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Der Zeuge mit den Zufällen

Den NSU-Terroristen will er nicht geholfen haben – doch der Ausweis von Ralph H. lag in deren letzter Wohnung. Nur einer von vielen Zufällen um einen dubiosen Zeugen.

Ist Ralph H. ein engagierter rechtsextremer Helfer? Oder ein gutmütiger Mitläufer, der sich von den Terroristen des NSU hat einspannen lassen? Der hagere Mann wirkt auffällig harmlos – keine Insignien der rechten Szene, kein rasiertes Haupt. Im Ringelpullover setzt sich der 40-Jährige an den Zeugentisch im Münchner Oberlandesgericht. Doch H. hat wohl nicht ohne Grund vorgesorgt und seinen Anwalt mitgebracht, einen Szenejuristen aus Chemnitz.

Gegen H. gibt es einen schwerwiegenden Verdacht: Aus dem Schutt des niedergebrannten Hauses in Zwickau, in dem die drei NSU-Terroristen zuletzt gewohnt hatten, fischten Polizisten seinen Personalausweis. Vieles deutet darauf hin, dass H. ein weiterer Unterstützer war, der Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt mit seiner Identität half, unerkannt im Untergrund zu leben. Nicht auszuschließen ist außerdem, dass er ihnen mit einer Wohnung und Ausrüstungsgegenständen behilflich war.

Die drei flüchteten 1998, nachdem Sprengstoff in Zschäpes Garage in Jena gefunden worden war. In der Folgezeit kamen sie bei verschiedenen Kameraden aus der rechten Szene unter, bevor sie unter falschen Namen selbst Wohnungen mieteten. Die ersten Unterkünfte vermittelte der Neonazi Thomas S., eine Größe in den rechten Kreisen von Chemnitz. Auch bei Ralph H. rief er an.

Was folgte, war eine Szene wie aus einem Thriller: S. traf H. in der Innenstadt, begleitet von zwei Männern, die ihre Gesichter tief in Kapuzenpullovern verbargen. Der Kumpel fragte, ob er sie für ein paar Tage als Untermieter aufnehmen könne. H. sagt, er habe abgelehnt, weil er noch bei seinen Eltern lebte. Wer die beiden waren und warum sie so dringend eine Wohnung brauchten, danach habe er nicht gefragt: „Das hat mich nicht weiter interessiert.“ Womöglich gab es auch gar keinen Grund, nachzuhaken – dass drei Rechtsextreme aus Jena geflüchtet waren, war in weiten Teilen der Szene bekannt.

„Eine zentrale Figur“

Überhaupt schien H. von der dubiosen Anfrage nicht überrascht: „Ich glaube, ich war nicht der erste, der von S. angerufen wurde.“ Der sei schließlich „eine zentrale Figur“ gewesen und habe ihn nur selten getroffen. Merkwürdig nur, dass S. offenbar so erpicht auf H.s Unterstützung war, dass er ein halbes Jahr später schon wieder an ihn herantrat. An einem Abend in einer einschlägigen Kneipe fragte er erneut – doch H. will wieder nein gesagt und S. an einen Kumpel verwiesen haben.

Ob die beiden Männer Mundlos und Böhnhardt waren, steht nicht fest. Doch zur Zeit der Wohnungsanfrage mehren sich weitere Auffälligkeiten, die Ermittler nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 zu H. zurückführten. So beantragte er im Februar 1999 einen neuen Personalausweis. Den alten will er verloren haben, möglicherweise nachdem er angetrunken von einem Wirtshausbesuch nach Hause ging.

Das Dokument tauchte erst zwölf Jahre später wieder auf – in der Zwickauer Brandruine. Richter Manfred Götzl verzichtet darauf, H. mit dieser Tatsache zu konfrontieren. Wahrscheinlich hätte H. eine der üblichen Ausweichfloskeln präsentiert, mit denen er auf die meisten Fragen antwortet: „Das kann ich nicht mehr einordnen.“

Über die Konsequenzen nicht im Klaren?

Unerklärlich ist H. angeblich auch, dass auf seinen Namen eine Wohnung in der Chemnitzer Cranachstraße gemietet wurde. Dort zog offenbar niemand ein – doch Unbekannte nutzten die Adresse, um bei mehreren Versandhäusern Waren zu bestellen und nicht zu bezahlen. Bei einem Versand für Jagdzubehör wurden unter anderem Abwehrsprays und ein Nachtsichtgerät bestellt – später gefunden im Schutt in Zwickau. Bei demselben Unternehmen hatte er schon Jahre zuvor etwas bestellt, regulär und ehrlich bezahlt.

Denkbar ist somit, dass das NSU-Trio den Ausweis nutzte, um sich kostenlos einzudecken – durchaus gegen H.s Willen, der Anzeige erstattete, als Inkassoforderungen an seiner Meldeadresse eintrafen. Hatte er das Papier abgegeben, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein?

Möglich ist jedenfalls, dass H. einfach nur seinen rechten Kameraden gefallen wollte. Richter Götzl fragt ihn nach der Einstellung, die er Ende der neunziger Jahre vertrat. H. stammelt von Sonnenwendfeiern und Zusammengehörigkeitsgefühl in der Szene, vom „Elitären“ in der nationalen Bewegung. Von politischen Meinungen spricht er nicht.

Gegen Ende heizt sich die Stimmung auf, als der Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler H. jeden Namen der zehn mutmaßlichen NSU-Mordopfer vorliest und ihr Todesdatum ergänzt. Es ist wohl der Versuch, dem Zeugen die Tragweite einer Unterstützung von militanten Neonazis klarzumachen. Doch damit fängt er sich den Protest der Verteidigung ein: „Es ist eindeutig, dass diese Fragen für die Galerie sind“, wirft Olaf Klemke ein, der Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben. Daimagüler fragt zurück, ob der Anwalt „Probleme mit der deutschen Sprache“ habe. Es entbrennt ein lauter Konflikt, in dem auch Götzl mitmischt. Für die Prozessbeteiligten ein wenig würdevoller Auftritt – und für Ralph H. eine Gelegenheit, an seiner Version der Realität weiter zu feilen.

 

164. Prozesstag – Mutmaßlicher NSU-Helfer Ralph H.

Der Zeuge Ralph H. erbrachte den Ermittlungen zufolge wichtige Dienste für das 1998 untergetauchte NSU-Trio: Ein Personalausweis von ihm wurde im Brandschutt der letzten Wohnung des NSU in Zwickau gefunden, zudem wurde unter seiner Identität 1999 eine Wohnung in Chemnitz gemietet – mutmaßlich durch Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt.

Deshalb ist H. am Mittwoch als Zeuge nach München geladen. Im Kreis möglicher Helfer des Trios war sein Fall bislang kaum beachtet worden. Unter seinem Namen wurden zudem Waren bei einem Versandhaus bestellt, mit dem sich Mundlos und Böhnhardt möglicherweise für Anschläge rüsteten – unter anderen Abwehrsprays und ein Nachtsichtgerät. Geladen wurde H. auf Antrag mehrerer Nebenklage-Anwälte.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

163. Prozesstag – Ankläger sagt als Zeuge aus

Am Dienstag nimmt ein Vertreter der Anklage im Zeugenstand Platz: Der Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten sagt über eine Vernehmung aus, die er im August 2012 mit dem Zeugen Enrico T. geführt hatte. Weingarten soll sich erklären, weil T. bei der Befragung angebrüllt wurde, wie ein Ermittler im September ausgesagt hatte. Die Verteidigung könnte in der Folge befinden, dass T.s Aussage rechtswidrig zustande gekommen ist. Der Zeuge soll am Schmuggel der Mordpistole Ceska 83 beteiligt sein, mit der neun Menschen erschossen wurden. Vor Gericht machte er mehrfach Erinnerungslücken geltend.

Ebenfalls zum Komplex Pistole sagt der Mitangeklagte Carsten S. aus. Er hatte sich bereits zu Prozessbeginn umfassend geäußert. Diesmal geht es um einen Termin, bei dem S. 2012 aus mehreren Vergleichswaffen das Modell aussuchte, das er als Kurier an Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt überbracht hatte. Es handelte sich dabei um die Ceska 83.

Ein weiteres Glied in der Kette der Waffenbeschaffung ist der Schweizer Hans-Ulrich M. Er soll die Pistole im Jahr 1996 in seinem Heimatland gekauft und nach Deutschland gebracht haben. Weil er seiner Ladung zum Prozess nach Deutschland nicht folgte, wird nun eine Aussage verlesen, die er im Juni bei der Staatsanwaltschaft im Schweizerischen Thun machte.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Die rechtsextreme Krabbelgruppe

Das militante Netzwerk Blood & Honour soll den NSU mit Waffen und Pässen unterstützt haben. Verdächtig ist eine Zeugin im Münchner Prozess – doch sie verharmlost die Organisation.

Ehrliche Antworten von rechtsextremen Zeugen im NSU-Prozess, damit rechnet schon lange niemand mehr. Wenn ein früherer Weggefährte von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt aussagt, beginnt ein Spiel des Lavierens, des Verschweigens, des Beschönigens. Und wer es nicht fertigbringt, seine Unterstützung für die Terrorgruppe NSU oder sein Verhalten in der rechten Szene schönzureden, der lässt sich von einem schweren und unheilbaren Gedächtnisverlust treffen.

Am 162. Verhandlungstag tritt vor Gericht eine Zeugin auf, die das Prozedere der Verweigerung bis ins Detail perfektioniert hat. Antje B. gründete in den neunziger Jahren in Sachsen einen Ableger der rechtsradikalen Skinhead-Organisation Blood & Honour (B&H), die mittlerweile verboten ist. Ihre rechten Verbindungen allerdings versucht B. nach besten Möglichkeiten zu verbergen, so wie sie ihre Frisur hinter einem breiten schwarzen Haarband verbirgt – wahrscheinlich bindet der Stoff den Federschnitt zusammen, eine Frisur mit langen Koteletten und Erkennungszeichen von Frauen in der Skinhead-Szene.

Waffen? Davon war nie die Rede

Die 40-Jährige aus dem Erzgebirge soll das NSU-Trio nach seiner Flucht in den Untergrund 1998 unterstützt haben. Der sächsische Verfassungsschutz ermittelte, dass sie vorhatte, Beate Zschäpe ihren Reisepass zu überlassen. Damit sollten die drei nach Südafrika fliehen, wozu es letztlich nicht kam. Zudem sollten Kameraden, Gründungsmitglieder der B&H-Division, Waffen für Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt besorgen.

Davon will B. jedoch nichts wissen. Die Sache mit dem Pass? Das sei nicht passiert. Waffen? Davon sei nie die Rede gewesen. Dass sie bei einem B&H-Treffen zu Anschlägen aus dem Untergrund heraus aufgerufen haben soll? „Das ist eine ganz bösartige Unterstellung.“

B&H ist ein Netzwerk, das sich für die Vorherrschaft der weißen Rasse einsetzt, weltweit fungiert es als Sammelbecken für militante Rechte. Doch auch davon will B. nichts wissen. Sie erzählt, wie sie Mitte der neunziger Jahre in Chemnitz einen Stammtisch mit anderen Kameraden gründete – darunter Jan W. und Thomas S., die beide als Zeugen im Prozess geführt werden. „Wir waren der Meinung, es wäre schön, wenn wir musikalische Veranstaltungen hier hätten“, erzählt die Zeugin. Also habe die Gruppe Bands angefragt und Konzerte organisiert, zwischen 70 und 400 Gästen seien gekommen. Richter Manfred Götzl erkundigt sich nach der Musikrichtung. „Zwischen Rock ’n‘ Roll und Heavy Metal“, antwortet B.

Vieles nicht verstanden

Tatsächlich waren die Konzerte typische Rechtsrock-Veranstaltungen. Um Inhalte habe man sich nicht geschert, sagt die vierfache Mutter. Eher sei es ihr darum gegangen, bestimmte Werte zu propagieren: Ehrlichkeit, Demut, Treue. Und Unternehmungen mit Kindern habe sie sich gewünscht. Götzl ist von den Heile-Welt-Sprüchen zunehmend genervt: „Das klingt wie eine Idylle, wo sich Musikliebhaber treffen, dann gibt es noch Familienanschluss – Richtung Krabbelgruppe, sag ich mal. Gab es keine politische Zielrichtung?“

Zögernd räumt B. ein, dass es manchen „vielleicht auch ein Stück weit um rechtes Gedankengut“ gegangen sei. Begriffe wie „White Power“ und „Deutschland den Deutschen“ seien kursiert. Aber das seien nur Floskeln gewesen, nur die anderen seien rechts gewesen. Und rechts zu sein, das habe schließlich stets eine negative Bedeutung, „aber der Mensch dahinter wird nicht gesehen“. Zumal sie vieles von dem, was sie da von sich gegeben habe, auch nicht verstanden habe.

„Scheiße.“ – „Wie soll ich das verstehen?“

Das erscheint, wie so vieles, höchst zweifelhaft – betrieb ihr früherer Mann doch zwei Läden, in denen rechte Kleidung und CDs verkauft wurden und in denen sie hinter dem Tresen stand. Zudem existieren zwei Fotos einer Veranstaltung, die B. in lockerer Atmosphäre neben Beate Zschäpe und Uwe Mundlos zeigen. Als ihr die Bilder im Gerichtssaal gezeigt werden, will sie keinen der beiden wiedererkennen.

Schließlich fragt Götzl sie, ob sie den Mitangeklagten André E. kenne, angeklagt als Unterstützer und ebenfalls aus dem Erzgebirge. B. verneint. Götzl weist sie auf eine Aussage hin, die sie im Jahr 2012 beim Bundeskriminalamt gemacht hatte. Demnach waren ihr sowohl E. als auch sein Zwillingsbruder bekannt. Sie habe gewusst, dass beide in ihrem heutigen Wohnort Aue ein Geschäft eröffnen wollten. „Was sagen Sie dazu?“, fragt Götzl. „Scheiße.“ – „Wie soll ich das verstehen?“ Die Zeugin gerät ins Stottern. „Ja, wie soll ich sagen. Jetzt steht natürlich meine Glaubwürdigkeit infrage.“

B. muss im Dezember erneut erscheinen.

 

162. Prozesstag – Blood & Honour und der NSU

Eine mutmaßliche Unterstützerin des NSU-Trios tritt am Donnerstag in den Zeugenstand: Antje B. soll Beate Zschäpe nach der Flucht der drei im Jahr 1998 ihren Reisepass zur Verfügung gestellt oder das zumindest versucht haben. Zudem stellt die Verbindung zu B. einen weiteren Kontakt ins Milieu der rechtsradikalen Organisation Blood & Honour dar. So soll sich B. auf einem Treffen der Gruppe für Anschläge als Mittel der politischen Arbeit eingesetzt haben, wie aus Ermittlungen des Bundeskrimnialamts (BKA) hervorgeht.

Zuvor sagt ein BKA-Ermittler aus, der den Mitangeklagten Carsten S. vernommen hatte. Dabei geht es um Waffen, die man S. vorgelegt hatte, nachdem dieser gestanden hatte, dem Trio die Mordpistole Ceska 83 beschafft zu haben. Aus mehreren Modellen identifizierte er damals die Ceska mit Schalldämpfer.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

161. Prozesstag – Neonazi Kai D. erneut im Zeugenstand

Zum zweiten Mal sagt der bayerische Rechtsextremist Kai D. im NSU-Prozess aus. Der Zeuge war in den achtziger und neunziger Jahren V-Mann für den Verfassungsschutz in Bayern – doch er war auch in Thüringen aktiv: Dort pflegte er Kontakt zu dem Rechtsextremisten Tino Brandt, dem Gründer des Thüringer Heimatschutzes und ebenfalls V-Mann. Bei seiner ersten Aussage schilderte er, wie sich die beiden entzweiten, als Brandt versucht habe, in D.s Heimatregion Franken Fuß zu fassen. Zudem stellte er Brandt als Anführer dar, der seine Kameraden radikalisieren wollte – unter denen sich auch das NSU-Trio befand.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Wie die Kameraden Böhnhardt deckten

Mit einer bizarren Tat bewies das NSU-Mitglied Uwe Böhnhardt früh, dass er zu Anschlägen bereit ist. Doch er kam dem Gesetz davon – weil Beate Zschäpe und Uwe Mundlos für ihn logen.

Es war ein Warnschuss des NSU, bevor Menschen starben: In einer Samstagnacht im April 1996 entdeckte ein Lkw-Fahrer eine Puppe, die von einer Brücke über der Autobahn A4 in der Nähe von Jena baumelte. Als Beamte der Autobahnpolizei den Gegenstand untersuchten, stellten sie fest, dass auf dem Torso ein Davidstern mit dem Schriftzug „Jude“ angebracht war. Am selben Wochenende besuchte der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignaz Bubis, die Stadt Weimar.

Auf der Brücke fanden die Polizisten zwei Kartons, mit Kabeln verbunden, daneben ein Verkehrsschild mit den Worten „Vorsicht Bombe“. Die Autobahn wurde gesperrt, ein Entschärfungskommando schoss mit Wasserwerfern auf die Kartons. Die stellten sich als Attrappe heraus.

Verantwortlich war Uwe Böhnhardt, davon war und ist die Staatsanwaltschaft überzeugt. Die Tat reiht sich in eine Serie ein, bei der Böhnhardt und seine Freunde Beate Zschäpe und Uwe Mundlos Bombenattrappen verschickten oder in Jena ablegten. Fremdenhass und die Lust an der Provokation führten zu einer Reihe von Straftaten. Es war ein deutlicher Hinweis darauf, dass ein Krimineller wie der damals 18-jährige Böhnhardt vor Terroranschlägen nicht zurückschreckte. Vier Jahre später folgte der erste von zehn NSU-Morden, zwei Bombenanschläge kamen hinzu.

Im NSU-Prozess wurden zu dem Vorfall an der Autobahnbrücke mehrere Polizisten als Zeugen vernommen, die damals gegen Böhnhardt ermittelten. Am Dienstag sagte ein Beamter aus, der Beate Zschäpe befragt hatte.

Um den Fall kümmerte sich die Sonderkommission Rex, kurz für Rechtsextremismus. Die Beamten ermittelten weder mit viel Elan noch mit großen Erfolgen – vielmehr war die Sonderkommission ein Kessel voller Dorfpolizisten, die aus verschiedenen Ecken Thüringens für eine Art Praktikum abgeordnet wurden. Die Spur führte zu Böhnhardt, weil er einen Fingerabdruck auf einem der Kartons hinterlassen hatte.

Mehrere Freunde von Böhnhardt wurden zur Polizei geladen, darunter Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und der Mitangeklagte Ralf Wohlleben. Die Beamten von damals konnten sich im Prozess nach fast zwei Jahrzehnten nicht mehr an vieles erinnern – aber an den Wert der Angaben von damals: „Ich hatte immer das Gefühl, die veralbern einen“, sagte ein Kriminalobermeister. Die Vernehmungen hätte man sich sparen können.

Dieser Ansicht schloss sich das Amtsgericht Jena an. Demnach waren die Aussagen von Zschäpe, Mundlos, Wohlleben und eines weiteren Zeugen abgesprochen. Zschäpe sagte in ihrer Vernehmung sogar, sie sei durch einen gemeinsamen Bekannten zu einem Alibi „gekommen“. Doch unter Berücksichtigung früherer Taten verurteilte es Böhnhardt im April 1997 zu drei Jahren und sechs Monaten Jugendhaft – eine Einheitsstrafe.

Die Aussagen zeigen, dass Böhnhardt sich auf seine Kameraden verlassen konnte. Fast wortgleich hieß es immer wieder, man sei zu fünft auf eine Geburtstagsparty gefahren: Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt, Wohlleben und ein anderer Kumpel. Die Feier kam als Quelle für ein Alibi gerade recht: „Da waren plötzlich 30 Mann und 29 haben sich nicht gekannt“, kommentierte der Polizist am Dienstag. Als es auf der Feier gegen Mitternacht zu langweilig wurde, fuhr die Clique in die Wohnung von Zschäpe, um Skat und Videospiele zu spielen. Wer gewonnen hatte, daran konnte sich niemand erinnern.

Jedenfalls solange nicht, bis Böhnhardt, der die Strafe noch nicht antreten musste, in Berufung ging. In der Verhandlung vor dem Landgericht fiel Ralf Wohlleben ein, dass er Uwe Mundlos auf der Spielekonsole besiegt hatte. Die Aussagen wurden also noch unglaubwürdiger – doch das Gericht nahm sie diesmal für bare Münze. An den Einlassungen der Zeugen gebe es keine Zweifel, Fingerabdruck hin oder her. In der Puppen-Tat wurde der Angeklagte im Oktober 1997 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Das Urteil lautete auf eine Einheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Für schuldig befunden wurde er unter anderem wegen des Verkaufs rechtsextremer CDs.

Womöglich hatten sich die Richter von einer Fassade der Harmlosigkeit täuschen lassen. Denn natürlich taten die jungen Rechtsextremen alles, um ihr Handeln herunterzuspielen – auch Beate Zschäpe: Über ihre Gesinnung sagte sie in einer Polizeivernehmung, „dass diese zwar rechtsgerichtet ist, aber ich deshalb keine Straftaten begehe“. Und überhaupt sei in rechten Kreisen wenig über Politik geredet worden.

Tatsächlich waren Zschäpe und ihre Gesinnungsgenossen bis in die Haarspitzen politisiert – und bereit, im Kampf für ihre Vorstellung von einem Deutschland ohne Ausländer zu morden. Die Möglichkeit, mit einer Gefängnisstrafe wenigstens auf Böhnhardt einzuwirken, verstrich: Seine Bewährung wurde im März 1998 widerrufen, der Verurteilte zum Haftantritt geladen. Da waren er, Zschäpe und Mundlos schon in den Untergrund geflüchtet.

 

160. Prozesstag – Der Verdacht gegen den jungen Uwe Böhnhardt

Das Gericht nimmt am Dienstag erneut eine Tat unter die Lupe, die Uwe Böhnhardt als jungem Erwachsenen vorgeworfen wurde: Er soll 1996 eine Puppe mit Judenstern und eine Bombenattrappe an einer Autobahnbrücke angebracht haben. Für die Tat wurde er verurteilt, später wurde das Urteil aus Mangel an Beweisen aufgehoben. Befragt wurde damals auch Beate Zschäpe. Der Polizist, der sie kurz nach der Tat vernahm, sagt nun als Zeuge im Prozess aus. Die Aussage, die Zschäpe zwei Jahre vor dem Untertauchen des NSU-Trios machte, könnte heute Hinweise zur Ideologie von Böhnhardt liefern, zudem auf den Zusammenhalt der drei.

Zudem sagt ein Beamter des Bundeskriminalamts aus, der Angaben zum Bekennervideo des NSU macht.

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159. Prozesstag – Gericht hört Zeugin zur Schweizer Waffen-Connection

Erneut hört das Gericht die Zeugin Sitta I., deren Angaben zum Waffenschmuggel der NSU-Pistole Ceska 83 relevant sind. I. war in den neunziger Jahren die Lebensgefährtin des Schweizers Hans-Ulrich M., der die Waffe aus seinem Heimatland in die Bundesrepublik gebracht haben soll. Bei einer Vernehmung im Jahr 1996 belastete sie den Zeugen Enrico T., der ebenfalls in den Transport eingebunden gewesen sein soll. I. sagte damals aus, T. habe einen sogenannten Schießkugelschreiber besessen – den hatte er mutmaßlich von M. erhalten. Als sie im Oktober erstmals dazu befragt wurde, fiel ihr der Name T. erst auf Nachfrage ein.

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Der NSU und seine radikalen Freunde

Stachelte V-Mann Tino Brandt das spätere NSU-Trio zum mörderischen Hass an? Das behauptet ein bayerischer Neonazi – und vermutet den Verfassungsschutz dahinter.

Zwölf Jahre lang spitzelte der Rechtsextremist Kai D. für den bayerischen Verfassungsschutz. Gleichzeitig trommelte er während der neunziger Jahre in seiner Heimat Franken die Kameraden zusammen, es gab Demonstrationen und Kundgebungen. Im Norden Bayerns, an der Grenze zu Thüringen, war er unangefochtener Anführer – und ein wertvoller Informant für den Geheimdienst.

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