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Laptop und Flokati

The Go Find malen Musik mit warmen Farben. Wäre die Welt gerecht, würde ihr Album „Stars On The Wall“ die Hitparaden anführen. Sie ist es nicht, ganz oben stehen andere Sterne.

Auf dem ersten Platz der Deutschen Single-Hitparade der vergangenen Woche standen die zwei Schwerenöter Gerhard Friedle und Nikolaus Presnik vulgo DJ Ötzi und Nik P. Ihr Stück Ein Stern (der deinen Namen trägt) verharrt dort seit einigen Wochen. Weder die „sensationelle neue Single“ (Pressemitteilung der Plattenfirma) Nelly Furtados noch die „sensationelle neue Single“ (ebd.) der Mädchengruppe No Angels konnten den tumben Karnevalsknaller bisher überflügeln. „Ein Stern, der deinen Namen trägt, hoch am Himmelszelt, den schenk ich dir heut’ Nacht.“ Utz, utz, utz. Das schmerzt, nicht nur in den Ohren.

In einer gerechteren Welt würden die Lieder von Musikern wie Dieter Sermeus die Hitparaden anführen. Er ist Anfang Dreißig, kommt aus Belgien und hat unter dem Namen The Go Find vor drei Jahren sein erstes Album Miami veröffentlicht. Darauf sang er viele schöne Melodien, begleitet von sich selbst am Laptop und an der Gitarre. Auf Tour bot er seine Lieder mit drei weiteren Musikern dar. Weil das viel besser klang und netter war, nahm er sie hernach mit ins Studio, um das zweite Album Stars On The Wall aufzunehmen. Tim Coenen, Nico Jacobs und Joris Calluwaerts scheinen auf den gemeinsamen Reisen viel gelernt zu haben über den Pop-Entwurf ihres Arbeitgebers.

Solche Sterne lässt man sich gern gefallen. Bunte Sterne, in warmen Farben an die Schlafzimmerwand gemalt. Weich und gedämpft klingen die Instrumente – wie viel schöner doch ein echtes Schlagzeug zu dieser Musik passt! Und die betagt knackenden Synthesizer-Transistoren machen sich viel besser als scheppernde Laptop-Klänge. Über allem liegt eine feine Süße, die weder klebrig ist, noch ironisch gemeint. Dieter Sermeus’ etwas weinerliche Stimme wird hier und da von sanften Doo-doo-doo-doo-Chören begleitet, doch selbst wenn er dick aufträgt, klingt es noch zurückhaltend. Herr Ötzi und Herr P. kämen mit dem bisschen Schmiere nicht bis zum ersten Refrain.

Sermeus‘ neue Stücke lassen deutlich mehr akustische Freiräume, als die des ersten Albums. Erstaunlich, waren hier doch viermal so viele Musiker am Werk. Die Töne sitzen präziser, die Spielerei mit Geräuschen im Hintergrund ist weitestgehend verbannt. Jeder eingesetzte Klang scheint allein das Ziel zu verfolgen, die Melodie herauszustellen. Damit man sie auch ja nicht überhöre, diese feinsinnigen Linien. Aber wie könnte man? Schon das zweiminütige Beautiful Night lockt den Hörer an. Ein Keyboard fiepst süßlich, der alte Synthesizer wabert einen Flokati darunter. “Biii-juuu-tiii-fuuuul Naaa-haaaait“ flüstert ein Frauenchor. Aus der Melodie, die Dieter Sermeus singt, hätte er mehr machen können als so eine winzige Einleitung. Musste er aber offensichtlich nicht, die folgenden zehn Lieder sind ebenso ergreifend. Mal sind sie freudig, mal melancholisch, wie es sich auf einer guten Pop-Platte gehört.

In einer gerechten Welt bräuchte man beim Erzählen von solchen Liedern nicht ins Schwärmen kommen. Aber das wäre ja irgendwie auch schade.

Hören Sie hier „Dictionary“

„Stars On The Wall“ von The Go Find ist als CD und LP erschienen bei Morr Music

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Der Luxus-Leider

Als Sänger der britischen Band Suede war Brett Anderson immer ein arroganter Mime. Die Stücke seines ersten Soloalbums spülen die Theaterschminke weg – er singt von echten Gefühlen

Was war Brett Anderson für ein Wichtigtuer zu Beginn seiner Karriere als Sänger der britischen Band Suede. Manchen Auftritt absolvierte er mit dem Rücken zum Publikum. In Interviews berichtete er ausführlich von seinem – Achtung, verrucht! – bisexuellen Lebensstil. Glamrock, David Bowie und Gender-Verwirrung waren die Bausteine seiner Karriere. Die Gefühle, von denen er sang, nahm man ihm nicht ab, alles war Pose. Suede wirkten wie ein gut durchdachtes, blutleeres Planspiel auf der Bühne des Pop. Die Gitarrenakkorde trieften, in den Texten reimte sich „bar“ erwartbar auf „car“. An jeder Ecke lauerte Wehleidigkeit. Die Anhängerschaft war riesig.

Ein Wandel im Auftreten setzte erst ein, als Andersons Stern sank. Auf einer der letzten Tourneen von Suede mussten sie auf Festivals die große Bühne für neue Gitarrenbands aus Amerika räumen. Suede spielten so engagiert wie nie. Zum ersten Mal glaubte man einen Blick hinter die Maske des Brett Anderson erhaschen zu können: Ein angstverzerrter Unterhalter stand da, dem die Zeit davonlief. Crack und Heroin brachten den kreativen Stillstand, im Jahr 2003 verkündeten Suede, auf unabsehbare Zeit nicht mehr gemeinsam aufzutreten. Zwei Jahre darauf nahm Brett Anderson ein Album mit der Band The Tears auf. Die Posen der Anfangsjahre legte er ab, die Gefühle, die er einst nur mimte, schienen nun echt.

Auf seinem ersten Soloalbum gibt sich der Engländer persönlich und ungeschützt. Es steigt herab von der Theaterbühne – in den Orchestergraben. Seine Luxus-Leiden haben Spuren hinterlassen, er singt von Drogen, Reichtum, seelenlosen Liebschaften und der großen, verflossenen Liebe. Viele Torch-Songs sind dabei, Liebeslieder eines unfreiwillig Entliebten. Die große Geste liegt ihm immer noch am Herzen. Streichergirlanden umranken die Lieder. Das Piano und dezente Gitarrenlinien schaffen Intimität. Das Album mutet trotz gelegentlicher orchestraler Opulenz spartanisch an.

Das Stück Scorpio Rising ist eine Referenz an den gleichnamigen Film von Kenneth Anger. Die Zeilen „There’s anger in their skin / (…) They move with murder in their veins” klingen wie ein spätes Echo auf die Halbstarken-Bilder, die Anger 1963 mit Musik von Elvis Presley, Ray Charles und Martha Reeves & The Vandellas unterlegte.

Brett Anderson hat über den Umweg einer in den Sand gesetzten Karriere zu sich selbst gefunden. Seine aktuellen Stücke erzählen nur von ihm. Manchmal rührt einen das an.

Hören Sie hier „Scorpio Rising“

„Brett Anderson“ von Brett Anderson ist erschienen bei V2

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Luftlos

Das Duo Air lebt von seinem guten Namen. Doch ob auf der neuen Platte oder im Konzert: Was als kühne Mondreise begann, tritt jetzt auf der Stelle.

Der Erfolg hat ihnen nicht gutgetan. Jean Benoît Dunckel und Nicolas Godin neigen zur Selbstüberschätzung, und eine riesige Anhängerschaft erlaubt es ihnen. Mit seinem ersten Album Moon Safari von 1998 hat sich das französische Duo Air ein Denkmal gesetzt. Die Platte traf den Zeitgeist, stieg vom Sofa der Musikspezialisten über die Kneipentresen in die Betten der Mengen. Wohlig vibrierte diese Musik, rührend der Gesang Beth Hirschs.

Noch neun Jahre später zehren die beiden Dandys aus Paris von der Kraft dieser Wellen. Inzwischen haben sie eine unverkennbare, perfekte Klangwelt erschaffen: butterweiche Basslinien, warme Streicher, wabernde Moog-Synthesizer und blitzsaubere Effekte in klümpchenfreier, luftgeschlagener Creme. Air serviert makellose Petits Fours, ideal, um den Augenblick zu zuckern. Den Hunger nach seelenvoller Musik vermögen sie nicht zu stillen.

Das neue Album heißt Pocket Symphony; der Titel lässt an ein Miniatur-Meisterwerk denken. Dunckel und Godin streben nach Großem, scheitern jedoch schon im Kleinen. Eine Sinfonie ist nicht nur ein künstlerisches, in sich schlüssiges Werk. Sie lebt von einer Idee und deren Entwicklung. Musikalische Einfälle finden sich auf dieser Platte nur wenige, ihre Fortschreibung sucht man vergebens.

Air hat der melancholischen Langeweile eine musikalische Entsprechung gegeben. Die Gedanken drehen sich im Kreis, der Schwelgende tritt (oder liegt) auf der Stelle, träumt von bittersüßer Liebe und dämmert in einer See aus Luft dahin. „I’m falling down, down on the ground„, lispelt Jean Benoît Dunckel im Lied Napalm Love. Einmal mitgesunken in diese 48-minütige taschensinfonische Nebelstarre, gibt es nur wenig, was einen aufhorchen lässt.

Die Melodien wirken abwesend, sie umschreiben nur die Akkorde, über denen sie schweben. Wenn Dunckel seine Stimme durch die Effektgeräte schickt und sie in liebliche Frauenchöre transferiert, liegt das Herz des Hörers längst auf eisigem Boden. Lediglich die Gastsänger Jarvis Cocker (Pulp) und Neil Hannon (The Divine Comedy) erwecken das Publikum aus der Betäubung. Ihre gesungenen Geschichten sind eindringlich; zwar kühl, aber menschlich. Sie beherrschen die Stimme als Instrument, anstatt sie mittels Instrumenten zu verfremden.

Cocker und Hannon haben ihre Lieder im Studio abgeliefert, auf Tournee begleiten sie Air nicht. So blieb das Konzert diese Woche im Hamburger Docks statisch. Stilvoll gekleidet erschienen Dunckel und Godin im diffusen Scheinwerferlicht, im Hintergrund drei Mitmusiker. Selbstverliebt und -verloren stellten die beiden Herren ihre Arrangements in den Raum – kein Lächeln, keine Schwäche, keine echte Sympathie für das Publikum. Air spielte die Musik ihrer fünf Platten. Erklangen Stücke von Moon Safari, war der Jubel am größten.

Mit diesem Album haben sich ein Mathematiklehrer und ein Architekt zur Poplegende geformt. Seither ist der Name Air eine Marke kultivierter Wellness-Musik. Das Publikum kauft ungeprüft alles, was unter diesem Zeichen erscheint. Eine zweite Moon Safari wird es aber nicht mehr geben, der Stern verglimmt. Das dämmert den Anhängern, einsehen mögen sie es noch nicht.

Hören Sie hier „Once Upon A Time“

„Pocket Symphony“ von Air ist erschienen bei Astralwerks/Virgin

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Ja, ich bin eine Hexe

Sie singt mit der Zunge in der Backe. Sie schreit, sie jault, auf Englisch, auf Japanisch. Sie ist Yoko Ono. Und dies ist ihre neue Platte.

Sie kann machen, was sie will. Bis an ihr Lebensende und darüber hinaus wird sie die Frau sein, die den Beatles John Lennon nahm. Von der es heißt: Ach, ja, Musik hat sie auch gemacht. Aber Yoko wäre nicht Ono, würde sie nicht immer wieder versuchen, diesem Schicksal zu entfliehen. Diesmal versucht sie es mit einem Bekenntnis: Yes, I’m A Witch – Ja, ich bin eine Hexe.

Sechzehn ihrer alten Lieder hat sie neu aufgenommen, mit Musikern der Independent-Szene. Es ist kein zweifelhafter Künstler dabei, außer vielleicht ihr. Aber ein Erfolg sei Yoko Ono gegönnt, denn so schlecht wie ihr Ruf war ihre Musik nie. Früher standen ihre schrillen Kompositionen in einem interessanten Gegensatz zu John Lennons verträumten Friedensliedern. Viele der nun eingespielten Stücke stammen aus den Jahren zwischen 1969 und 1980, sind also zu einer Zeit entstanden, da sie mit ihm Bett und Studio teilte. Von einer Ausnahme abgesehen hat sie alle geschrieben.

Die meisten der beteiligten Musiker dürften sie gar nicht zu Gesicht bekommen haben. Ihnen wurden die Bänder mit ihrer Stimme zur Verfügung gestellt, sie spielten dann die Musik dazu, wie, blieb ihnen überlassen. In den meisten Fällen fügt sich Onos Stimme hervorragend ein.

In den Siebzigern hieß es oft, sie sei ihrer Zeit voraus; so musste man sich mit ihrer Kunst nicht groß auseinandersetzen. Und nun? Rock ist dabei und Drum’n’Bass, Tanzbares und Schmalziges – eine krude Mischung. Die englische Band Spiritualized nimmt sich das Stück Walking On Thin Ice vor und macht eine laute Hymne daraus. Die Gitarren heulen, die Orgel dröhnt, das Schlagzeug poltert, Bedeutung kracht durch die Luft. Angeblich hielt John Lennon eine Kassette mit der Originalaufnahme in den Händen, als er im Dezember 1980 in New York vor seinem Haus erschossen wurde.

Auch Toyboat klingt wichtig, Yoko schrieb es kurz nach Johns Tod: “I’m waiting for a boat to help me out of here.“ Antony – der von den Johnsons, hier aber ohne sie – lässt es die schmalzige Ballade sein, die es im Original schon war, legt allerdings einen sehr, sehr billigen Keyboardrhythmus und esoterische Gesänge drunter. Ihm gelingt das Kunststück, ein mittelmäßiges Lied richtig schlecht zu machen.

Bei aller Zerrissenheit des Albums sind viele der Stücke für sich genommen gar nicht übel. Peaches’ flirrende Tanznummer Kiss Kiss Kiss und Le Tigres schleppendes Sister O Sister sind sogar ziemlich großartig. Da passt alles zusammen, proletarische Rhythmen, dicker Bass, exaltierte Stimme, hier und da sogar Schreie.

Durchgängige Begeisterung kommt jedoch nicht auf. Das Konzept krankt daran, dass die Auswahl der Künstler lieblos wirkt. Die Tanzbässe von Peaches und Le Tigre passen nicht zum Elektrorock von The Brother Brothers und Blow Up, die sanften Klaviertöne der Cat Power nicht zu den triefigen Balladen des Craig Armstrong. Spiritualized und The Flaming Lips ertränken Yoko Onos Stimme in klirrendem Gitarrenlärm, Hank Shocklee von Public Enemy lässt sie zu hektischem Drum’n’Bass verkünden: „Ich bin eine Hexe, ich bin eine Hure, ist mir doch egal, wie ihr das findet!“

Eine Doppel-LP mit nach Genres sortierten Seiten hätte sich für ein solch zerfahrenes Projekt angeboten. Doch weder gibt es Yes, I’m A Witch vollständig auf Vinyl, noch wäre Ordnung im Sinne der Künstlerin gewesen. So muss der Hörer seinen CD-Player selbst programmieren. Lust zu tanzen? Dann bietet sich die Reihenfolge 1, 2, 4, 5, 16 an. Drückt das Herz? Die Stücke 6, 8, 10 und 13 trösten. Harmlose Popliedchen? 3, 7, 11, 15. Die Welt im Gitarrenlärm vergessen? 12 und 14, auf Dauerwiederholung stellen.

Die Stücke 9 und 17 hört man am besten gar nicht.

„Yes, I’m A Witch“ von Yoko Ono ist als CD erschienen bei Astralwerks/Virgin. Einzelne Stücke gibt es auf limitierten Vinylmaxis.

Hören Sie hier Ausschnitte aus
„Kiss Kiss Kiss“ von Yoko Ono und Peaches,
„Cambridge 1969/2007“ von Yoko Ono und The Flaming Lips,
„Revelations“ von Yoko Ono und Cat Power,
„Yes, I’m A Witch“ von Yoko Ono und The Brother Brothers

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Süßer Zauber

Tokio Hotel wirbeln Hormone und Geschlechterstereotypen durcheinander. Mädchenherzen schlagen höher, und die Jungs sind eifersüchtig, weil der Sänger Bill Kaulitz so gut bei den Altersgenossinnen ankommt.

Neulich in der U-Bahn: drei Mädchen in Hüftjeans, elf oder zwölf Jahre alt. Die eine hört Musik über ihren MP3-Player und sagt: „Ich kann schon jedes Lied auswendig, die neue Tokio Hotel ist soo geil, ich hör sie immer voll laut!“ Die anderen nicken zustimmend und wollen über den zweiten Ohrstöpsel mithören.

Können Horden weiblicher Fans irren? Ein Blick in die Fachpresse zeigt: Tokio Hotel aus Magdeburg sind schwer angesagt. Es gibt Poster, Aufkleber, Postkarten und noch mehr Poster in der Bravo, der Popcorn und anderen bunten Blättchen. Stets im Mittelpunkt steht der androgyne Sänger Bill Kaulitz, mittlerweile schon siebzehn Jahre alt. Seine Augen sind dunkel geschminkt, seine Fingernägel schwarz lackiert, sein Stil ist punkig und angegruftet.

„Dann lieber aussterben – Vier gute Gründe gegen Kinder“, titelte das Satire-Magazin Titanic mit einem Bild von Tokio Hotel, nachdem der Band mit dem Kitschlied Durch den Monsun im Sommer 2005 der Durchbruch gelungen war. Auf den Ohrwurm folgten ein millionenfach verkauftes Album und viele, viele ausverkaufte Konzerte. Bill Kaulitz und sein Zwillingsbruder Tom – der mit den langen Dreadlocks – waren damals 15 Jahre alt, der Schlagzeuger Gustav Schäfer 16 und de Bassist Georg Listing 17. Posieren konnten sie schon wie die Großen, auch wenn sie in Interviews altersentsprechend kicherten und herumalberten.

Im Beiheft zum neuen Album Zimmer 483 werden Tokio-Hotel-Trägerhemdchen mit Spitze beworben, die passenden Klingeltöne kann man gleich mitbestellen. Jungsklamotten gibt es nicht, denn männliche Teenies finden Tokio Hotel „krass schwul“. Sie sind wohl eifersüchtig und irritiert, weil der Sänger Bill Kaulitz mit seinen zarten Gesichtszügen so gut bei den Mädels ankommt. Sein Äußeres ist ein Gegenentwurf zu den Gangsta- und Macho-Posen von Bushido und Konsorten, es wird als Provokation wahrgenommen. Dass Männer (auch jenseits der Adoleszenz) zumeist angewidert auf androgynes Zurechtmachen reagieren, ist ein Phänomen, mit dem die Gothic-Szene schon lange zu kämpfen hat.

Tokio Hotel machen allerdings keine Gothic- oder Punk-Musik, sondern Teenie-Poprock mit vielen schmusigen Jammerrefrains. Das lässt die Mädchenherzen trommeln. Auf Konzerten kreischen sie und fallen reihenweise in Ohnmacht. Warum bloß? Zur Zeit von Elvis rüttelte der Rock’n’Roll noch an den Kellertüren, hinter denen man die weibliche Sexualität versteckt und weggesperrt hatte. Aber heute? Vermutlich ist die Sexualität junger Mädchen im Hier und Jetzt auf eine andere Weise eingezwängt, oder das Kreischen ist einfach zu einer Tradition geworden. „Schrei! – bis du du selbst bist, schrei so laut du kannst!“, sangen Tokio Hotel auf ihrem Debütalbum und fassten den jugendlichen Drang auszubrechen in eingängige Zeilen. Höhepunkt des aktuellen Albums ist nun das Stück Ich brech aus.

Die Band lebt vom süßen Zauber der Jugend, und natürlich ziehen im Hintergrund Erwachsene die Fäden. Das macht die Musik professionell und zahm. Nur an wenigen Stellen blitzen wütende Gitarren mit hämmerndem Schlagzeug hervor. Sie lassen hoffen, dass Gustavs Exploited-T-Shirt und Bills Nieten keine leeren Versprechen sind.

„Zimmer 483“ von Tokio Hotel ist erschienen bei Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Ich brech aus“

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Der Geruch von Petunien

Roger Quigley erzählt Geschichten. Unter dem Namen At Swim Two Birds rechnet er auf „Returning To The Scene Of The Crime“ mit seiner großen Liebe ab

Das Jahr 1995 war ein gutes für Roger Quigley. An einem Sonntagmorgen wirft sie – sie! – ihm ein Lächeln zu. Gilt es wirklich ihm? Bestimmt. Später ruft eine Frau namens Laura an und lädt ihn ein. Bevor er das Haus verlässt, sagt sie ihm wieder ab. In dem Stück A Kind Of Loving schildert Roger Quigley die Alltäglichkeiten eines Sonntags in einem Vorort von Manchester. Sein Freund Phil schießt ein Tor beim Fußball, schürft sich dabei das Knie auf, später erschlägt er eine Fliege mit dem Billardqueue. Vater plumpst mit bierseligem Grinsen an den Tisch, isst ein Stück Fleisch und schläft ein. Nachmittags läuft die Musik der Stranglers und Mutter zieht sich mit einer Tasse Tee in den Hof zurück, Vater ist längst im Pub auf ein Pint oder drei. Die Melodie ist flott, vorsichtig optimistisch. Quigley singt mit sanfter Stimme und spielt dazu Gitarre, dann setzen ein behutsames Schlagzeug und eine fast fröhliche Slidegitarre ein.

Der Anfang ist das Ende, A Kind Of Loving beschließt das Album Returning To The Scene Of The Crime. Davor erzählt er, was hinterher alles passierte. Vielleicht ist die Namenlose, die ihn in der Kirche anlächelte, ja die Frau, auf die sich die anderen neun – düsteren – Stücke des Albums beziehen. Roger Quigley nennt sich hier At Swim Two Birds. Es ist sein drittes Album unter diesem Namen. Und in der Tat kehrt er zum Tatort zurück, die Stücke stammen alle aus den Jahren 1995 und 2000. Acht der zehn Stücke hat er in anderen Versionen auf Singles und Alben veröffentlicht, die meisten unter seinem eigenen Namen.

Er scheint ihr dann näher gekommen zu sein, die beiden Lieder aus dem Jahr 1996 dokumentieren das. Er nimmt sich vor, sich täglich zu rasieren und zu lachen, wenn sie etwas lustig findet. Dem Bogart-Fanclub beizutreten und ihre Hand zu halten, wann immer das nötig ist. Über gemeinsame Giggling Fits, also Kicheranfälle, singt er. Wie sarkastisch er das meint, wird später deutlich. In The Smell Of Suntan Oil On Your Skin hängt die Romantik wie eine kitschige Fototapete im Hintergrund. Sie liegen am Strand, die Luft schmeckt nach ihr. Er drückt seine Zigarette an ihrer Stirn aus, und sie weicht nicht einmal zurück. Sie unterdrückt die Tränen, er geht.

Es geht weiter abwärts. Die fünf Stücke aus dem Jahr 1998 überbieten sich gegenseitig in ihrem Zynismus. Er wünscht ihr alle Übel der Welt, singt Lieder, zu denen sie sich im Grab umdrehen soll. Sehr bald soll das sein. Sie solle dann ruhig gegen die Wände ihres Sarges hämmern und ihn verfluchen. My Luck Is Turning, kündigt er an, auch wenn er zugibt, der Alkohol habe zu dieser Erkenntnis nicht unwesentlich beigetragen. Überhaupt der Alkohol. Es heißt, er zerstöre die Erinnerung. Alles Quatsch, findet Roger Quigley. Und dass Zigaretten schlecht für das Herz sind, ist ihm auch gleich. Um sein Herz habe sie sich ja bereits gekümmert.

Das Ende der Geschichte ist der Anfang der CD, In Bed With Your Best Friend. Eine Flasche Wodka, Drogen, Partyspiele mit einem Schweizer Armeemesser, Erwachen im Bett ihrer besten Freundin. An den Wänden Poster von Bands, die er hasst, in der Luft der Geruch von Petunien und entkoffeiniertem Kaffee. Rache? Zufall? Oder ist das schon wieder eine ganz andere Geschichte?

Roger Quigley singt seine ruhigen Lieder meist alleine zu seiner Gitarre, selten kommt ein weiteres Instrument hinzu. Sie klingen spartanisch, präzis. Fröhlich sind sie nicht, aber ergreifend. Und er ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Returning To The Scene Of The Crime klingt wie die Abrechnung mit einer ganz großen Liebe, wie ein Konzeptalbum über eine fehlgeschlagene Beziehung. Wer weiß, vielleicht hat er sich das alles ja nur ausgedacht.

„Returning To The Scene Of The Crime“ von At Swim Two Birds ist erschienen bei Green Ufos und erhältlich über den Vertrieb Hausmusik

Hören Sie hier „In Bed With Your Best Friend“

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Liedgewordene Diddlmäuse

Als Sechzehnjähriger war Kim Frank der Sänger der Jungsgruppe Echt, danach knickte seine Karriere ab. Mit den zwölf triefenden Liedern seines Soloalbums „Hellblau“ will er sich nun wieder ganz nach oben singen

Kim Frank Hellblau

Rund zehn Jahre ist es her, dass die Schülerband Echt in der Flensburger Fußgängerzone entdeckt wurde. Kurz darauf füllten die fünf Knaben Mehrzweckhallen, sie waren die erste erfolgreiche Jungsgruppe aus Deutschland. Ihre Stücke klangen wie liedgewordene Diddlmaus-Karten. Wir habens getan, Junimond oder Du trägst keine Liebe in dir – Echt schrieben die Musik zur Pubertät. Scharen liebeskranker Schülerinnen warfen bei Konzerten Teddys und riefen Kinderwünsche auf die Bühne – wie bei Take That. Meist handelten die Mädchenträume von dem Sänger Kim Frank, damals süße 16 Jahre alt. Er war so brav wie Heintje und gab sich verwegen wie Robbie Williams, für eine kurze Zeit war er ein Star.

Bereitwillig gab er in Interviews Auskunft über die Mädchen, mit denen er schlief. Hunderte sollen es gewesen sein. Alle habe er geliebt. Kurz nach dem 11. September blamierte er sich bei Harald Schmidt mit dem Bekenntnis, er interessiere sich nicht für Politik und wisse noch nicht einmal, wo Taliban liege. Er lief nackt über die Reeperbahn und wunderte sich, tags darauf auf dem Titel der Bild zu stehen. Einige verglichen ihn mit Rio Reiser.
Nach Echts finalem Album Recorder begann Franks Absturz: Die Platte wollte keiner haben, die Hallen blieben leer, und die Band war weg. Irgendwann auch das Geld, verzockt, verlebt, vertrunken. Sein feudales Landhaus musste er verkaufen, gar seine ehemals treue Begleiterin Bravo wandte sich ab. Auf dem Starschnitt waren inzwischen andere. Schließlich ging auch die Freundin des Sängers. Vorbei-bei-bei war die Popkarriere. Er begab sich in Behandlung, geplagt von Magenproblemen. Hernach erzählte er, er plane ein Soloalbum mit Liedern über all das, was in seinem Notizbuch „Kims Kladde“ stehe. Nichts passierte. Zwischenzeitlich spielte er in Leander Haußmanns Film NVA einen jungen Soldaten, fiel aber nicht weiter auf. Immerhin war es ein Lebenszeichen, ein schüchternes Winken aus der „Was macht eigentlich …?“-Ecke.

Jetzt ist Kim Frank 24, seine Platte fertig. Sie „soll verdammt noch mal durch die Decke gehen“, sagt er. Hellblau heißt sie, die zwölf Stücke darauf findet er selbst „unglaublich kraftvoll“. Seine Musik sei die beste in Deutschland, sagt er der Süddeutschen Zeitung. Es lebe der Größenwahn.

Zum „Prinzen der Melancholie“ kürte ihn unlängst die MAX, das „Magazin für Popkultur und Style“. Kim Frank bemüht sich, standesgemäß zu dichten: „Immer erst am Morgen verfliegen meine Sorgen, die Sonne geht auf und ich fühle mich hellblau“, singt er im Titelstück. Das klingt eher nach Ausnüchterung, denn nach neuer Lebensfreude. Ungelenk muten seine Zeilen an. In seinen Texten verwechselt er häufig Banales und Tragisches miteinander. Im Stück Berlin hört man, die Verflossene lebe nun in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und versuche sich als „Darstellerin“. Bei Zeilen wie „Sie richtet ihr Leben ganz arrogant nach sich“ dürfte Franks ehemaliger Deutschlehrer wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Da fällt es schwer, auf die Musik zu achten. Die klingt wohl komponiert, aber beliebig. Von Streichern getragene Balladen, hie und da ein bisschen Brusthaar-Rock, fernes Orchestergetöse. Von „großer deutscher Popmusik“ – wie Frank sein Werk lobt – keine Spur.

Bald steht er wieder auf der Bühne. Wie viele Mädchen dann noch kreischen, wird man sehen. Kim Frank freut sich darauf: „Live spielen ist wie Sex. Das hat mir sehr gefehlt.“ Äh, was genau?

„Hellblau“ von Kim Frank ist erschienen bei Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus dem Stück „Berlin“

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Rumpeln im Jungszimmer

Es geht durch die wilden Nächte Londons. Viel Alkohol, ein bisschen Koks – möge das Wochenende ewig dauern. Großbritanniens neuer Jugendheld Jamie T erobert die Mädchenherzen und träumt von der Liebe

Jamie T Panic Prevention

Seit einigen Monaten taucht sein Name immer wieder auf, in den Blogs und neuerdings auf den großen Feuilleton-Seiten. Der 20-jährige Jamie T ist der neue Held der britischen Jugendlichen. Die Texte sind nicht seine Stärke. Es ist die Art und Weise, wie er sie auf seinem Debütalbum Panic Prevention vorträgt, die im Gedächtnis bleibt: unmittelbar, ohne Selbstschutz.

Durch die Nacht Londons geht es. Einen Drink und noch einen, später eine Linie Koks, das Wochenende hört nie auf. Mädchen werden erobert, Alkohol senkt die Hemmschwelle, man träumt ein bisschen von der Liebe. Das ist eben Jungszeug, zumindest, wenn man wie Jamie T mit Anfang 20 in Großbritannien lebt.

Sein Akzent erinnert an Mike Skinner und Joe Strummer von The Clash. Ebenso wie Strummer hat Jamie Treays – so heißt der junge Mann mit vollständigem Namen – viel Zeit in Südlondon verbracht. Er hat Mixtapes aufgenommen und im „12 Bar Club“ in Soho den Bass angeschlagen, allein und mit Freunden. Panic Prevention Disco nannte sich die Veranstaltungsreihe, denn Jamie, so heißt es im Waschzettel der Plattenfirma, litt eine Zeit lang an „schweren Panikattacken“.

Vom politischen Bewusstsein The Clashs trennt ihn weit mehr als das Alter. Seine Lieder handeln vom Privaten. Viele spielte er in seinem Wohnzimmer ein. Rumpelnde Rhythmen, wuchtige Basslinien und grob zusammengefügte Klangschnipsel bestimmen die Heimbastler-Ästhetik. Genau das macht den Charme der Lieder aus. Kein Glattbügler der großen Plattenfirma durfte vor Veröffentlichung noch einmal Hand anlegen.

In die deutschen Hitparaden wird Jamie T es wohl kaum schaffen. In England hingegen ist ihm bereits mit seiner Debütsingle Salvador im vergangenen Jahr Platz 22 geglückt. If You Got The Money schaffte es sogar auf Platz 13. In seiner Musik vereint er viele Stile, zeitgenössische Tanzflächen-Spielarten gehören ebenso dazu wie Ska, Punk, Rock und Reggae. Der Minimalismus der Produktion weist die Richtung. Wirklich neu ist das alles nicht, aber in Zeiten zu vieler Einheitsproduktionen erfrischend.

„Beruhige dich, Liebste!“, heißt es in einem Stück. Und weiter: „Wir kommen nächste Woche wieder, da bin ich mir sicher, und sitzen dann in der Bar, die du kennst. Also Bye, Bye, Bye, wir versuchen, niemals zu sterben. Wir sind so jung, wir verstehen nicht, dass wir nicht fliegen können.“ Ach, süßer Vogel Jugend!

„Panic Prevention“ von Jamie T ist erschienen bei EMI/Labels

Sehen Sie hier „Salvador“ und „If You Got The Money“

Jamie T ist Anfang März auf Tour durch Deutschland

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Mit Papa am Kamin

Früher hatte Tobias Kuhn eine Band. Seit einigen Jahren nimmt er schöne Soloplatten auf, denn da muss er nicht so viel diskutieren. Auch auf seinem neuen Album „The Brilliant Masses“ dichtet er feinsinnige Zeilen zu überaus charmanten Tönen

The Good The Bad The Queen

Monta kommt aus Würzburg und heißt eigentlich Tobias Kuhn. Früher einmal sang er bei Miles, seit drei Jahren macht er sein eigenes Ding. Ein Mini-Album und ein großes hat er bislang veröffentlicht, dieser Tage folgt The Brilliant Masses.

Die Stücke klingen warm und vertraut. Es ist, als säße man bei Tobias Kuhn am bollernden Kamin, der Musiker mal am Klavier, mal an der Orgel, eine unsichtbare Band in der Küche. Die Stücke unterscheiden sich nicht wesentlich von denen des letzten Albums. „Mir gefiel die Stimmung, mit der wir Where Circles Begin aufgenommen haben, ich wollte das wiederholen. Ich wollte an die Sache genauso herangehen, wie damals. Deswegen hatte ich auch Herwig Zamernik wieder als Produzent dabei.“ Zu wenig Ambition? Tobias Kuhn kann sich das leisten, denn er hat einen schönen Stil. Seine Lieder klingen charmant, immer auch ein bisschen schleppend und schummrig. Er hat aus seiner Melancholie Lieder verfasst, die die Zuhörer aufrichten und erheitern.

Eine Band ist da eigentlich gar nicht. Tobias Kuhn hat fast alles allein gemacht. „Man diskutiert einfach nicht so viel wie in einer Band. Ich kann alles so haben, wie ich es möchte.“ Nur für das Schlagzeug heuerte er verschiedene Musiker an, das kann er nicht spielen. Hier und da hieb auch ein Anderer in die Tasten.

In Jörg Adolphs Dokumentation über die Entstehung des Notwist-Albums Neon Golden sieht man den Texter Markus Acher mit einem englischen Wörterbuch im Studio sitzen. Er sucht Worte, die gut klingen und sich reimen, findet welche, verwirft sie wieder. „Bei mir lief das anders, die Stücke hatten Zeit zu reifen. Die Texte sind mir ungeheuer wichtig“, sagt Tobias Kuhn. Während des vergangenen Jahres schrieb er immer wieder auf, was ihn bewegte. Das macht seine Texte sehr direkt, die Situationen, Ängste und Hoffnungen im Hintergrund werden plastisch. Manche Wendung reicht in ihrem behutsamen Umgang mit Metaphern und ihrem feinen Humor an die Lyrik des Smiths-Sängers Morrissey heran. „Exclusion is a privilege, I’m happy to be privileged, Yes I am, heißt es in Montas Capitulate; „I’ve never had a job, because I’ve never wanted one”, sang Morrissey im Jahr 1983 in You’ve Got Everything Now. Kuhns PR-Waschzettel zur Platte nennt das “brutal authentisch.” „Das Wort brutal hätte ich wohl weggelassen”, sagt er.

Vor beinahe zwei Jahren ist Tobias Kuhn Vater geworden, auch das liest man aus seinen Zeilen. Wärme und Verlustängste klingen durch und die Suche nach einem Umgang mit den Bedrohungen von innen und außen. „The blanket is all yours, It’s there to give you space. To feel the love we offer, You’re welcome to this place. Your humming sounds familiar, as if it’s always been around. Your smile is pure like water, I’ll carry you all the way up and down, over every steep step, around every single brick”, singt der Vater für seinen Sohn, ohne dass es schmalzig oder pathetisch klingt.

Tobias Kuhn ist ein großer Fan von Depeche Mode. Auf beiden seiner bisherigen Veröffentlichungen interpretierte er je ein Stück der Band neu, erst Shake The Disease, dann In Your Room. Diesmal nicht, woran liegt das? „Ich hatte schnell neunzehn Stücke zusammen, es war einfach kein Platz mehr.“ Dafür klingt der Albumtitel wie eine Anspielung auf Depeche Modes Music For The Masses. Eine weitere Huldigung der Idole? „Das ist mir gar nicht aufgefallen, das ist Zufall. The Brilliant Masses war das erste Stück, das hat mich die gesamten Aufnahmen über begleitet. Deswegen war es für mich der beste Titel für die Platte.“ Es wäre eigentlich auch eine seltsame Referenz, denn auf diesem Album findet man Vieles, aber ganz bestimmt keine Musik für die Massen.

„The Brilliant Masses“ von Monta ist als CD erschienen bei Labelmate/Klein Records

Hören Sie hier „Good Morning Stranger“. Ein schönes Video zu dem Stück sehen Sie hier.

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London ruft

Damon Albarn greift wohl nie daneben: Er ist Kopf und Sänger von Blur und den Gorillaz. Und auch sein neues Projekt The Good, The Bad & The Queen klingt ganz schön aufregend

The Good The Bad The Queen

Kaum eine Stadt spielt in der Geschichte der Popmusik eine so große Rolle wie London. Vom Swinging London über die Punkbewegung und den wuseligen Britpop der neunziger Jahre bis hin zu zeitgenössischen Tanzflächen-Spielarten, in den Clubs der Stadt entsteht Neues.

Viele Musiker haben London Alben auf den Leib geschrieben, die die Zeit überdauert und die Straßen zwischen Kings Cross und Tower Bridge ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt haben. London Calling von The Clash kommt einem in den Sinn, Blurs Parklife und Alben von The Jam, The Who und David Bowie.

Damon Albarn war als Kopf der Band Blur ein Auslöser der Britpop-Welle. Doch das erstarkte britische Selbstbewusstsein, die Rede von Cool Britannia und die enge Verbindung zwischen Tony Blairs New Labour und der Popmusik stießen ihn bald ab. So wendeten er und seine Band sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs Mitte der neunziger Jahre der amerikanischen Independent-Musik zu. Blur drehten entschlossen die Gitarrenverstärker auf, die Stücke ihrer späteren Alben klangen zerfahren. Der englische Pop wurde vom musikalischen Experiment abgelöst, ein Schlussstrich unter die eigene musikalische Vergangenheit gezogen. Später eroberte Albarn mit seinem Projekt Gorillaz (zusammen mit dem Zeichner Jamie Hewlett) den Tanzboden, machte eine kauzige Soloplatte (Democrazy, 2003) und tauchte in die Klangwelten Malis ein (Mali Music, 2002).

Mit drei namhaften Musikern wagt sich Albarn nun als The Good, The Bad & The Queen in die Weiten des Pop zurück. Paul Simonon spielte einst Bass bei The Clash, der Nigerianer Tony Allen war Schlagzeuger bei Africa 70 und Fela Kuti, und der ehemalige Gitarrist von The Verve Simon Tong unterstützte Albarn bereits bei den Gorillaz. Gemeinsam schufen sie eine Art Konzeptalbum über das multikulturelle London. Die Stadt stellte die Einflüsse bereit, der Sänger ersann gewohnt flockige Melodien.

Das Album ist ein musikalischer Schmelztiegel. Aus den Clubs geht es hinaus auf die Straße, die Industrie-Einöde im Rücken, lichte Punkte und Träume vor Augen: „When you are all uptight with fever inside / Let’s get out / And if we can’t do that what do you say / Let the past pass away“, heißt es in Behind The Sun zu schleppenden Rhythmen und somnambulem Gesang.

Man ist erinnert an The Specials. Im England der düsteren Thatcher-Jahre waren sie die erste aus schwarzen und weißen Musikern bestehende Band, die Punk und Reggae, Ska und Pop miteinander verband. The Clash erprobten zumindest stilistisch Ähnliches. Ihr Klassiker The Guns Of Brixton lebte von Simonons Reggae-infizierten, wuchtigen Basslinien. Auf The Good, The Bad & The Queen ist dieser Bass wieder zu hören. Er schlängelt sich durch den History Song, lädt zum Tanz in Northern Whale und gibt sich musikalisch nostalgisch im düsteren 80s Life.

Der Produzent Brian Burton – besser bekannt als DJ Danger Mouse – verpasst den Kompositionen Präzision und Klarheit. Akustisches Füllmaterial gibt es hier keins, nichts verdeckt die Melodien dieses großen London-Albums.

Das selbstbetitelte Debütalbum von The Good, The Bad & The Queen ist als CD und LP erschienen bei EMI

Hören Sie hier „Kingdom Of Doom“

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