In Bibliotheken ging man früher ähnlich wie in die Kirche. Heute sind diese Orte der Besinnung verschwunden oder zu lärmenden Bücherhallen geworden. Ein Abschiedsbrief
Die Bibliothek ist, schon seit ich denken kann, immer ein zentraler Ort in meinem Leben gewesen. Lange Zeit glaubte ich, dass die Bibliothek für mich vielleicht das ist, was für meine spanische Großmutter früher die Kirche war. Genau wie meine Großmutter ging ich mindestens einmal die Woche hin, schmökerte, stöberte und fand – wenn es mir einmal nicht so gut ging – in der Stille und dem vertrauten Geruch von altem oder druckfrischem Papier häufig Trost. Weiter„Schuld ist nicht die Digitalisierung“
Kaum ist die Sommerpause um, trumpfen die neurechten Polittrolle wieder auf. Brauchen wir als Gegengewicht eine vereinigte Linke?
Ende Juli begann ich diesen Freitext zu schreiben. Ich wollte ihn „Ringelpiez mit Restlinken“ nennen. Aufhänger sollte der Facebook-Stoßseufzer eines sehr linken und sonst nicht für Stoßseufzer bekannten Autoren sein. Er appellierte an alle, die sich noch irgendwie als links begriffen, ihre internen Streitigkeiten bis auf weiteres beizulegen und sich zusammenzuschließen. Denn ebendies – sich zusammengeschlossen – hätten „die Faschisten“ längst. Und so, wie die Dinge nun stünden, gebiete niemand ihnen Einhalt. Weiter„Ihr nervt nur noch!“
Minderheiten werden in der Unterhaltungskultur kaum repräsentiert. Das fängt schon bei Kinderserien an. Gerade an ihnen könnte man lernen, wie Ausgrenzung entsteht.
Von der Generation der „Kassettenkinder“ spricht man bei Kindern mit den Geburtsjahrgängen der 1970er und 1980er Jahre, deren eigener Ermächtigungsraum das Kinderzimmer war und deren Autonomie darin bestand, sich selbst aussuchen zu dürfen, welche Episode welcher Hörspielheld*innen sie als nächstes hören wollen. Und die von den Eltern dabei in Ruhe gelassen wurden. Klassiker dieser deutschen Kinderhörspiele sind zweifelsohne Benjamin Blümchen, Bibi Blocksberg und TKKG. Weiter„Benjamin Blümchen ist nicht weiß“
Blutrünstigkeit und Machthunger führen zum Erfolg. Diese Moral von Game of Thrones mag man verwerflich finden. Postsowjetische Politik bildet sie erschreckend genau ab.
Der russische Philosoph und Altphilologe Alexej Lossew erklärte in seiner Geschichte der antiken Ästhetik, die Kluft zwischen der Welt schöngeistiger Fiktion und der realen Welt sei zur Entstehungszeit der Ilias nicht besonders groß gewesen, falls sie überhaupt bestanden habe. Die Belagerung Trojas, die Verführung und Einschläferung des Zeus durch Hera – all dies wird uns vom Autor (oder den Autoren) als tatsächliches Ereignis dargestellt, da man die Fiktion, das zentrale Attribut der schöngeistigen Literatur, im 8. Jahrhundert vor Christus noch nicht kannte. Weiter„Am Ende siegt immer das Böse“
Wie ein verrücktes Aderngeflecht überziehen Kritzeleien und Graffiti die Stadt. Durch sie können wir in andere Welten schlüpfen. Und in dunkle Abgründe.
Seit einiger Zeit trainiere ich, meinen Kopf, der immerzu hinrucken will zu all den Buchstaben auf den Wänden der Stadt, still zu halten. Das ist nicht einfach. Denn diese überall wimmelnden Lettern erzeugen eine Art Taubenimpuls, der den Kopf unwillkürlich vorstoßen lässt zur Schrift. Egal, wie dumm und durchschaubar ist, was dort geschrieben steht. Immerhin, das Training zeigt Effekte und die großen Sprüche kann ich mittlerweile im Augenwinkel vorübergleiten lassen. Stünde beispielsweise in blutroten Lettern an den Wänden einer Chemiebank der Satz „Lasset alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr hier eintretet“, ich würde ihn vermutlich gar nicht bemerken. Weiter„Die Lücke im System“
Der Sommer wird begleitet von einem permanenten Hintergrundrauschen: Terrornachrichten und Hetzbotschaften auf fast allen Kanälen. Wir müssen sie endlich abschalten.
Lange habe ich mir keine Auszeit genommen, die Sommer verbringe ich ohnehin meist in der Stadt, aber nicht in diesem Jahr. Ich habe mir vorgenommen, an einen ruhigen Ort zu fahren, ans Meer, auf eine kleine kroatische Insel, um zu schwimmen, zu lesen, die Gegenwart ein Hintergrundrauschen werden zu lassen, die Wellen zu betrachten, die kommen und gehen. Weiter„Bewusstseinszustand? Hoffnung!“
Es gibt unzählige Dinge, die einem Angst machen können. Nach dem Amoklauf in München und den Terroranschlägen in Europa ist es vor allem der Mensch selbst.
Ich habe Angst. Ich habe Angst vor dem Zahnarzt, ich habe Angst davor, etwas zu verpassen, ich habe Angst im Flugzeug, aber nicht vor einem Absturz und nicht mehr so oft. Ich habe keine Angst vor dem Tod, oder aber ich mache mir keine Gedanken darüber. Ich habe keine Angst vor dem Anders-Sein, aber davor, dass meine Kinder an ihrem Anders-Sein leiden könnten, und ich mag mich selbst nicht für diesen Gedanken. Ich habe keine Angst vor Terror, aber ich habe Angst vor dem Menschen. Ich habe Angst, nicht schreiben zu können, obwohl es doch das Einzige ist, was ich zu können meine: Schreiben. Weiter„Ich habe Angst“
Diese Zeiten, die wir unmittelbar erleben, machen einen gigantischen Lärm, man hört sie, man riecht sie, man spürt sie. Was sollen wir dagegen tun?
Im Ukrainischen sagt man hören und meint spüren oder riechen. Wenn man also fragen will: „Spürst/riechst du das auch?“, sagt man: „Hörst du das auch?“ Man sagt: „Wie hörst du dich?“ Oder auch: „Ich höre den Geruch deiner Füße.“ Als ich eine Zeit lang mit meinen deutschsprachigen Freunden so redete, lachten sie gutmütig: „Hörst du aus der Küche nicht, dass die Torte im Ofen brennt?“ Wäre die Torte in der Folge nicht verbrannt, hätte ich beim Nachtisch sagen können: „Hört ihr Lavendel heraus?“ Eigentlich umfasst das wunderbare Wort hören im Ukrainischen auch schmecken. Eigentlich alle Sinne außer sehen. Die Ukrainer hören am besten, unser Körper ist ein großes Ohr (was uns selbst jedoch selten hilft). Heute schmerzt das Ohr wie verrückt.
„Hörst du die neuen Zeiten kommen?“, frage ich meinen Nachbarn Herbert, der seit Geburt, weil er schlecht sieht, sehr gut hören kann. Er hört, wie die Mäuse draußen ängstlich die Straße überqueren. Er hört, dass die lästigen Tauben aus der Umgebung die Absicht haben, auf seinem Balkon zu landen. Um die Tauben fernzuhalten, band Herbert ans Gitter, wo man normalerweise Blumentöpfe befestigt, drei leere Müllsäcke. Sie rascheln leise und schaukeln im Wind, während Herbert auf dem Balkon morgens tief und glücklich einatmet, als ob er in einem Fünfsternehotel erwachen würde. Sobald er in die Wohnung hineingeht, sind die Tauben auf dem Geländer. Die Müllsäcke schrecken sie nicht ab. Weiter„Die bequeme Stille der Vergangenheit“
Geplant waren drei Monate Arbeit. Dann kamen die Bandscheibe und ein Dreibettzimmer mit Frau Helga und Frau Birgit. Meldungen aus den Tiefen der deutschen Seele
Drei Monate lang sollte ich auf den Bosporus schauen und an meinem Roman arbeiten. Meinen Koffer aus braunem Tweed, den die Zeit schon seit meinem Abschied von der Sowjetunion auf den Wellen des Zufalls in meiner Griffweite tanzen lässt, hatte ich schon gepackt. An jenem Ort am Bosporus hätte ich ihn ausgepackt und nach Worten gesucht. Tarabya ist ein Ort, von dem man mir erzählte, er sei das Paradies auf Erden. „Tarabya“, las ich auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes, „das sich zirka zwanzig Kilometer nördlich vom Stadtzentrum Istanbuls am Bosporus befindet, hieß ursprünglich Pharmacia oder Phamakias. Jedoch wollte niemand in einem Ort namens Gift wohnen, daher wurde er in Therapia (Genesung) geändert – so eine Argonautensage.“ Weiter„In Fluten heißer Höschen“
Termin bei der Finanzbeamtin. Da vergeht dem freien Künstler das Lachen. Nicht nur wegen der Katzenbilder auf dem Schreibtisch. Das Steuersystem ist eine Farce.
Meine Sachbearbeiterin im Finanzamt heißt Frau Kestenholz. Sie möchte aber Chatenois genannt werden, sie stamme aus dem Elsass, was sie nicht ohne Stolz ungefragt hinzufügt. Mir fehlt das berühmte „Akson Grave“ in der germanischen Tastatur, man muss es sich jetzt halt vorstellen. Ich hätte auf Marzahn getippt oder Lichterfelde Ost, so kann Kleidung täuschen und zu Vorurteilen führen. Weiter„Gott wohnt nicht im Finanzamt“