Lesezeichen
 

Mit den Schiffen kommt die Angst

Warum verspüren wir Ressentiments gegen Menschen, die zur Flucht gezwungen sind? Womöglich, weil eine schmerzliche Migrationserfahrung unser eigenes Leben beeinflusst.

© Marco Di Lauro/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE
© Marco Di Lauro/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE

Manchmal macht die deutsche Sprache mir Angst.

Etwa mit dem Wort ‚Geisterschiff‘. Es scheint so viel davon auszusprechen, was geschehen kann, wenn wir nicht lernen, mit Menschen, die Rettung bei uns suchen, angemessen umzugehen.

Aber von vorn. Ich habe keine Angst vor den Flüchtlingen auf herrenlos im Mittelmeer treibenden, übervollen Schiffen. Um sie fürchte ich. Stelle mir vor, wie man sie an Bord brachte, betrog. Versuche, wenigstens ansatzweise zu verstehen, welche Leben sie führten – und was sie auf den Weg brachte. Traurig über ihre Not und ihre Verzweiflung, spüre ich etwas von ihrer Angst da auf dem Meer. Im Nirgendwo. Ich bewundere ihren Mut. Weiter„Mit den Schiffen kommt die Angst“

 

Es saugt. Es atmet. Es stöhnt.

Die europäische Krise reicht bis an den eigenen Arbeitsplatz. Um das zu merken, muss man nur die Verordnungen zum Arbeitsschutz lesen. Dann nimmt der Irrsinn seinen Lauf.

© Photocase.de/Thomas K./Montage: ZEIT ONLINE
© Photocase.de/Thomas K./Montage: ZEIT ONLINE

Europa, Krise und kein Ende. In Griechenland hat sich jetzt eine linksradikale Partei mit einer rechtspopulistischen zusammengetan, um gemeinsam gegen das EU-Spardiktat zu rebellieren. In Italien muss der linksdemokratische Premierminister Matteo Renzi mit niemand Geringerem als Silvio Berlusconi paktieren, um das Land durch die nötigen Reformen zu treiben. In Spanien, in Portugal, in… ach, lassen wir das. Besonders gut sieht es da auch nicht aus.

Nun aber Deutschland. Land der Ideen, Land der Dichter und Denker, der Agenda 2010 und des funktionierenden Arbeitsmarktes. Doch auch Deutschland hat Probleme und die finden sich, ebenso wie in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und… ach, lassen wird das, sie finden sich an den Arbeitsplätzen.

Weiter„Es saugt. Es atmet. Es stöhnt.“

 

Wer das Vaterland schützt, schwitzt nicht

Gerade spielten sie noch mit Moslem-Schädeln in Afghanistan. Und was machen sie heute?  Unseren Kolumnisten treiben Kriegsheimkehrer um. Das Fax der Woche

Was macht Oberst Klein? Das ist der Mann, der den Tod bestellte, und die Amerikaner bombten Mann und Kind und Maus am Boden. Verjährt ein Kriegsverbrecher? Der Mann wurde vor einiger Zeit befördert, er bekommt mehr Geld. Was macht er im Hinterland, zählt er die trüben Tage, klopfen ihm die Getreuen auf die Schulter, hat er eine Gattin, die ihm die blassrote Strieme küßt, das Mal, das das Schweißband des Kriegermützchens hinterläßt? Was macht der Bürger Klein, der Stolz der Nachbarn, starrt er in den Nachbargarten, und zählt die Blätter auf dem Rasen, ist er ob der Pflichtvergessenheit verdrossen? Weiter„Wer das Vaterland schützt, schwitzt nicht“

 

Freiheit vom Liberalismus!

Das Gerede von der Freiheit hat dasselbe Problem wie die französische Revolution und Scientology (und die meisten Religionen): Seine Anhänger sind entweder Betrüger oder naiv. Ich schreibe in der Hoffnung, dass letztere überwiegen – sonst hätte es gar keinen Sinn zu schreiben.

© .marqs/photocase.de
© .marqs/photocase.de

Kollegin Nora Bossong schrieb also letztens in der Mitte ihres Berichts über eine Dreikönigsgesellschaft einige leidenschaftlich klingende Sätze über den Liberalismus. Unter anderem erwähnte sie die bekannte liberale Definition der zulässigen Freiheit: Man sei Liberale(r), „Wenn man daran glaubt, dass es besser ist, dem erwachsenen Menschen so viele Entscheidungen wie möglich selbst zu überlassen, solange sie nicht mit der Freiheit eines anderen in Konflikt geraten.“

Diese Formel ist, glaube ich, deswegen so beliebt, weil sie jedem, der sie liest, schmeichelt. Der Liberalismus traut jedem viel zu und erzeugt eine berauschende Gründungsatmosphäre. Yes, we can! Man bekommt Lust, sich verantwortungsvoll und erwachsen zu benehmen und fühlt sich dank diesem Zutrauen auch unendlich kompetent dazu. Weiter„Freiheit vom Liberalismus!“

 

Der Schmerz der Nachgeborenen

Ein junger Mann hinkt. Sein Vater war in Auschwitz. Wie hängt beides zusammen? Wir müssen begreifen, dass die Vergangenheit in unserer Gegenwart anwesend ist.

© Christopher Furlong/Getty Images
© Christopher Furlong/Getty Images/Montage: ZEIT ONLINE

Bis ins dritte oder vierte Glied suche Gott die Missetaten der Väter heim an den Kindern, heißt es im Alten Testament. Zu den Glaubensinhalten der Bibel mag man stehen wie man will, ein über lange Zeit zusammengetragenes Archiv menschlichen Erfahrungswissens, dargeboten in Geschichten, ist dieses Buch gewiss. Bis ins vierte Glied, sagen Psychologen heute, bis ins dritte. Dabei blicken sie auf beide Seiten, Opfer wie Täter. Auf beiden Seiten werden noch in den Lebensläufen der Enkel und ihrer Kinder Gefühle und Ängste wirksam, die aus den Leben der Großeltern stammen.

Weiter„Der Schmerz der Nachgeborenen“

 

Genitale Erscheinungen

Eine Frau erzählt von der Penisseligkeit. Zwei andere vergleichen ihre Muschis. Bevor unser Kolumnist sich auf seine Hände setzen muss, schreibt er uns das Fax der Woche.

Ich öffne die Augen, eine Frau steht am Bettrand, sie sagt: Penisseligkeit. Ich schaue auf den Wecker, drei vor vier Uhr morgens, ich schließe die Augen. Am nächsten Morgen, beim ersten Kaffee zu Hause, fällt mir das Wort wieder ein: Penisseligkeit. Ein langes Wort, fünf Silben, Genital und überirdisches Glück, wie passt das zusammen? Und wer ist diese Frau, die mir erschien?

Später, im Supermarkt, zwei Studentinnen vor mir in der Schlange, Studentin eins zu zwei: Hast du auch eine Mimi-Mumu? Zwei zu eins: Meine Mimi bedeckt kein Minibikini … Weiter„Genitale Erscheinungen“

 

Bleiche Bürger

Marilyn Manson treibt, wie Kraftwerk, seine eigene Musealisierung voran. Auf seinem neuen Album The Pale Emperor ist der einstige Bürgerschreck salonfähig geworden.

I

Beim Konzert von Kraftwerk in der Neuen Nationalgalerie in Berlin steht Dirk neben mir und klärt mich über die Konstitutionstypen von Bandmitgliedern auf. Da gebe es den Pykniker – halslos, mittelgroß, gedrungen –, den Athletiker – kräftig, sportlich, stark –, den Leptosomen – langhalsig, schlaksig, schmalbrüstig – und Mischtypen, die keiner Kategorie klar zugeordnet werden könnten. Welcher Sänger, Gitarrist oder Schlagzeuger welchem Typen entspreche, hänge stark von der Musikrichtung ab, aber Bassisten seien, heißt es, auffallend oft Leptosome.

„Das“, sage ich, „klingt verdammt nach Rassenlehre.“

Und Dirk sagt, der Typ, der dieses System in den zwanziger Jahren entwickelt hat, war später ein Nazi, Anhänger der Ausdruckslehre, die in äußeren Erscheinungen eine symbolische Manifestation von Charaktereigenschaften zu erfassen suchte.

Weiter„Bleiche Bürger“

 

Stehpinkler und andere Hackfressen

Alle drehen durch. Die Kellnerin hat Angst vor ihrem kurdischen Freund, der Kumpel dichtet Blödsinn über Muselmanen. Unserem Kolumnisten bleibt vor Schreck fast der Pfannkuchen im Hals stecken.

Siggi hat beim dritten Buch in Folge ein weinrotes Lesebändchen entdeckt. Er sagt: Ist weinrot billig? Gibt es hundert davon für ’n halben Euro? Und wo wir dabei sind, bist du ’n Moslem? … Bin ich … Aha! Wusste ich’s es doch … Wieso? Siggi sagt, man würde es mir ansehen, ich hätte eine Hackfresse wie ein Hamsterfresser. Ich lasse ihn stehen und mache meinen üblichen Gewaltmarsch ans Meer. Die Sturmwinde hatten das Wasser aus der Bucht herausgeweht, jetzt schwappt es wieder unterm Steg. Plötzlich steht Manni neben mir, reiner Zufall, er ging am Ufer spazieren und dachte nach. Worüber? Er hat kommende Woche einen Beschneidungstermin, und wegen der Ereignisse weiß er nicht so recht.

Weiter„Stehpinkler und andere Hackfressen“

 

IS NICH DIS WAT NICH IS

Wir fürchten den Blick der Fremden, weil wir uns durch ihn selbst sehen: übergewichtige, kleinliche, gefühlskalte Maden. Was hat die schmerzhafte Zehengicht Podagra eigentlich damit zu tun?

Eine Weile hab ich nicht aufgepasst, und plötzlich reden alle von Podagra, ich schlage also nach, was das noch mal genau ist. Es ist Zehengicht. Gicht ist, für die Jüngeren, Ungebildeteren unter uns, die das wie ich nicht ganz genau wissen, eine schmerzhafte Ablagerung von Harnsäure in den Gelenken und hängt mit der Niere zusammen. Die Ablagerung und Entzündung erfolgt meist in Anfällen. Vor einem solchen Anfall fühlen sich die Kranken häufig abgespannt; ihr Schlaf ist unruhig, ihre Verdauung gestört, der Appetit vermindert; sie klagen über Beengung, schwitzen stark und entleeren einen spärlichen, konzentrierten Harn. Der Anfall selbst stellt sich trotzdem unerwartet und plötzlich, meist nachts mit heftigen bohrenden und brennenden Schmerzen in dem ersten Gelenk der großen Zehe ein. Die Haut über dem Gelenk rötet sich, und letzteres schwillt an. Häufig besteht Fieber.

Weiter„IS NICH DIS WAT NICH IS“

 

Arische Harmonie

Deutschland, Deine Recken: Unser Kolumnist trifft kleine Nazis, die von der Heldenstadt Dresden schwafeln. Haben die alle eine Delle in der Rübe? Das Fax der Woche

Am fünften Tag des neuen Jahres glotzt Hartmut auf den Friedhof der abgelegten Tannen und sagt: „Ich schenk‘ dem Russen unseren Osten“ … Ein Rentner schleift eine Fichte im Netz hinter sich her, wirft sie auf den Haufen. Er stimmt zu: „Früher gaben wir den Pfaffen unseren Zehnten, heute dem Bolschewistenpack …“

Zwei brunzblöde Westler meckern darüber, dass die von dort drüben nur maulen. Hier im wahren Deutschland ist man anständig geblieben. Ist mit dem Ami ins Bett gegangen, musste als sein Liebchen Strapse tragen, was blieb einem übrig, der Besatzer hätte einen sonst zerschmettert. Aber mit den Kommunisten hat man nicht angebändelt, da war Gott davor. Jetzt füttert man die rote Brut, und statt dass die Schweine dankbar grunzen, fressen sie einem auch den Notpfennig weg …

Weiter„Arische Harmonie“