie sollen in der Nähe von Bern die Pistole Ceska 83 besorgt haben, die später in die Hände des NSU-Trios gelangte. Mit der Waffe wurden neun Menschen erschossen.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Ein Spion mit schlechtem Gewissen

Erstmals hat ein Zeuge im NSU-Prozess maskiert ausgesagt. Carsten Sz. war erst brutaler Schläger, dann V-Mann mit Decknamen Piatto. Angeblich spitzelte er, weil er seine Tat bereute.

Immer wieder verstecken sich Zeugen im NSU-Prozess hinter Gedächtnisproblemen, hinter vagen Formulierungen, bisweilen hinter blanken Lügen. Carsten Sz. versteckt sich unter einer dunkelbraunen Perücke, hinter einer dicken Hornbrille und einem schwarzen Gesichtstuch, das er erst abzieht, als er mit dem Rücken zum Publikum am Tisch für die Zeugen sitzt. Der 44-Jährige wird flankiert von einer Anwältin und drei Personenschützern.

Sz. hat Feinde. Er war Neonazi und spionierte unter dem Tarnnamen Piatto als V-Mann für den Brandenburger Verfassungsschutz, sieben Jahre lang. Seine früheren Kameraden stammen aus dem mittlerweile verbotenen Netzwerk Blood & Honour (B&H), einer militanten Gruppe Rechtsextremer. Seit seine Spitzeltätigkeit im Jahr 2000 enttarnt wurde, lebt er in einem Zeugenschutzprogramm.

Deshalb muss Sz. weder seinen Beruf noch seine Adresse nennen. Er soll aussagen, weil er im Jahr 1998 Informationen weitergab, die zur Festnahme des kurz zuvor geflohenen Trios aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten führen können. Das macht ihn zu einem der Schlüsselzeugen im Münchner Verfahren – und deutet einmal mehr auf die engen Bande zwischen B&H und dem NSU.

Sz. hat beim Brandenburger Verfassungsschutz eine Karriere hingelegt, die manche Beamtenlaufbahn in den Schatten stellt. 1992 hatte er mit anderen Neonazis einen Nigerianer in einer Diskothek fast zu Tode geprügelt. Das Amt warb ihn als Spitzel an, als er zwei Jahre später in Untersuchungshaft kam. Dass er 1995 zu acht Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt wurde, machte ihn für den Geheimdienst nicht uninteressant. Im Gegenteil: Piatto standen in der Szene alle Türen offen.

Dabei will er mit dieser schon damals gebrochen haben, wie er in seiner Aussage wissen lässt: Er habe 23 Stunden am Tag in der Zelle gesessen und über sein Leben nachgedacht. „In so einer Situation wollte ich nie wieder stecken. So kam der Entschluss, dass ich sagte: Feierabend“, schildert er mit seiner scheppernden Stimme, die für seine stämmige Statur zu hoch klingt. Nur Spesen habe er für seine Arbeit in Rechnung gestellt. Die langjährige Spionagetätigkeit habe er als Wiedergutmachung für seine Tat betrieben – praktischerweise half ihm die tätige Reue, schnell wieder aus dem Knast entlassen zu werden.

Er schrieb einen Brief an den Verfassungsschutz, kurz darauf besuchte ihn ein Behördenvertreter in der Haft. Die Vereinbarung war besiegelt.

In Rekordgeschwindigkeit wurde Piatto zum Freigänger, ließ sich von seinen Quellenführern aus dem Gefängnis abholen. 1998 informierte er sie schließlich über das Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt – demnach sollte das B&H-Mitglied Jan W. den dreien eine Waffe für einen Raubüberfall beschaffen, eine andere Zeugin sollte Zschäpe ihren Personalausweis überlassen. Es waren Tipps, die die Ermittler auf die Spur des späteren NSU-Trios hätten bringen können. Doch Piattos Hinweise wurden – bewusst oder unbewusst – nicht genutzt.

Der Zeuge sagt, er habe nie ein Mitglied des NSU-Trios kennengelernt, auch keinen der fünf Angeklagten im Prozess. Hervorragend war hingegen seine Vernetzung im damals gerade gegründeten B&H-Ableger in Sachsen. „Das war das bestorganisierte Netzwerk“, erzählt Sz., entstanden zwar als Zusammenschluss von Fans rechter Musik, doch „der absolute Hardliner-Verband“. Wer dort Mitglied war, habe keinen Hehl aus seiner Einstellung gemacht.

Vielleicht ist es das Protektorat des Geheimdienstes, das es dem Zeugen möglich macht, derart offen über die Gruppe zu sprechen – ein Ehepaar, das zu den Mitgründern des Netzwerks gehörte, hatte Blood & Honour im Prozess als harmlosen, bestenfalls rechts angehauchten Musikverein verbrämt.

Die beiden halfen Sz. schließlich auch, aus der Haft freizukommen: Er fand Arbeit in dem von ihnen betriebenen Szenegeschäft. Fünf Jahre nach seiner Verurteilung wurde er deshalb auf Bewährung entlassen und begann, einen eigenen Laden für rechte Musik im brandenburgischen Königs Wusterhausen zu betreiben – wie es sich für einen geläuterten Neonazi gehört. Sz. sagt, er habe nicht wirklich etwas verkauft.

An weite Teile seiner V-Mann-Tätigkeit kann sich Piatto allerdings kaum noch erinnern – vage wie bei etlichen anderen Zeugen ist etwa seine Erinnerung an den Hinweis auf die mögliche Waffenbeschaffung. Das Thema Waffen, sagt Sz., war in der Szene „tagesaktuell“ und omnipräsent: „Jeder wollte gerne Waffen haben. Das gehörte zum guten Ton.“ An die Tipps, die er im Einzelnen an die Behörde meldete, hat er gar keine Erinnerung mehr. Auch gibt er mehrmals an, bereits ab 1991 für das Amt gearbeitet zu haben – was nicht stimmen kann.

„Das ist für mich ein komplett anderes Leben gewesen“, sagt Sz. dazu – seine Zeit als Rechtsextremer undercover, die er als abgeschlossen betrachtet. Damals beschaffte er Szenemagazine und CDs und fertigte Gedankenprotokolle, die er seinen V-Mann-Führern in die Hand drückte. Noch während der Haft stellte ihm das Amt verschiedene Handys und wechselnde Rufnummern – die er abgab, bevor er aus dem Freigang zurückkehrte.

Für den reuigen Schläger, der angeblich nur sein Gewissen reinwaschen wollte, hatte der Verfassungsschutz aber offenbar noch größere Pläne: Nach der Entlassung aus dem Gefängnis 1999 trat er in die NPD ein, „um möglichst viele Informationen zu gewinnen“. Ob das seine eigene Idee war oder vom Geheimdienst befohlen, weiß er angeblich nicht mehr: „Es lag auf der Hand.“

Die Vernehmung wird am Nachmittag unterbrochen, Carsten Sz. wird erneut geladen.

Der Sitzungstag endet mit einem erneuten Antrag der Anwälte des Mitangeklagten Ralf Wohlleben. Sie fordern, ihren Mandanten aus der Untersuchungshaft zu entlassen, in der er mittlerweile seit drei Jahren sitzt. Verteidiger Olaf Klemke moniert, die Schmuggelroute der NSU-Mordpistole Ceska 83 sei „so ungeklärt wie zuvor“. Wohlleben ist angeklagt, weil er die Beschaffung der Pistole angeordnet haben soll. Zudem kritisiert Klemke, dass das Gericht sich zunehmend in „Nebenkriegsschauplätzen“ verheddere und Zeugen aus dem Umfeld des NSU höre, die nichts zur Schuld- und Straffrage der Anklage beizutragen hätten.

 

Holte der Verfassungsschutz seinen V-Mann aus dem Knast? – Das Medienlog vom Mittwoch, 3. Dezember 2014

Auftakt zur anstehenden Befragung des ehemaligen V-Manns Carsten Sz. alias Piatto: Am Dienstag vernahm das Gericht dessen ehemaligen Arbeitgeber Michael P., der Sz. Ende der 1990er Jahre in seinem rechtsextremen Laden beschäftige – wodurch der verurteilte Gewalttäter als Freigänger seiner Spitzeltätigkeit nachgehen konnte. „Thematisch wohl das Richtige für einen Neonazi“, merkt Julia Jüttner auf Spiegel Online an – auch wenn P. sagte, er habe Sz. bald misstraut.

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167. Prozesstag – V-Mann Piatto

Am Mittwoch sagt der Zeuge Carsten Sz. aus, der unter dem Decknamen Piatto für den Brandenburger Verfassungsschutz spionierte. 1998, nach dem Untertauchen des NSU-Trios, steckte der Rechtsextreme dem Geheimdienst, dass ein Anhänger des militanten Netzwerks Blood & Honour mit den dreien in Kontakt stand und ihnen Waffen liefern sollte.

Sz. ist ein verurteilter Gewalttäter: 1994 wurde er festgenommen, nachdem er sich an einem versuchten Mord an einem Asylbewerber beteiligt hatte. Noch aus der Untersuchungshaft nahm er Kontakt zum Verfassungsschutz auf und wurde V-Mann. Sein Quellenführer zeigte sich begeistert über die Informationen, die Piatto bis zu seiner Enttarnung im Jahr 2000 lieferte. Die Behörde gab ihm auch ein Handy, auf dem eine verdächtige SMS des verdächtigen Blood-&-Honour-Mitglieds einging. Inhalt war der Text „Hallo, was ist mit dem Bums“ – die Nachricht werten Ermittler heute als Hinweis auf eine Waffenlieferung an den NSU.

Ein weiterer Hinweis, den Piatto an den Geheimdienst lieferte: Uwe Mundlos sollte sich als Autor an dem Magazin White Supremacy beteiligt haben, das sich als Sprachrohr von Blood & Honour positionierte.

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Die schützende Hand des Geheimdienstes

V-Mann Piatto lieferte aus dem Gefängnis Informationen zum NSU. Der Neonazi war an einer lebensgefährlichen Prügelorgie beteiligt – doch kam schnell wieder aus der Haft frei. Mithilfe des Verfassungsschutzes?

Seinen ehemaligen Angestellten, sagt Michael P., habe er schnell auf dem Kieker gehabt. Er besitze zwar keine Menschenkenntnis, doch er habe gespürt, dass man Carsten Sz. nicht vertrauen könne. P. betrieb im sächsischen Limbach einen Laden „für Jugendliche, die sich in der patriotischen Schiene bewegt haben“. Das bedeutet im Nazi-Jargon: ein Geschäft für Gleichgesinnte, das rechte Musik und rechte Markenkleidung verkauft. P. ließ Sz. ein knappes Jahr lang für sich arbeiten, dann warf er ihn raus, weil er ihm vorwarf, er habe Ware unterschlagen.

Heute sagt P. im NSU-Prozess als Zeuge über die Verbindung zu seinem früheren Kollegen aus. Nach den Maßstäben der rechtsextremen Szene hatte er recht mit seinem Misstrauen: Im Jahr 2000 enthüllte ein Magazin, dass Sz. seit sechs Jahren unter dem Decknamen Piatto als V-Mann für den brandenburgischen Verfassungsschutz arbeitete – und das, obwohl er die meiste Zeit wegen versuchten Mordes in Haft saß. Bei seiner vorzeitigen Entlassung 1999 unterstützte ihn womöglich der Geheimdienst – und Michael P.

Noch während seiner Gefängniszeit in der JVA Brandenburg lieferte er einen wertvollen Hinweis auf drei Neonazis aus Thüringen, die im Januar 1998 nach Sachsen geflohen waren: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Kurz nach deren Untertauchen diktierte Sz. seinen Quellenführern den Tipp, nach dem sein Kumpel Jan W. den Auftrag hatte, für Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt Waffen zu besorgen, bezahlt aus einer Kasse der militanten Organisation Blood & Honour. Später schickte W. eine SMS an Piatto und erkundigte sich, was denn nun „mit dem Bums“ sei. Die Ermittler verzichteten jedoch darauf, sich an W.s Fersen zu hängen, und so womöglich auf Hinweise auf den Aufenthaltsort des Trios zu stoßen.

Dafür, dass seine Hinweise so wenig Widerhall fanden, wurde Sz. vom Verfassungsschutz regelrecht hofiert. Im NSU-Komplex ist er einer der wichtigsten V-Männer von allen. Das zeigt sich auch an der Befragung von Michael P. Der 43-Jährige könnte einiges erzählen von seinen eigenen Verstrickungen in das Umfeld von Blood & Honour, wo sich besonders seine Ex-Frau engagierte, die vor zwei Wochen in München ausgesagt hatte. Doch die meiste Zeit befragt ihn Richter Manfred Götzl nach den Informanten, die sich in der Szene tummelten.

P. sagt, er habe von Sz.s Umtrieben etwas geahnt: „Er wirkte sehr von außen geleitet, konnte niemandem in die Augen gucken.“ Das allerdings bemerkte er erst ziemlich spät. Denn als er Sz. im April 1999 in seinem Geschäft namens Sonnentanz einstellte, handelte es sich offenbar um einen Akt zutiefst empfundener Kameradschaft: Sz. saß im Gefängnis, weil er 1992 an einem Gewaltexzess beteiligt war. Dabei wurde ein Nigerianer in einer Brandenburger Diskothek beinahe zu Tode geprügelt. 1994 wurde er verhaftet und ein Jahr später zu acht Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt. P. spricht heute von einer „Kneipenschlägerei“.

Sz. nahm die Stelle als Freigänger an. Dass er sich als verurteilter Gewalttäter so frei in der Öffentlichkeit bewegen konnte, dafür dürfte vor allem seine Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz verantwortlich sein. Noch in der Untersuchungshaft hatte er sich als Informant angeboten.

Weder der Geheimdienst noch die Justizvollzugsanstalt hatten ein Problem damit, dass Sz. in einem Laden des Milieus arbeitete, in dem er straffällig geworden war. P. erzählt, der neue Kollege habe in seiner Heimat Brandenburg den Markt sichten und potenzielle Kunden ausmachen sollen. Dort wollte er eine Zweigstelle des Sonnentanz eröffnen. Und noch einen Vorteil brachte Sz. mit: „Das Arbeitsamt hat ihn gefördert.“

Wollte von den Verantwortlichen niemand hinsehen, wo sich der verurteilte Gewalttäter Tag für Tag herumtrieb? Oder geschah all dies unter der schützenden Hand des Geheimdienstes?

P. sagt, bei Sz. sei es ihm irgendwann so vorgekommen, „als müsste er jeden Tag eine Sache planen“. Denn V-Mann Piatto war viel unterwegs, wollte auf einmal Plakate kleben oder eine neue Ortsgruppe einer Partei gründen. „Ich habe das als Haftmeise abgetan“, als Schrulligkeit nach der Zeit hinter Gittern. Dabei handelte es sich möglicherweise um Aktionen, die Sz. mit der Segnung des Verfassungsschutzes veranstaltete.

Fest steht, dass die Arbeit im Sonnentanz Sz. sogar mehrere Jahre Haft ersparte: Im Dezember 1999 befasste sich ein Gericht mit der Frage, ob die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Die Richterin lobte im Urteil, dass Sz. sich als „Vertriebsassistent und Werbegestalter“ betätige. Ob sie wusste, dass der Häftling wieder im Dienst für den nationalen Kampf stand, ist nicht bekannt. Er kam frei.

 

166. Prozesstag – Blood-&-Honour-Aktivist Michael P.

Erneut untersucht das Gericht die Verbindung des NSU-Trios zum rechtsradikalen Netzwerk Blood & Honour: Am Dienstag geladen ist Michael P., der frühere Ehemann der Zeugin Antje B. Wie sie war er in der sächsischen Sektion des militanten Netzwerks aktiv und betrieb einen Szeneladen. Er ist wegen mehrerer rechtsextremer Taten vorbestraft. Bei einer Überwachung seines Telefonanschlusses hörten Ermittler, wie er die Namen Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt erwähnte. Naheliegend ist daher, dass P. das 1998 geflüchtete Trio unterstützt haben könnte.

Zudem sagen zwei Polizisten aus dem schweizerischen Luzern aus. Sie führten 1998 Ermittlungen gegen das Waffengeschäft, aus dem die NSU-Mordpistole Ceska 83 stammt. Damals hatte das Unternehmen offenbar Waffen an einen Kunden verkauft, der nicht zum Kauf berechtigt war.

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165. Prozesstag – Frühe Aussagen von Zschäpe und Wohlleben

Erneut befasst sich das Gericht mit dem Fall der Bombenattrappe aus dem Jahr 1996, die Uwe Böhnhardt an einer Autobahnbrücke nahe Jena platziert haben soll. Damals sagten auch Beate Zschäpe und der Mitangeklagte Ralf Wohlleben bei der Polizei aus – und deckten ihren Kameraden Böhnhardt, indem sie ihm ein Alibi gaben. Für die Tat wurde Böhnhardt verurteilt, später wurde das Urteil aus Mangel an Beweisen aufgehoben.

Ein Polizist, der Zschäpe und Wohlleben kurz nach der Tat vernahm, sagt nun als Zeuge im Prozess aus. Die Aussage, die Zschäpe zwei Jahre vor dem Untertauchen des NSU-Trios machte, könnte heute Hinweise zur Ideologie von Böhnhardt liefern, zudem auf den Zusammenhalt des NSU-Trios. Zu der Tat hatte das Gericht bereits mehrfach Ermittler von damals angehört.

Zudem sagt ein Gutachter des Bundeskriminalamts aus, der für den Prozess ein Gutachten erstellt hat.

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