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Zugabe, Herr Lehrer!

Im vergangenen Jahr spielte der Saxofonist Bunky Green mit einer jungen Band in Salzau ein denkwürdiges Konzert. Nun erscheint der Mitschnitt »Live At Jazz Baltica«.

Bunky Green Salzau Jazz Baltica

Es ist eine Geschichte aus der Zeit, in der es noch kein Internet gab: Auf einmal war der Altsaxofonist Bunky Green verschwunden. Nicht in den sozialen Untiefen einer amerikanischen Großstadt, nicht in einer Klinik auf dem Land – er wurde Dozent. Im Jahr 1972 begann er an der Chicago State University zu lehren, seit Anfang der neunziger Jahre leitet er den Fachbereich Jazz an der University of North Florida. Mittlerweile ist er 73 Jahre alt.

Bunky Green gilt als einflussreich, obwohl er nur wenige Alben aufgenommen hat. Seine Vorbilder waren einst Charlie Parker und Eric Dolphy, Greens Spiel wiederum inspirierte Musiker wie Greg Osby und Steve Coleman. Coleman war es auch, der vor vier Jahren Bunky Greens Comeback Another Place produzierte. Der junge Jason Moran hatte damals das Klavier gespielt, er schwärmt noch heute von den Aufnahmen. Die amerikanische Fachpresse hatte das Werk in höchsten Tönen gelobt, im Sommer 2007 spielte Green schließlich seine neuen Stücke beim Jazz Baltica Festival im norddeutschen Salzau. Dieses Konzert wird nun auf CD veröffentlicht.

Die in Berlin lebende Bassistin Eva Kruse schätzte Bunky Green schon seit langer Zeit als Komponist ihres Lieblingslieds Little Girl I’ll Miss You. Mit Green, dem Pianisten Carsten Daerr und dem Schlagzeuger Nasheet Waits bildete sie das Salzau Quartet, bei ihrem Lieblingsstück spielte sie selbst die Einleitung und ein schönes Solo. Ähnlich wie Jason Moran war das Zusammenspiel mit Green ihr eine generationsübergreifende Schlüsselerfahrung.

Aus jedem Stück dieser CD klingt Greens überzeugte Haltung zur Freiheit der Improvisation. Mal erfrischend, mal zurückhaltend, immer traditionsbewusst führt er durch die Melodien. Wahrscheinlich stimmt es sogar, dass dem Pionier des Free Jazz, Ornette Coleman, dieser Konzertmitschnitt aus Salzau so gut gefallen habe, dass er riet, ihn zu veröffentlichen.

»Live At Jazz Baltica« von Bunky Green’s Salzau Quartet ist bei Traumton/Indigo erschienen.

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Mutloser Retter

Der Saxofonist James Carter galt Mitte der Neunziger als Hoffnung des schwarzen Jazz. Mit „Present Tense“ möchte er nun die Widerstandskraft dieser Musik beleben – und schwimmt doch nur mit dem Strom.

James Carter Present Tense

Dass er im Jahr 2004 mit dem Dr. Alaine Locke Award für seine herausragenden Leistungen im Dienste der afroamerikanischen Gemeinschaft ausgezeichnet wurde, erfüllt den 39-jährigen Saxofonisten James Carter noch immer mit Stolz. Dass er seit Mitte der neunziger Jahre zu den einflussreichsten Jazzmusikern zählt, hat ihm jedoch kaum geholfen. „Zu früh, zu schnell, zu viel“ – so urteilten Kritiker und Musikerkollegen angesichts seines rasanten Aufstiegs nach seinem Debüt JC On The Set und seinem balladesken Meisterwerk A Real Quietstorm. Mit JC On The Set hatte er damals die Hoffnung geweckt, die zerstrittene amerikanische Jazz-Szene zu einen. Von einem Jazz-Krieg war die Rede. Carter fand Anerkennung auf beiden Seiten, bei den Neotraditionalisten wie der verfeindeten schwarzen Avantgarde.

Doch Carter hatte kein Glück als Leiter einer Band. Als der Ruhm kam, verließen ihn seine experimentierfreudigen Musiker. In den letzten Jahren war er mit seiner Orgeljazz-Band unterwegs und spielte den Unterhalter, er gab ein besorgniserregendes Bild ab. Gleich, ob er improvisatorische Kunststückchen aus seiner Kuriositäten-Schatztruhe holte oder einen Blues sang, Carter drehte sich zunehmend um sich selbst. Das angebliche Publikumsinteresse diente ihm als Alibi – in Wirklichkeit fehlte ihm der Mut.

Bei seinem neuen Album Present Tense standen ihm nun eine große Plattenfirma und der anerkannte Jazzproduzent Michael Cuscuna zur Seite. Auch ihre Unterstützung kann die Beliebigkeit des Materials nicht verdecken. Wen interessieren schon seine drei Eigenkompositionen auf der CD, wenn gerade diese überhaupt nicht auffallen? Es ist der Brei aus großem Können und fehlender Vision, der nicht mundet und doch erstaunt. Present Tense beginnt mit einem großartigen Solo des Pianisten D.D. Jackson. Seine Wucht weckt die Hoffnung, hier würde man endlich befreit vom Standard-Gedudel der vergangenen Jahrzehnte. Man spürt, weshalb Carter vor zehn Jahren als Retter des Jazz gehandelt wurde. Doch dann bröckelt es schnell wieder, zerfasert in Bossa, Hotelbar und eine Traditions-Verliebtheit, deren kritisches Potenzial sich nicht einmal Eingeweihten erschließt.

Carter redet oft vom HipHop, von schwarzer Kultur und der Widerstandskraft des Jazz. Er möchte alle bedienen, so regiert am Ende doch der Mainstream.

„Present Tense“ von James Carter ist bei Emarcy Records/Universal erschienen.

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Zerbrochen in Amerika

Die Bilder des vor 20 Jahren verstorbenen Graffitikünstlers Jean-Michel Basquiat beeindruckten den Bassisten Lisle Ellis so sehr, dass er ihm nun eine Totenmesse komponiert hat: „Sucker Punch Requiem“.

Lisle Ellis Sucker Punch Requiem - An Hommage to Jean Michel Basquiat

Es ist das Jahr 1977 in New York. Der 17-jährige Jean-Michel Basquiat besprüht nachts mit seinem Freund Al Diaz Hauswände in Manhattans East Village. Ihre Graffiti prangern die rassistische Praxis von Polizei und Justiz an, die beiden signieren sie mit „SAMO shit“ (Same Old Shit). Viele Menschen können sich mit den Botschaften identifizieren.

Vier Jahre später sprüht der Künstler Basquiat Jimmy Best on his back to the sucker punch of his childhood files auf eine Leinwand, Jimmy Best wurde von seinem Schwarzsein eingeholt und unfair zu Boden gebracht. Ein anderes seiner Bilder heißt Ornithology. Es bezieht sich auf den Jazzsaxofonisten Charlie „Bird“ Parker, auf seine künstlerische Kraft, seine Sensibilität und sein Zerbrechen an der von rassistischen Übergriffen geprägten Wirklichkeit in den USA.

Das Jimmy-Best-Graffito beeindruckt den kanadischen Bassisten Lisle Ellis. Er studiert Ende der Siebziger in New York und sieht es an einer Hauswand. Die meisten anderen Botschaften Basquiats gehen an Ellis unbemerkt vorbei, ebenso der Wirbel um den Künstler Mitte der Achtziger und sein Herointod im August 1988. Die Bedeutung Basquiats wird Ellis erst bewusst, als er selbst beginnt zu malen. Ende der Neunziger ist das, die Bilder Basquiats begleiten Ellis in dieser Zeit, das Dunkle, das comicartig Verzerrte, das Selbstzerstörerische und Verletzliche.

Ellis beschließt, ein Requiem für Basquiat zu komponieren. Sucker Punch Requiem nennt er es, in Anlehnung an seine erste Begegnung mit der Kunst Basquiats. Ellis engagiert sechs namhafte Musiker, darunter den Saxofonisten Oliver Lake und den experimentierenden Posaunisten George Lewis. Die Aufnahmen entstehen an zwei Tagen im September 2005 in Brooklyn. Das Septett folgt anhand von 16 Stücken dem Leben Basquiats. Die Titel erinnern an verschiedene Aspekte seines künstlerischen Werks, an die Graffiti an New Yorker Hauswänden Ende der Siebziger, an schwarz-weiße Röntgenbilder, an kalte Straßenschluchten und die harten Farb- und Formkontraste der achtziger Jahre. Diese Vertonung klingt wie ein verschlungener Tanz, wie eine Sinfonie des Verlorenseins. Ellis zeichnet Basquiat als Individuum, das sich durch eine Stadt im Stillstand bewegt. Als den Einzigen, der erkennt.

Beim zweiten Stück, Incantation And Ascent, bläst Oliver Lake ein einsames Solo, das an John Coltranes Ascencion erinnert. Auch bei den anderen Stücken ragen solche Momente reiner Schönheit zwischen den zerbrochenen Monumenten aus Beton und Mörtel hervor.

Ellis erforschte für die Kompositionen kirchliche Requien. Auf der Suche nach einer möglichst reduzierten musikalischen Struktur fand er eine traditionelle sechsteilige Totenmesse der römisch-katholischen Kirche. Er begann, für jeden der sechs Teile Themen zu schreiben und diese anschließend zu verändern, gleichsam zu übermalen. So entstanden Klangbilder und sich überlappende musikalische Formen. Ellis komponierte sie nicht aus, vieles blieb unfertig. Rau, kantig und seltsam schön muten sie an, wie die Bilder und das Leben Basquiats.

„Sucker Punch Requiem – An Homage to Jean Michel Basquiat“ von Lisle Ellis ist bei Henceforth Records erschienen.

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Das Neue kommt ohne Tusch

Der Saxofonist Steve Lehman arbeitet an der Zusammenführung von Komposition und Improvisation. Sein neues Album „On Meaning“ zeugt von der Suche nach dem Unerhörten.

Steve Lehman On Meaning

Der in New York geborene Altsaxofonist Steve Lehman gehört zu einer neuen Generation experimentierender Jazzmusiker. Er beklagt sich nicht über die fehlende staatliche Unterstützung seiner Kunst, sondern wirbt die Fördergelder ein. Während der Schlagzeuger seines Quintetts Tyshawn Sorey tagsüber in einem Instrumentengeschäft arbeitet, damit er sich abends von kommerziellen Erwägungen unbeeinflusst um den musikalischen Fortschritt kümmern kann, widmet sich Lehman ganz der Musik.

Unlängst erhielt er die finanzielle Unterstützung der Chamber Music America, um ein Stück für Oktett zu komponieren. Den Kern des Oktetts bildet Lehmans Quintett mit Tyshawn Sorey, dem Trompeter Jonathan Finlayson, dem Vibrafonisten Chris Dingman und dem Bassisten Drew Grass. Sorey und Finlayson spielten bereits mit Steve Coleman, Dingman schloss kürzlich sein Studium am Thelonious Monk Institute in Kalifornien ab. Lehman arbeitet seit fünf Jahren mit diesen Musikern zusammen, gemeinsam nahmen sie seine neue akustische CD On Meaning auf.

Sein Interesse gelte nicht nur dem Musizieren, berichtet Lehman. Er ist jetzt 29 Jahre alt, wiederholt lebte er für längere Zeit in Frankreich. Während seines letzten Aufenthalts studierte und unterrichtete er am Pariser Konservatorium. Daneben forschte er über die Arbeitsbedingungen der schwarzen Chicagoer Association For The Advancement Of Creative Musicians (AACM) im Paris der siebziger Jahre. Seit einem Jahr untersucht Lehman an der Columbia University interaktive Kompositionskonzepte. Seinem dortigen Mentor George Lewis widmete Lehman das Album On Meaning.

Er sei auf der Suche nach neuen Umgebungen für Improvisatoren, sagt Lehman, ihm sei die Integration von Komposition und Improvisation wichtig. Um neue Wege des Zusammenspiels aufzutun, verlasse er sich auf die individuellen Stärken der Musiker. Bei der Lektüre des Buchs Rationalizing Culture: IRCAM, Boulez, and the Institutionalization of the Musical Avant-Garde der Anthropologin Georgina Born sei ihm klar geworden, dass er an den technologischen und kompositorischen Fortschritt glaube, an neue Technologien, die dem Künstler neue Entwicklung ermöglichten.

Ihm und vielen seiner jungen Kollegen sei die Weiterentwicklung der Musik eine Lebensaufgabe. Sie seien auf der Suche nach persönlichen und einzigartigen Klangstrukturen, nach dem Unerhörten. Das subjektiv als neu Empfundene kommt selten mit einem Tusch daher, auch davon berichtet On Meaning.

„On Meaning“ von Steve Lehman ist bei Pi Recordings/Sunny Moon erschienen.

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Kraftwerk auf Körpertemperatur

Der Münchner Christian Prommer bringt zehn Klassiker der elektronischen Musik neu zum Klingen. Sein Jazzquartett verleiht den Stücken auf dem Album „Drumlesson Volume 1“ Wärme.

Christian Prommer's Drumlesson

Oft ist die Idee eines Albums besser als ihre Umsetzung. Vor allem beim Vermengen von Musikstilen bedeutet neu nicht unbedingt gut. Viele Ideen werden binnen Wochen zu unerträglichen Maschen. In den Achtzigern trafen sich Pop und Klassik, später Klassik und Metal, vor ein paar Jahren wurde New Wave in Bossa gewandet, Poplieder kamen als Swing oder Easy Listening daher und Rap und Metal gingen geheimnisvolle Allianzen ein. Eine neuere Mode ist es, Rockklassiker auf karibisch zu trimmen. Oft klingen solche Mixturen, als hätte der Meisterfälscher Konrad Kujau seinen feinen Pinselstrich mit minderwertigem Gerät geführt, die Mona Lisa mit Wachsmalstiften und Kandinski mit Filzern kopiert.

Noch ein Versuch: Der Münchner Musiker und Produzent Christian Prommer bringt auf Drumlesson Volume 1 Elektronik und Jazz zusammen. Er ist nicht der erste, schon der Nu Jazz der späten Neunziger lebte von akustischen Sprenkeln im elektronischen Ambiente. Heute klingt solche Musik bieder, man hört sie bei Starbucks und bei Karstadt im Fahrstuhl.

Prommer macht es anders, und er macht es gut. Zehn wahrhaftige Klassiker der elektronischen Musik nimmt er sich vor und lässt sie von einem Jazzquartett umsetzen. Er selbst arrangiert und produziert die Stücke. House-Musik wie Mr. Fingers Can You Feel It aus den späten Achtzigern steht neben mehreren Techno-Stücken aus den Neunzigern, manche neuere Produktion wie Âmes REJ neben dem 30 Jahre alten Trans Europa Express von Kraftwerk. Prommer mischt die Stile bedacht, er verziert nicht bloß den mit dem anderen. Das Analoge und das Digitale durchdringen sich in seiner Musik. Dabei tönt weit und breit keine Elektronik. Drumlesson Volume 1 ist eine Jazzplatte.

Hier waltet die Liebe zum Detail. Die Stücke sind weise gewählt, sie repräsentieren unterschiedliche Schulen des Tanzflächenfüllens, Old School Chicago House, Detroit Techno, Minimal und wie sie alle heißen. Aufgenommen wurde das Album an einem Tag in einem Münchener Studio mit namhaften Jazzmusikern. Wolfgang Haffner spielt das Schlagzeug, Ernst Ströer die Perkussion. Über die Tasten des Flügels tanzen die Finger Roberto Di Gioias, Dieter Ilg zupft den Kontrabass. Vier Große, die schon mit noch Größeren des Genres im Studio und auf der Bühne standen, mit Bill Evans, mit Till Brönner, mit Passport.

Die vier Musiker greifen das Stumpfe, das Treibende des House immer wieder auf, selten verlassen sie den Takt, so als hörten sie die Originale im Kopfhörer während sie selbst spielten. Sie lösen die starren Strukturen auf ihre Art auf, spielerisch. Da wechseln sich Kontrabass und Klavier in der Melodieführung ab, springt der Bass plötzlich an die Stelle der Trommel und treibt den Rhythmus an. Bei Higher State Of Consciousness haut Roberto Di Gioia einen scheppernden Takt in die abgedämpften Tasten seines Flügel. Josh Wink schrieb das Stück vor 13 Jahren, er habe beim Hören dieser Version eine Gänsehaut bekommen, sagte er.

Bei Trans Europa Express wird offensichtlich, dass Prommer auch eine Art Rückführung betreibt. Kontrabass und Schlagzeug spielen ein typisches Jazzmotiv, einen Rhythmus, der klingt wie eine stampfende Dampflock. Kraftwerks frühe Arbeiten Anfang der Siebziger orientierten sich an solchen bildhaften Rhythmen, reduzierten sie und kühlten sie ab. Prommer bringt sie nun wieder auf Körpertemperatur, haucht ihnen neues Leben ein. Das Klavier übernimmt die repetitive Melodie, eigentlich nur ein ansteigender Klang. Di Gioia variiert sie immer wieder ganz leicht und bringt Distanz zwischen Original und Kopie. Und plötzlich klingt die Kopie wie ein neues Original.

Manche Stücke werden nicht zum ersten Mal so stark verfremdet. Francesco Tristano spielte zuletzt Derrick Mays Strings Of Life auf dem Flügel, ganz ohne Schlagzeug. Hier nun klingt es wieder ganz anders. Das Klavier umspielt flirrende Perkussion, der Bass taucht aus grummelnden Tiefen an die Oberfläche und stellt sich den Tastenarabesken entgegen.

Im zweiten Teil der Platte tritt die Basstrommel in den Vordergrund und stimmt den dumpfen House-Schlag an. Bei Claire ist das so und bei Higher State Of Consciousness. Der freien Improvisation lässt das Konzept wenig Raum, jedes Instrument trägt den Rhythmus, keines kann sich für mehrere Takte lossagen und sein eigenes Lied singen. Auch hier liegt das Besondere im Detail, in den leicht überhörbaren Schlenkern, die sich die Musiker hin und wieder erlauben.

Das Beeindruckende an Drumlesson Volume 1 ist, dass es seine Geschichte selbst erzählt und der theoretische Hintergrund letztlich bedeutungslos ist. Man muss sich die Nächte in den Achtzigern nicht in Clubs um die Ohren geschlagen haben, um Wohlklang zu empfinden. Man muss die zehn Originale nicht einmal kennen, um von der Kraft des Albums ergriffen zu werden.

Aber was stellt man nun mit diesem Bastard an? Soll man ihn wie eine gute Jazzplatte bei Rotwein am Kamin in High Fidelity genießen? Oder im Club dazu tanzen? Beides wäre einen Versuch wert.


Mit Christian Prommer und seinen Musikern unterwegs in Hamburg – eine Bildergalerie »

„Drumlesson Volume 1“ von Christian Prommer’s Drumlesson ist bei Sonar Kollektiv erschienen.

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Er liest, sie spielen

Vor 50 Jahren nahm der amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac zwei Alben mit Jazzmusikern auf. Zum Jubiläum werden sie nun neu aufgelegt.

Jack Kerouac Poetry

In den Texten des Poeten Jack Kerouac lebten sie, „die Kinder der amerikanischen Bop-Nacht“. Da war der junge Charlie Parker, der aus Kansas City nach Harlem gekommen war, „übend an regnerischen Tagen“. Er steckte so voller Energie, dass er auf der Bühne „im Kreis lief, während er spielte“. Jack Kerouac ging zu den Konzerten des Altsaxofonisten und ließ sich von ihm inspirieren. Nach Parkers Tod im Jahr 1955 widmete Kerouac ihm das Gedicht Charlie Parker. Es erschien Ende der Fünfziger in dem Gedichtband Mexico City Blues. Im Vorwort des Bandes schrieb Kerouac: „Ich möchte als Jazz-Dichter verstanden werden, der einen langen Blues spielt, in einer Jam-Session an einem Sonntagnachmittag, 242 Refrains.“

Ende der fünfziger Jahre nahm Kerouac zwei Schallplatten auf. Er las seine Texte, Musiker improvisierten eine Untermalung. Auf Poetry For The Beat Generation spielte Steve Allen das Klavier, bei Blues And Haikus begleiteten die Tenorsaxofonisten Al Cohn und Zoot Sims den Literaten. Bob Thiele produzierte die Aufnahmen für die Plattenfirma DOT Records, später wurde er durch seine Aufnahmen mit John Coltrane bekannt. Die Platten sind seit Jahren nur schwer erhältlich, zum 50. Jubiläum werden sie nun neu aufgelegt.

Poetry For The Beat Generation entstand Anfang des Jahres 1958. Die ersten Presseexemplare waren bereits verschickt, da stoppte Labelchef Randy Wood den Vertrieb. Ihm sei aufgefallen, erklärte er der Zeitschrift Variety, dass die Texte nicht jugendfrei seien. Er wolle seinen Kindern so etwas Anstößiges nicht zumuten, seine Plattenfirma würde nur „saubere Familienunterhaltung“ veröffentlichen. Bob Thiele war außer sich und kündigte bei DOT. Mit Steve Allen gründete er die Plattenfirma Hanover Signature und brachte die Aufnahmen Kerouacs im Sommer 1959 selbst heraus.

Auf dem Album liest Kerouac auch sein Gedicht über den verstorbenen Charlie Parker. Verzweiflung klingt in seiner Stimme, er vergleicht Parker mit Buddha und Beethoven. Steve Allen deckt die quälenden Worte mit seinem sanften Klavierspiel zu. Es ist seltsam, die Texte Kerouacs ausgerechnet von Allen begleitet zu hören, denn als Provokateur galt der Pianist nie. Kurz nach ihrem Zusammenspiel lud er Kerouac in seine betuliche Steve Allen Show ein und befragte ihn zu dem Buch On The Road.

Jack Kerouac Blues And Haikus

Noch im selben Jahr produzierte Thiele eine weitere Aufnahme mit Kerouac, diesmal begleiteten ihn Zoot Sims und Al Cohn ins Studio. Kerouac schrieb danach: „Schon immer dachte ich, es müsse wunderschön sein, nur ein Saxofon zu haben. Ohne Rhythmusgruppe oder Klavier. Einfach das pur vibrierende Horn. Zoot und Al blasen gedankenvoll süße, metaphysische Sorgen.“ Blues And Haikus wurde im Oktober 1959 ebenfalls bei Hanover veröffentlicht.

Die beiden Platten könnten unterschiedlicher nicht sein. Während Steve Allens Klavierspiel die Gedichte eher plaudernd untermalt, setzen Zoot Sims und Al Cohn kraftvolle Kontrapunkte mit zerrissenen, perkussiven Tönen. Wie Presslufthämmer stemmen ihre Hörner den Asphalt der Worte auf. Sie bringen die einsam im Sonnenlicht flirrenden Straßen ebenso zum Vibrieren wie die von Musikern, Nachtschwärmern, Liebenden und Verzweifelten bevölkerten nächtlichen Straßen New Yorks. Kraftvoll klingt das, eben on the road.

„Poetry For The Beat Generation“ von Jack Kerouac und Steve Allen sowie „Blues And Haikus“ von Jack Kerouac, Al Cohn und Zoot Sims wurden bei EMI wiederveröffentlicht.

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Zu alt für Prügeleien

Das Globe Unity Orchestra feiert seinen Geburtstag: Seit 40 Jahren machen die Musiker um Alexander von Schlippenbach Free Jazz in Bigband-Besetzung.

Das Jubiläum wurde dort gefeiert, wo alles begonnen hatte. Im Jahr 1966 war das Globe Unity Orchestra als erste deutsche Free-Jazz-Formation in Bigband-Besetzung für einen Auftritt beim Berliner JazzFest entstanden, 40 Jahre später stand die Gruppe um den Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach dort wieder auf der Bühne. Die CD Globe Unity – 40 Years fasst das Wirken des Orchesters zusammen und präsentiert neues Material. Aufgenommen wurde sie bei Konzerten in Berlin und Baden-Baden.

Als er mit dem Free Jazz angefangen habe, seien traditionelle Formen verboten gewesen, erzählt Alexander von Schlippenbach. Das habe sich geändert, das Genre sei ein bisschen ausgefranst in letzter Zeit. So konzentriere er sich auf das, was ihm wichtig sei: die Improvisation. Derzeit spielt er mit zwei Schlagzeugern und einem guten Dutzend Bläser zusammen, erst kürzlich stießen der Bassklarinettist Rudi Mahall, der Posaunist Jeb Bishop und der Trompeter Axel Dörner zur Formation. Viele seiner Musiker haben die 60 überschritten, ihre Soli klingen stolz. Von Schlippenbachs Arrangements profitieren vor allem jene der 15 Solisten, die sich nicht gegen die Klangstürme des Orchesters behaupten müssen, sondern Entwicklungsraum für den eigenen Ton bekommen. Der durch einen Schlaganfall geschwächte Trompeter Kenny Wheeler nutzt diese Gelegenheit in Nodago mit nach wie vor zauberhaftem Ton, ebenso Axel Dörner in Steve Lacys The Dumps.

Nicht alle bekommen so viel Raum. Der schwarze Posaunisten George Lewis erläutert, dass der Free Jazz Disziplin fordere. Schlippenbach habe ihm untersagt, bei den neuen Aufnahmen seine „little instruments“, kleine Flöten und Ähnliches, zu benutzen. Es sei aber kein Problem gewesen, diesen Wunsch zu respektieren. Überhaupt scheint Harmonie eingekehrt zu sein, früher ging es schon mal hoch her beim Globe Unity Orchestra. Im Büchlein zur Platte 20th Anniversary hatte Schlippenbach 1988 noch von handgreiflichen Auseinandersetzungen berichtet, der Saxofonist Peter Brötzmann und der Bassist Peter Kowald seien danach eigene Wege gegangen.

Ein letztes Mal zu hören ist der im vergangenen Jahr verstorbene Posaunist Paul Rutherford. In jüngster Zeit hatte er sich noch beklagt, dass er in London keine Auftritte mehr bekäme und in einem Nachtclub als Türsteher jobben müsse. George Lewis erweist Rutherford in den Erläuterungen zur CD die letzte Ehre und berichtet, wie sein Spiel vor gut 30 Jahren Lewis’ Ansichten über die Klangerzeugung mit der Posaune nachhaltig verändert habe.


Sehen Sie in einer Bildergalerie, was die Mitglieder des Globe Unity Orchestra zum Jubiläum sagen »

„Globe Unity – 40 Years“ vom Globe Unity Orchestra ist bei Intakt erschienen.

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Gurren aus dem Unruhestand

Der schwarze Trompeter Bill Dixon entlockt seinem Instrument stets unerhörte Klänge. Seinen neuen Aufnahmen mit dem Exploding Star Orchestra hört man an, dass er gar nicht anders kann.

Bill Dixon with Exploding Star Orchestra

Vor zwölf Jahren ging der Trompeter Bill Dixon in den Ruhestand, da war er 71 Jahre alt. Aufnahmen des kompromisslosen Musikers waren nur wenige erschienen, doch seine Klänge hatten viele Menschen beeinflusst. Dixon produzierte Klänge, gewaltige und unheimliche, quietschende, gurrende und gurgelnde, lange und laute. Wenn heute ein Trompeter seinem Instrument Geräusche entlockt, klingt Dixon fast immer durch. Man kann Axel Dörner fragen oder Rob Mazurek: Dixon habe Türen aufgestoßen in eine Welt, die man sogar im fortschrittsgläubigen Jazz nicht gekannt habe, darin stimmen sie überein.

Der Chicagoer Trompeter Rob Mazurek traf Dixon vor einiger Zeit. Was er hörte, verglich er mit Schwärmen heiliger weißer Vögel auf dem Flug in eine exzellente Ewigkeit. Es gelang ihm, Dixon zum Spiel mit seinem Exploding Star Orchestra zu bewegen. So erscheint nun eine neue Aufnahme des Pensionärs, Bill Dixon With Exploding Star Orchestra.

Die Trompete könne mehr, sagt Dixon, es habe sich nur noch nicht durchgesetzt. Ihr sei es egal, was man mit ihr anstelle, sie sei nur ein Stück Metall. Die Schreibmaschine kümmere es schließlich auch nicht, ob auf ihr religiöse Gedichte, erotische Romane oder politische Pamphlete getippt würden.

Im Jahr 1964 initiierte Dixon die Konzertreihe October Revolution in Jazz, einen musikalischen Selbstversuch der jungen New Yorker Avantgarde. Es ging um Selbstorganisation und Selbstbestimmung, um neue Kompositionsformen und Improvisationsbedingungen. Vier Autostunden nördlich der Stadt war er später knapp drei Jahrzehnte lang als Musiklehrer am College tätig. Anders als die meisten seiner frühen Kollegen wollte er seine Musik nicht kommerziell ausschlachten lassen. Wer keine Prinzipien habe, würde über den Tisch gezogen, sagt er.

Man hätte das Label Motown in den sechziger Jahren davon überzeugen sollen, die Platten der schwarzen Avantgarde zu veröffentlichen, sagt er rückblickend. Nur selten hat der Afroamerikaner Dixon eine Vorlesung oder einen Workshop in einem schwarzen College gegeben, schwarzes Publikum besucht seine Konzerte selten. Dass man sich selbst organisieren müsse, war die Parole vor 40 Jahren, erzählt er. Die jungen schwarzen Musiker hätten nicht richtig zugehört.

Dixon machte die Aufnahmen mit dem Exploding Star Orchestra, weil er spürte, dass die jungen Musiker aus Chicago brannten. In jeder Sekunde des Albums hört man, dass sie diese Musik machen müssen, dass es für sie nichts anderes gibt. Ein Künstler müsse immer das tun, was er gut könne, ansonsten würde er spüren, dass sein Leben sinnlos sei, sagt Dixon. Die wichtigsten Dinge in seinem Leben seien passiert, als er nichts hatte. Weder er noch seine Kollegen hätten Rücklagen oder Zukunftsaussichten gehabt. Sie hätten immer nur das getan, was sie tun wollten. Bill Dixon With Exploding Star Orchestra klingt wie die Fortentwicklung dieser Geisteshaltung.

Das unbetitelte Album von Bill Dixon With Exploding Star Orchestra ist bei Thrill Jockey erschienen.

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Ein schwarzer Amerikaner in Paris

Im selbstgewählten Exil schreit David Murray den Blues heraus, sein Saxofon ist die Tonspur des Unrechts. Und Cassandra Wilson singt dazu.

David Murray Sacred Ground

In diesem Jahr wurde beim Sundance Film Festival der afro-amerikanische Regisseur Marco Williams für seinen Dokumentarfilm Banished ausgezeichnet. Er war tief in den Süden der USA gereist, nach Missouri und Arkansas, und hatte dort weiße Gegenden besucht, Pierce City, Harrison oder Forsyth County. Sie entstanden in der Zeit von 1890 bis 1930, zwischen Bürgerkrieg und Großer Depression. Tausende schwarzer Familien mussten ihre Häuser verlassen und fliehen. „Geh oder stirb“ war das Motto dieser Vertreibung.

Der Saxofonist David Murray hatte die Musik zu diesem Film komponiert. Er blieb am Thema und bat den afro-amerikanischen Dichter Ishmael Reed um zwei Liedtexte für Cassandra Wilson, die aus dem Süden stammt und schon in der preisgekrönten Komposition Blood On The Fields von Wynton Marsalis die Hauptpartie gesungen hat. Auf einem Youtube-Videoclip ist zu sehen, wie sie ins Studio kommt und den Song am Klavier probiert. Ein anderes Video zeigt sie bei der Aufnahme. Es gibt auch eine Clip mit Ishmael Reed, der den Text spricht, begleitet von David Murray am Klavier.

David Murray war zwanzig, als er 1975 nach New York kam. Er spielte in der New Yorker Loftszene mit Cecil Taylor und Anthony Braxton und ging zwei Jahre später in Europa auf Tournee. 1978 machte er seine ersten Aufnahmen für das italienische Black Saint Label und gründete das Black Saint Quartet. In dieser Besetzung hat er jetzt das Album Sacred Ground aufgenommen, mit dem jungen Pianisten Lafayette Gilchrist an der Stelle des verstorbenen John Hicks.

Das Cover zeigt Murray mit seiner Bassklarinette. Aus seinem Rücken wachsen Wurzeln, die sich in der dunklen Erde verankern. Auf der Suche nach dem schwarzen Erbe, das ihn zuletzt bis zu den westindischen Inseln und in den Senegal geführt hatte, ist er jetzt zu seinen afro-amerikanischen Wurzeln zurückgekehrt: zum Blues als der Tonspur von Leid und Vertreibung.

David Murray lebt in Paris. Zu seinen seltenen Auftritten in New York kommt ein schwarzes Publikum, sehr unüblich für Jazzkonzerte in den Uptown Clubs von Manhattan. Man schätzt es, wie soziales Engagement und das Erbe des Jazz in seiner Musik mitschwingen.

Bei allem Geschichtsbewusstsein möchte Murray doch die Zeit nicht zurückdrehen. Der Jazz von gestern kann nicht der von heute oder morgen sein, das sieht er anders als mancher Weggefährte. Die Behauptung des Saxofonisten Wynton Marsalis, Murray könne gar nicht spielen, hat ihn trotz seiner mehr als zweihundert Aufnahmen getroffen.

Auf Sacred Ground spielt er wirbelnde Töne. Blueshaltig und klangmächtig, mit multiphonen Schreien und Überblasungen, an Coleman Hawkins, Ben Webster und Pharoah Sanders erinnernd. Wie besessen klingt Murrays Klage über das Leiden, das Unrecht, die Ohnmacht. Eine Linie, die sich fortsetzt bis zu ihm, bis heute.

„Sacred Ground“ von David Murray und Cassandra Wilson ist bei Sunny Moon erschienen.

David Murray auf Tour in Deutschland:
09. 11. 2007 Jazzforum, Bayreuth
11. 11. 2007 Festival Jazz-Transfer, Saarbrücken
14. 11. 2007 Stadthalle, Dinslaken
15. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
16. 11. 2007 NDR Studios, Hamburg
17. 11. 2007 Radialsystem, Berlin
18. 11. 2007 Sendesaal Radio Bremen

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Komposition 119m

Beim Jazzfestival in Willisau nahm der amerikanische Saxofonist Anthony Braxton ein neues Solo-Album auf. Seine wundersame Musik erzählt von den Widersprüchen des Lebens.

Anthony Braxton Solo Willisau

Der afroamerikanische Altsaxofonist Anthony Braxton pflegt eine innige Beziehung zu Deutschland. Seine Karriere begann vor 30 Jahren beim Jazzfestival in Moers, er bewundert Bach und Beethoven. Karlheinz Stockhausen sei neben Iannis Xenakis, John Coltrane und Sun Ra eines seiner Vorbilder, erzählt er. Er habe ihm vor Augen geführt, dass man bis ins hohe Alter unabhängig musizieren könne.

Anthony Braxton ist 62 Jahre alt. In den vergangenen 30 Jahren hat er eine eigene musikalische Sprache entwickelt, einen ehrlichen künstlerischen Ausdruck. Braxton begreift sich als professionellen Musikstudenten, als jemand, der sein Leben lang lernt. Er setzt sich gerne zwischen die Stühle: Genau genommen, sagt er, sei er nicht einmal Jazzmusiker. Sein Werk sei uneindeutig wie sein Leben zwischen schwarzer und weißer Kultur, zwischen Jazz und Klassik, zwischen linker und rechter Politik. Es interessiere ihn, wie die Menschen ihre Hoffnung zurückgewinnen können.

Sein neues Soloalbum wurde im Jahr 2003 beim schweizer Jazzfestival in Willisau mitgeschnitten. Die Kompositionen auf der CD tragen Titel wie 328 c, 191 j und 344 b. Kleine bunte Grafiken stehen neben den Titeln im CD-Heftchen, es gibt keinen erklärenden Text, keine poetische Einleitung. Erstaunlich zurückhaltend mutet das an, zumal für einen Künstler, der im Gespräch über die gedankliche Einheit von Erfahrung, Idee und Transposition referiert.

Neben sieben Eigenkompositionen interpretiert Braxton auf Solo Willisau den Jazzklassiker All The Things You Are von Jerome Kern. Er fällt mit dem Thema ins Haus, insgesamt klingt seine Version fast konventionell angelegt. In der Komposition 119 m spielt er Töne, die an die Melodien und Gesten des Sprechens erinnern, aber unverständlich bleiben.

Das Leben sei befremdend und wunderschön zugleich, sagt Anthony Braxton im Gespräch über sein neues Werk. Genau davon handelt die wundersame Musik auf diesem bezaubernden Album. Man spürt, dass er ein glücklicher Menschen sein muss, weil seine Arbeit immer gebraucht wird. In normalen Zeiten blühe und entwickle sich die Musik, in harten Zeiten umso stärker. Gerade Musik, die jenseits des großen Marktes existiere, sei wichtig für eine demokratische Gesellschaft, sagt Braxton. Die Reiche zerfielen, doch der Mensch entwickele sich weiter. Jetzt aber habe er keine Zeit mehr zu verschwenden, die Arbeit rufe.

„Solo Willisau“ von Anthony Braxton ist bei Intakt Records erschienen.

Cecil Taylor und Anthony Braxton sollten in Italien erstmals im Duo spielen. Als es fast so weit war, kamen die Veranstalter tüchtig ins Schwitzen. Lesen Sie hier die Reportage von Fredi Bossard »

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