Ilona Mundlos hat ihren Sohn Uwe verloren – der laut Anklage im NSU-Prozess ein zehnfacher Mörder ist. Als Zeugin schilderte sie am 102. Verhandlungstag, wie sich Uwe von ihr verabschiedete und wie sie durch einen Anruf von Beate Zschäpe von seinem Tod erfuhr. Mundlos antwortete Richter Manfred Götzls Fragen sachlich und bedacht – anders als ihr Mann im Dezember. Sie zeigte sich als Frau, „die inzwischen eine ziemliche Distanz zu den Dingen hat, die sich damals ereigneten“, schildert Björn Hengst die Vernehmung auf Spiegel Online.
Der Zeuge Thomas S. trat in den Zeugenstand – und ging gleich wieder. Weil gegen ihn ein Ermittlungsverfahren läuft, berief er sich wie andere Zeugen aus der Szene auf sein Schweigerecht. Er soll dem NSU-Trio Sprengstoff besorgt und die drei nach ihrem Untertauchen bei sich wohnen lassen haben. Zudem arbeitete er als V-Mann für das Berliner Landeskriminalamt. Statt S. sprach am 101. Prozesstag ein Ermittler, der den Zeugen beim Bundeskriminalamt vernommen hatte. Die Aussage demonstrierte das Solidaritätsverständnis in der rechten Szene: „Für Thomas [S.] war es offenbar selbstverständlich, den drei ‚Kameraden‘ aus Jena behilflich zu sein“, schreibt Frank Jansen im Tagesspiegel.
„Verräterkomplex“ ist in der 100. Sitzung des NSU-Prozesses das Wort des Tages: Ein früherer Thüringer Verfassungsschützer gab Einblicke in die Zusammenarbeit mit dem V-Mann Tino Brandt, unter dessen Anleitung sich das NSU-Trio radikalisiert haben soll. Brandt habe sowohl der rechten Szene als auch dem Staat gedient – ein Widerspruch, den die Geheimdienstler bei ihrem V-Mann mit Geld gelindert hätten, sagte der Zeuge. „Selten bekommt man so hübsche Einblicke in die Arbeit von V-Mann und Verfassungsschutz“, kommentiert Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung die Vernehmung. Sie habe Erkenntnisse über die „Psyche des Neonazis“ gebracht.
Heute geht der Prozess in den 100. Verhandlungstag. Diese Wegmarke nutzen insbesondere Regionalzeitungen, um das bisherige Verhandlungsgeschehen einzuordnen. Die Bilanz fällt durchwachsen aus: Knatsch zwischen Anklage und Opfervertretern, schweigende Zeugen und leidende Hinterbliebene prägen nach Ansicht der meisten Kommentatoren das Verfahren. Für die Nebenkläger sei es „fast unerträglich, Zschäpe lächelnd, aber stumm zu erleben“, schreibt Mirko Weber in der Stuttgarter Zeitung. Zudem werde der Prozess die Motivation der Täter nicht aufklären können – das könnte lediglich Beate Zschäpe.
Am 1. April findet vor dem Oberlandesgericht München der 100. Verhandlungstag im NSU-Prozess statt. Die Medien ziehen daher dieser Tage ein Fazit – oder geben einen Ausblick auf die Zukunft des Verfahrens: Der Focus berichtet, dass der Prozess sich wahrscheinlich bis ins Jahr 2015 ziehen wird. Gerichtssprecherin Andrea Titz sagte dem Magazin, es sei überhaupt nicht absehbar, ob die bislang festgelegten Termine bis Dezember 2014 reichen würden.
Am Donnerstag haben im NSU-Prozess die Ex-Freundin von Ralf-Wohlleben, Juliane W., und zwei Mitarbeiter des Thüringer Verfassungsschutzes ausgesagt. Das Thema war in allen Vernehmungen dasselbe, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven: die V-Mann-Tätigkeiten des Geheimdienstes in Thüringen. Die Prozessbeteiligten erkundigten sich sowohl nach nachrichtendienstlichen Befragungen bei W. als auch nach der Arbeit des V-Manns Tino Brandt. Dessen ehemaliger V-Mann-Führer Norbert Wießner „lobte den 1994 von ihm angeworbenen Spitzel in höchsten Tönen“, berichtet Frank Jansen im Tagesspiegel.
Wenige Erinnerungen und unschlüssige Angaben – damit verärgerte die Zeugin Juliane W. am Mittwoch Richter Manfred Götzl. W. war die Freundin des Mitangeklagten Ralf Wohlleben, als das NSU-Trio im Januar 1998 untertauchte. Die Zeugin, die sich mehrfach als naiv darstellte, ließ sich damals allerdings auf eine Kooperation mit dem Verfassungsschutz ein. „Vielleicht ist die Zeugin naiv, vielleicht sind auch manche Erinnerungslücken echt, vielleicht hat auch ein Extremist oder ein Anwalt vor ihrer Aussage auf sie eingewirkt“, mutmaßt Frank Jansen im Tagesspiegel. In jedem Fall sei ihr Aussageverhalten „hochgradig dreist“ gewesen und habe Götzl genervt.
Zwei Beamte hatten am Dienstag ihre Erinnerungen aus Vernehmungen des Zeugen Max-Florian B. vorgetragen. B. soll das NSU-Trio nach dessen Untertauchen im Jahr 1998 in seiner Chemnitzer Wohnung untergebracht und Uwe Mundlos seinen Personalausweis überlassen haben. Auch gab es in späteren Jahren offenbar Telefonate und Besuche. Deswegen läuft gegen den Zeugen ein Ermittlungsverfahren – weswegen sich B. bei seiner Vernehmung vor Gericht auf sein Schweigerecht berufen hatte. In den Polizeiverhören sei B. allerdings „kooperativ und aussagewillig“ gewesen, wie einer der BKA-Beamten sagte, schreibt Kai Mudra in der Thüringer Allgemeinen.
Bei der Vernehmung von Zeugen aus dem NSU-Umfeld wiederholen sich die Muster regelmäßig: Einige wollen sich vor Gericht an nichts erinnern können, andere berufen sich auf ihr Recht, die Auskunft zu verweigern. Erweisen solche Zeugen den Angeklagten mit ihrem Schweigen einen Dienst? Nein, schreibt der Nebenklage-Anwalt Eberhard Reinecke in einem Essay für die Huffington Post.
Am Montag, 24. März, gibt es keine Berichte in den deutschen oder englischsprachigen Onlinemedien.
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Das nächste Medienlog erscheint am Dienstag, 25. März 2014.