Lesezeichen
 

Am Ende siegt immer das Böse

Blutrünstigkeit und Machthunger führen zum Erfolg. Diese Moral von Game of Thrones mag man verwerflich finden. Postsowjetische Politik bildet sie erschreckend genau ab.

"Game of Thrones": Am Ende siegt immer das Böse
© Helen Sloan/HBO

Der russische Philosoph und Altphilologe Alexej Lossew erklärte in seiner Geschichte der antiken Ästhetik, die Kluft zwischen der Welt schöngeistiger Fiktion und der realen Welt sei zur Entstehungszeit der Ilias nicht besonders groß gewesen, falls sie überhaupt bestanden habe. Die Belagerung Trojas, die Verführung und Einschläferung des Zeus durch Hera – all dies wird uns vom Autor (oder den Autoren) als tatsächliches Ereignis dargestellt, da man die Fiktion, das zentrale Attribut der schöngeistigen Literatur, im 8. Jahrhundert vor Christus noch nicht kannte. Weiter„Am Ende siegt immer das Böse“

 

Die Lücke im System

Wie ein verrücktes Aderngeflecht überziehen Kritzeleien und Graffiti die Stadt. Durch sie können wir in andere Welten schlüpfen. Und in dunkle Abgründe.

© Brendon Thorne/Getty Images
© Brendon Thorne/Getty Images

Seit einiger Zeit trainiere ich, meinen Kopf, der immerzu hinrucken will zu all den Buchstaben auf den Wänden der Stadt, still zu halten. Das ist nicht einfach. Denn diese überall wimmelnden Lettern erzeugen eine Art Taubenimpuls, der den Kopf unwillkürlich vorstoßen lässt zur Schrift. Egal, wie dumm und durchschaubar ist, was dort geschrieben steht. Immerhin, das Training zeigt Effekte und die großen Sprüche kann ich mittlerweile im Augenwinkel vorübergleiten lassen. Stünde beispielsweise in blutroten Lettern an den Wänden einer Chemiebank der Satz „Lasset alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr hier eintretet“, ich würde ihn vermutlich gar nicht bemerken. Weiter„Die Lücke im System“

 

Bewusstseinszustand? Hoffnung!

Der Sommer wird begleitet von einem permanenten Hintergrundrauschen: Terrornachrichten und Hetzbotschaften auf fast allen Kanälen. Wir müssen sie endlich abschalten.

© Sasha Dudkina/eyeem.com
© Sasha Dudkina/eyeem.com

Lange habe ich mir keine Auszeit genommen, die Sommer verbringe ich ohnehin meist in der Stadt, aber nicht in diesem Jahr. Ich habe mir vorgenommen, an einen ruhigen Ort zu fahren, ans Meer, auf eine kleine kroatische Insel, um zu schwimmen, zu lesen, die Gegenwart ein Hintergrundrauschen werden zu lassen, die Wellen zu betrachten, die kommen und gehen. Weiter„Bewusstseinszustand? Hoffnung!“

 

Das Nerd-Narrativ

Damit der Lebenslauf glamouröser klingt: Heute wollen alle erfolgreichen Menschen früher einsame Nerds gewesen sein. Das kann doch nicht sein.

Ein einsamer Nerd?
Copyright: Maria Vaorin/Photocase

Ich bin das, was man gemeinhin einen Nerd nennt. Früher gab es keinen Begriff für Leute wie mich, denn die deutsche Übersetzung Streber ist zu lahm und unzureichend für einen Nerd oder Geek. Ein Streber lernt was man ihm vorschreibt, ein Nerd spezialisiert sich freiwillig. Auf was auch immer. Streber sind zeitlos, während Nerds ein Zeitgeistphänomen sind. „Saitgaist“ wiederum ist ein schönes deutsches Lehnwort im Englischen. Nerds und Streber haben gemeinsam, dass man sie früher nicht in die Fußballmannschaft wählen wollte. Heute tragen Fußballprofis Nerdbrillen. Anfang der Neunziger sang Thom Yorke von Radiohead, er wäre ein Creep, ein Weirdo, wünschte aber er wäre so fuckin‘ special wie das Mädchen, das er nicht anspricht. Creep beschrieb ziemlich präzise mein Leben als junger Mann. Weiter„Das Nerd-Narrativ“

 

Auf dem Rücken ein ganzes Land

Der Wanderrucksack in der DDR war natürlich viel schlechter als der aus Westdeutschland. Aber: Soll man ihn deswegen nun zum Sommer wegschmeißen?

Der Wanderrucksack: Unverzichtbarer Begleiter
Copyright: Sean Gallup/Getty Images

Als Kurator meiner Wohnung muss ich ständig unpopuläre Entscheidungen treffen. Beim Sichten der Bestände fiel mir jetzt meine alte Kraxe in die Hände, sie stammt vom VEB Wassersport- und Campingbedarf Pouch. Pouch ist eine Gemeinde bei Bitterfeld, dort wurden in der DDR vor allem Faltboote, aber auch Campingartikel hergestellt, ehrlich gesagt wusste ich damals gar nicht, dass es sich um einen Ort handelte, für mich war es einfach ein Begriff, der für Dinge stand, die man nur im Urlaub brauchte. Aus Platzgründen müsste ich meine Kraxe eigentlich wegschmeißen, aber es hängen zu viele Erinnerungen daran, ich kann mich nicht davon trennen. Sie war in Rumänien, Bulgarien, in der Tschechoslowakei, der Sowjetunion, in Polen und noch viele Jahre nach der Wende hat sie mich begleitet, weil sie ja nicht kaputtging.

Der Kauf war ein Glücksfall gewesen, ich war im richtigen Moment im Haus für Sport und Freizeit am Frankfurter Tor in Berlin-Mitte aufgetaucht, wo sich heute auf vier Etagen eine Humana-Filiale befindet, interessanter als die alten Lumpen ist aber die spektakuläre Aussicht auf die beiden Türme von Hermann Henselmann. Ich traute meinen Augen nicht, es gab eine Lieferung Kraxen, die Verkäuferin legte mir eine zurück, weil ich erst nach Hause musste, um Geld zu holen, man konnte damals ja nicht mit Karte bezahlen. Es war eine Anschaffung fürs Leben, daran zweifelte ich nicht, deshalb war ich auf Reisen auch immer besonders nervös, weil nicht nur der Inhalt des Rucksacks, sondern schon der Rucksack selbst so wertvoll und unersetzbar für mich war. Die Kraxe war überhaupt die Voraussetzung dafür, mit Freunden wandern fahren zu können, wir schleppten ja alles mit, nach Rumänien sogar das Essen für drei Wochen. Weiter„Auf dem Rücken ein ganzes Land“

 

Ich habe Angst

Es gibt unzählige Dinge, die einem Angst machen können. Nach dem Amoklauf in München und den Terroranschlägen in Europa ist es vor allem der Mensch selbst.

Copyyright: Michael Dalder/Reuters
Copyright: Michael Dalder/Reuters

Ich habe Angst. Ich habe Angst vor dem Zahnarzt, ich habe Angst davor, etwas zu verpassen, ich habe Angst im Flugzeug, aber nicht vor einem Absturz und nicht mehr so oft. Ich habe keine Angst vor dem Tod, oder aber ich mache mir keine Gedanken darüber. Ich habe keine Angst vor dem Anders-Sein, aber davor, dass meine Kinder an ihrem Anders-Sein leiden könnten, und ich mag mich selbst nicht für diesen Gedanken. Ich habe keine Angst vor Terror, aber ich habe Angst vor dem Menschen. Ich habe Angst, nicht schreiben zu können, obwohl es doch das Einzige ist, was ich zu können meine: Schreiben. Weiter„Ich habe Angst“

 

Die bequeme Stille der Vergangenheit

Diese Zeiten, die wir unmittelbar erleben, machen einen gigantischen Lärm, man hört sie, man riecht sie, man spürt sie. Was sollen wir dagegen tun?

freitext-welt
Copyright: dbruyter/unsplash.com

 

Im Ukrainischen sagt man hören und meint spüren oder riechen. Wenn man also fragen will: „Spürst/riechst du das auch?“, sagt man: „Hörst du das auch?“ Man sagt: „Wie hörst du dich?“ Oder auch: „Ich höre den Geruch deiner Füße.“ Als ich eine Zeit lang mit meinen deutschsprachigen Freunden so redete, lachten sie gutmütig: „Hörst du aus der Küche nicht, dass die Torte im Ofen brennt?“ Wäre die Torte in der Folge nicht verbrannt, hätte ich beim Nachtisch sagen können: „Hört ihr Lavendel heraus?“ Eigentlich umfasst das wunderbare Wort hören im Ukrainischen auch schmecken. Eigentlich alle Sinne außer sehen. Die Ukrainer hören am besten, unser Körper ist ein großes Ohr (was uns selbst jedoch selten hilft). Heute schmerzt das Ohr wie verrückt.

„Hörst du die neuen Zeiten kommen?“, frage ich meinen Nachbarn Herbert, der seit Geburt, weil er schlecht sieht, sehr gut hören kann. Er hört, wie die Mäuse draußen ängstlich die Straße überqueren. Er hört, dass die lästigen Tauben aus der Umgebung die Absicht haben, auf seinem Balkon zu landen. Um die Tauben fernzuhalten, band Herbert ans Gitter, wo man normalerweise Blumentöpfe befestigt, drei leere Müllsäcke. Sie rascheln leise und schaukeln im Wind, während Herbert auf dem Balkon morgens tief und glücklich einatmet, als ob er in einem Fünfsternehotel erwachen würde. Sobald er in die Wohnung hineingeht, sind die Tauben auf dem Geländer. Die Müllsäcke schrecken sie nicht ab. Weiter„Die bequeme Stille der Vergangenheit“

 

In Fluten heißer Höschen

Geplant waren drei Monate Arbeit. Dann kamen die Bandscheibe und ein Dreibettzimmer mit Frau Helga und Frau Birgit. Meldungen aus den Tiefen der deutschen Seele

© Ina Fassbender/Reuters Pictures
© Ina Fassbender/Reuters Pictures

Drei Monate lang sollte ich auf den Bosporus schauen und an meinem Roman arbeiten. Meinen Koffer aus braunem Tweed, den die Zeit schon seit meinem Abschied von der Sowjetunion auf den Wellen des Zufalls in meiner Griffweite tanzen lässt, hatte ich schon gepackt. An jenem Ort am Bosporus hätte ich ihn ausgepackt und nach Worten gesucht. Tarabya ist ein Ort, von dem man mir erzählte, er sei das Paradies auf Erden. „Tarabya“, las ich auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes, „das sich zirka zwanzig Kilometer nördlich vom Stadtzentrum Istanbuls am Bosporus befindet, hieß ursprünglich Pharmacia oder Phamakias. Jedoch wollte niemand in einem Ort namens Gift wohnen, daher wurde er in Therapia (Genesung) geändert – so eine Argonautensage.“ Weiter„In Fluten heißer Höschen“

 

Gott wohnt nicht im Finanzamt

Termin bei der Finanzbeamtin. Da vergeht dem freien Künstler das Lachen. Nicht nur wegen der Katzenbilder auf dem Schreibtisch. Das Steuersystem ist eine Farce.

© Garsya/Shutterstock
© Garsya/Shutterstock

Meine Sachbearbeiterin im Finanzamt heißt Frau Kestenholz. Sie möchte aber Chatenois genannt werden, sie stamme aus dem Elsass, was sie nicht ohne Stolz ungefragt hinzufügt. Mir fehlt das berühmte „Akson Grave“ in der germanischen Tastatur, man muss es sich jetzt halt vorstellen. Ich hätte auf Marzahn getippt oder Lichterfelde Ost, so kann Kleidung täuschen und zu Vorurteilen führen. Weiter„Gott wohnt nicht im Finanzamt“

 

Die Verletzung beginnt schon an der Toilettentür

Einer Rollstuhlfahrerin helfen, eine öffentliche, behindertengerechte Toilette aufzusuchen – kein Problem? Von wegen. Unser Alltag würdigt einzelne immer noch herab.

Die Verletzung beginnt an der behindertengerechten Toilette
OMAR TORRES/AFP/Getty Images

„Mit dem Unsichtbarmachen von Individualität und Vielfalt, mit der Repression von Differenzen, mit dem Erfinden von Normen und Codes, die manche ein- und andere ausschließen, beginnen jene Mechanismen von Exklusion, die aus manchen Menschen weniger wertvolle, weniger schutzwürdige Menschen machen“, sagt Friedenspreisträgerin Carolin Emcke. Neulich war’s eine Erfahrung unbedingter Singularität, die mich fürchten und ehrfürchtig werden ließ: der Besuch einer öffentlichen Behindertentoilette. Wer einen körperlich eingeschränkten Menschen pflegt, kennt diese Situation allzu gut und empfindet meine Schilderungen hoffentlich nicht als Zumutung, denn naiv sind sie allemal. Weiter„Die Verletzung beginnt schon an der Toilettentür“