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178. Prozesstag – Elf Opfer des Keupstraßen-Anschlags

Die Marathonvernehmungen von Opfern des Anschlags auf der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 gehen in die zweite Woche. Am Dienstag sind elf Zeugen geladen, die durch die Explosion einer mit Nägeln gespickten Schwarzpulverbombe verletzt worden. Betroffene, die in der vergangenen Woche ausgesagt hatten, berichteten von langwierigen Spätfolgen – sowohl körperliche Gebrechen als auch psychische Leiden.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Opfer zweiter Klasse? – Das Medienlog vom Montag, 26. Januar 2015

Die Aufklärung des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße von 2004 ist vor Gericht angelaufen – doch wird die Untersuchung des Falls den 22 Verletzten gerecht? Diese seien die „sich lange als Opfer zweiter Klasse vorkommenden Geschädigten“, kommentiert Harald Biskup im Kölner Stadtanzeiger. Ein Grund dafür: Der Fall habe „bislang wenig öffentliche Beachtung gefunden“.

Bei der Explosion gab es keine Toten – doch die ferngezündete Nagelbombe hatte das Potenzial, Menschen zu töten, wie ein Gutachter vergangene Woche nachgewiesen hatte. Das Vertrauen in den Rechtsstaat sei erschüttert worden.

An jedem Werktag sichten wir für das NSU-Prozess-Blog die Medien und stellen wichtige Berichte, Blogs, Videos und Tweets zusammen. Wir freuen uns über Hinweise via Twitter mit dem Hashtag #nsublog – oder per E-Mail an nsublog@zeit.de.

Das nächste Medienlog erscheint am Dienstag, 27. Januar 2015.

 

Keupstraßen-Opfer überlebten durch Zufall – Das Medienlog vom Freitag, 23. Januar 2015

Tag drei der Zeugenvernehmungen zum Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße von 2004: Erneut sagten traumatisierte Opfer aus, zudem ein Sachverständiger, der die Wirkung der Bombe nachgestellt hat – das Ergebnis: Der Sprengsatz hätte im Umfeld von wenigen Metern Menschen töten können. Durch Zufall blieb es bei Verletzungen der 22 Betroffenen. „Der Anschlag ist nun aufgeklärt, vermessen und kartografiert worden (…). Zurück bleiben die Menschen in der Keupstraße“, schreibt Per Hinrichs von der Welt.

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Die tödliche Kraft der Nagelbombe

Dass beim Bombenanschlag von Köln 2004 niemand ums Leben kam, war offenbar reiner Zufall. Ein Gutachten stützt die Vorwürfe gegen Beate Zschäpe.

Der Inhalt des Fahrradkoffers war nicht nur hochgefährlich, er war auch kenntnisreich konstruiert: rund fünfeinhalb Kilo Schwarzpulver in einer Campinggas-Flasche, drumherum drapiert mehr als 700 zehn Zentimeter lange Nägel. Der Zünder war an ein technisches Bauteil angeschlossen, das eine Auslösung per Fernbedienung möglich machte. Für eine Garagenbastelei war die Bombe ein High-Tech-Produkt.

Wer den Sprengsatz gebaut hatte, der hatte es auf eine maximale Wirkung abgesehen – und die bedeutete: tote Menschen, möglichst viele. Am 9. Juni 2004 detonierte der Koffer in der Kölner Keupstraße. Die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt schoben ihn auf den Gepäckträger eines Fahrrads montiert vor einen Friseursalon, in dem sich etliche Kunden aufhielten. So hat es die Bundesanwaltschaft als Ankläger im Münchner Terrorprozess rekonstruiert.

22 Menschen sind bei dem Nagelbombenanschlag verletzt worden. Für diese und die kommende Woche hat sich das Oberlandesgericht vorgenommen, sie alle zu hören. Am Donnerstag sagte zudem ein Sprengstoffsachverständiger des Bundeskriminalamts aus.

Gilt der Bombenanschlag als Mordversuch?

Die Tat ist, wie die zehn Morde, die der Terrorzelle zugeschrieben werden, Thema im Bekennervideo des NSU. Ordnet das Gericht die Hauptangeklagte Beate Zschäpe als dessen Mitglied ein, kann sie als Mittäterin beim versuchten Mord in 22 Fällen verurteilt werden – als solcher ist die Tat in der Anklageschrift aufgeführt, neben zehn vollendeten Morden und einem weiteren Bombenanschlag mit einer Verletzten in Köln.

Die Sprengkraft der Bombe war weithin sichtbar: Die Nägel schossen 150 Meter weit, sie wurden über die Häuserzeile in Gärten geschleudert. Wer ihnen im Weg stand, dem bohrten sie sich in Muskeln und Knochen. Eine Druckwelle ließ noch in weiter Entfernung Fensterscheiben zerspringen, bei den Opfern brachte sie die Trommelfelle zum Platzen.

Doch war die Bombe stark genug, Menschen zu töten? Von dieser Frage hängt ab, ob der Vorwurf des Mordversuchs haltbar ist. Um eine Antwort zu finden, beauftragte das Bundeskriminalamt den Sprengstoffgutachter Ehrenfried Ibisch mit einem aufwendigen Versuch. Auf einem Truppenübungsplatz im Norden von Bayern zündete der Experte mehrfach einen Nachbau der Bombe von Köln.

Spekulation über NSU-Helfer vor Ort

Der Sachverständige war auf der Suche nach dem sogenannten wirksamen Splitter – so heißt in der Militärsprache ein Geschoss, dass mit so viel Energie durch die Gegend fliegt, dass es einen Menschen töten kann. Um die Bombe herum ließ er Stahlbleche in drei und fünf Metern Entfernung aufstellen. Als der Sprengstoff zündete, verbogen sich die Bleche unter dem Druck, ein riesiger Rauchpilz stieg auf, die Nägel schossen durch die Stahlplatten beinahe wie durch Papier. Sie flogen mit 215 Metern pro Sekunde.

Damit war klar: Die Nägel aus der Bombe waren potenziell todbringende Geschosse. In einem Umkreis von mindestens fünf Metern war zu erwarten, dass Menschen sterben. Es müssen also glückliche Umstände gewesen sein, die vielen Umstehenden das Leben retteten – ein geparktes Auto an der richtigen Stelle, eine Säule im Raum.

Deutlich wird durch die Expertise erneut auch, wie sorgfältig die ganze Tat geplant gewesen sein muss: Sicherlich kein Zufall war, dass die mutmaßlichen Täter Mundlos und Böhnhardt sich ausgerechnet die Keupstraße als Anschlagsziel aussuchten – das Sammelbecken der türkischen Gemeinde Kölns, in der Region bekannt als orientalisch geprägte Einkaufsstraße mit Juwelieren, Bäckereien und Brautmodegeschäften. Gab es also einen Helfer vor Ort, der die beiden auf ein passendes Ziel aufmerksam machte?

Ein spätes Todesopfer?

Noch wahrscheinlicher scheint diese These angesichts des Tatorts Friseurgeschäft – mehrere Zeugen beschrieben den Salon als typischen Treffpunkt. Oft standen junge Leute vor dem Eingang und unterhielten sich. Gerade hier konnte der Fünf-Meter-Radius seine volle Wirkung entfalten, hier waren die meisten Opfer zu erwarten. Wer den Sprengsatz so platzierte, der muss die Keupstraße zuvor erschöpfend ausgekundschaftet haben.

Mit einer solchen Vorbereitung dürften die Täter den Anschlag als Misserfolg verbucht haben. Doch deutete die Aussage eines Zeugen am Nachmittag an, dass die Bombe durchaus ein Menschenleben genommen haben könnte. Der junge Mann war Mitarbeiter in einem Handyladen gegenüber vom Friseurgeschäft, mit im Laden stand ein Bekannter. Ein Anwalt der Nebenklage fragte, wie es dem Freund nach der Explosion ergangen war. Er habe die Erlebnisse nicht verkraftet, antwortete der Zeuge, schließlich habe er begonnen zu trinken. Acht Jahre nach dem Anschlag erhängte er sich.

 

Üble Erfahrungen mit der Polizei – Das Medienlog vom Donnerstag, 22. Januar 2015

Für die Kölner Polizei diente der 176. Verhandlungstag im NSU-Prozess nicht der Imagepflege: Zum zweiten Mal sagten Opfer des Nagelbombenanschlags auf der Keupstraße von 2004 aus – und erhoben dabei schwere Vorwürfe gegen die Ermittler. Denn diese befragten Zeugen scharf nach Verwicklungen ins kriminelle Milieu, ohne den terroristischen Hintergrund aufzurollen – verantwortlich für den Anschlag ist laut Anklage der Nationalsozialistische Untergrund. „Es ist wohl der Verlust des Urvertrauens, der so viele Keupstraße-Opfer für immer gezeichnet hat“, notiert Per Hinrichs von der Welt.

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177. Prozesstag – Weitere Zeugen zum Nagelbomben-Anschlag

Zum dritten Mal in Folge hört das Münchner Oberlandesgericht Zeugen, die den Nagelbombenanschlag auf der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 miterlebt haben. Geladen sind sechs Menschen, die durch die Wirkung des Sprengsatzes teils schwer verletzt wurden. Deshalb sagen auch zwei Ärzte aus, die eine schwerverletzte Patientin behandelten.

Auch ein Sachverständiger des Bundeskriminalamts steht auf der Zeugenliste. Er hatte 2013 versucht, die Sprengwirkung mit einem Versuch nachzuvollziehen und stellt ein Gutachten vor.

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Verängstigt, aber nicht vertrieben

Der Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße von 2004 hat viele Opfer schwer erschüttert. Als Trauma schildern sie jedoch auch drastische Vernehmungsmethoden der Polizei.

Der Knall lässt die Scherben des Schaufensters durch den Friseursalon fliegen, sofort ist alles voller Rauch. Fatih K. schaut zur Decke, er glaubt, eine Gasleitung sei geplatzt. Der Raum füllt sich mit Rauch, nur das Licht eines Fensters an der Rückwand schimmert. Dorthin flüchten sich alle, sie steigen hindurch in den Hinterhof. „Ich war wie in Trance, wie im Film“, erzählt K. Ein Mann reicht ihm ein Handtuch, er blutet am Kopf. Auf der Straße findet er schließlich seine Mutter. Sie war einkaufen, während er auf einen Haarschnitt wartete.

Ursache der Explosion war ein mit Nägeln gespickter Sprengsatz. Der 29-jährige Bürokaufmann ist einer von 22 Verletzten des Anschlags in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004. Direkt vor dem Salon detonierte die auf einem Fahrrad montierte Bombe – abgestellt haben sollen sie die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Gleich neun Zeugen der grausamen Tat hat das Oberlandesgericht München am Mittwoch in den NSU-Prozess geladen – zu hören sind neun Schicksale von Menschen, die bis heute mit den Folgen des Anschlags leben müssen. Am Vortag hatten bereits vier andere Betroffene ausgesagt, mindestens zwei Wochen dauert die Vernehmung der Armada an Zeugen.

Quälende Erinnerungen, das Leben „unlebbar und wertlos“

Wie alle, die sich während der Explosion gegen 16 Uhr des warmen Sommertags in der Nähe der Bombe aufhielten, trug Fatih K. eine Verletzung an den Ohren davon. Drei Tage lang hörte sich alles für ihn dumpf an. Doch für ihn, der damals 18 Jahre alt war, sei der Anschlag mittlerweile ein gutes Stück weg, andere Schicksalsschläge in seinem Leben hätten ihm stärker zugesetzt.

Andere Zeugen quält die Erinnerung bis heute. Der 9. Juni 2004 habe ihr Leben „unlebbar und wertlos“ gemacht, sagt die Frau aus dem Grußkartengeschäft neben dem Salon. Er flüchte sich immer in sein Geschäft, wenn er einen Fahrradfahrer auf der Keupstraße sehe, sagt der Juwelier von gegenüber. Bei einem der Friseure hat sich das gespenstische Bild eine Manns eingebrannt, der sein Fahrrad vor dem Salon abstellte.

Noch einprägsamer wirken allerdings die reinen Tatsachenschilderungen, die Zeugen mit dem Abstand von über zehn Jahren beinahe tonlos vortragen. Attila Ö. wartete ebenfalls beim Friseur. Nach der Explosion sagte ihm jemand auf der Straße, dass ein Nagel in seinem Hinterkopf stecke – und zog ihn heraus.

„In der Hölle angekommen“

Ö. war mit seinem Freund Abdullah Öz. in das Geschäft gekommen. Auch der dachte zuerst an eine Gasexplosion. Doch die Auswirkungen waren schlimmer: Öz. sah den Rauch und nahm den Geschmack von Schwarzpulver wahr. „Ich habe gedacht, ich bin jetzt in der Hölle angekommen“, erzählt er.

An der Aussage des 38-Jährigen lässt sich der Zorn ablesen, der sich seit dem Anschlag in ihn gefressen hat – und dieser richtet sich in erster Linie gegen die Polizei, die ihn und seinen Freund noch am selben Tag zur Vernehmung ins Präsidium kommandierte. Erst musste er seine Kleidung abgeben, dann eine Speichelprobe. „Ich habe gesagt: Nein, ich bin doch kein Vergewaltiger. Aber dann ist es dazu gekommen“, sagt Öz.

Auch Attila Ö. musste sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. In diesem Zustand, sagt er, sei er sechs Stunden lang bis nach Mitternacht vernommen worden. Laut Polizeiprotokoll dauerte die Befragung allerdings nur eine Stunde. „Die haben mich wie einen Beschuldigten behandelt und gefragt, ob ich Leute aus dem Rotlicht- oder dem Drogenmilieu kenne“, erinnert sich der 40-Jährige. Als er nach Hause kam, hätten gleich andere Ermittler vor der Tür gestanden und ihn sprechen wollen.

Ein „kölsch-türkisch-deutscher Junge“

Ähnliches Szenario bei Fatih K.: Ob er etwas von der kurdischen Untergrundorganisation PKK wisse, ob es kriminelle Aktivitäten auf der Keupstraße gebe, ob er Kontakt zu Kriminellen habe.

An jedem Vernehmungstag tauchen neue Beispiele dafür auf, wie die Polizei nach der Tat Opfer bedrängt haben soll, mit übereilten Schuldhypothesen auf die Zeugen losging. Im Fall der Nagelbombe richteten sich die Verdächtigungen nicht nur gegen eine Familie, sondern gegen einen ganzen Straßenzug. Vor Gericht entsteht so ein hässliches Bild der Ermittler – die in allen NSU-Fällen nach einem ähnlichen Schema vorzugehen schienen.

Die Entschuldigung für solche Unterstellungen folgte erst nach der Enttarnung des NSU im Jahr 2011, Opfer aus der Keupstraße wurden vom Bundespräsidenten empfangen. Doch so, wie sie heute von ihren Erlebnissen bei der Polizei sprechen, klingt es nicht, als hätten sie die Entschuldigung angenommen.

Vielmehr hat sich die Wut in eine Art Trotzhaltung gewandelt – und den Willen, sich nicht von der Angst seinen Platz im Leben nehmen zu lassen. Das hat Abdullah Öz. seit der Geburt in Köln verbracht. Ein „kölsch-türkisch-deutscher Junge“ sei er. Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler fragt ihn, ob er sich mal überlegt habe, die Stadt zu verlassen. Öz. stockt kurz. Dann antwortet er: „Wieso sollte ich das?“

 

Lebenslang versehrt – Das Medienlog vom Mittwoch, 21. Januar 2015

Einst schwer verletzte Opfer fassten vor Gericht ihr Leiden in Worte, die Hauptangeklagte Beate Zschäpe zeigte sich – wie üblich – ungerührt: Am Dienstag sind im NSU-Prozess die ersten Zeugen zum Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße gehört worden. 22 Menschen wurden am 9. Juni 2004 verletzt, als über 700 Nägel aus einem Sprengsatz schossen, abgestellt mutmaßlich von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die Aussagen waren drastisch: „Was zwei Zeugen am Dienstag vor Gericht schildern, lässt manchem Zuhörer das Blut in den Adern gefrieren“, schreibt Gisela Friedrichsen auf Spiegel Online.

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176. Prozesstag – Verletzer Friseur aus der Keupstraße im Zeugenstand

Vor dem Friseursalon mit der Nummer 29 in der Kölner Keupstraße zündeten die mutmaßlichen Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt laut Anklage im NSU-Prozess eine Nagelbombe. Bei dem Anschlag vom 9. Juni 2004 wurden 22 Menschen verletzt – darunter der Friseur Hasan Yildirim. In dem Geschäft war die Wirkung des Sprengsatzes am stärksten. Noch 250 Meter weiter brachte die Druckwelle Scheiben zum Platzen. Yildirim wurde verletzt, im Anschluss litt er unter Angststörungen – doch er arbeitet bis heute in dem Friseursalon. Am Mittwoch sagt er als Zeuge im Münchner Gerichtsverfahren aus.

Insgesamt sind neun Betroffene des Anschlags in den Zeugenstand geladen, zudem zwei Ärzte, die drei von ihnen im Krankenhaus behandelten. Es handelt sich um den zweiten Tag, an dem Opfer sich in der Verhandlung äußern.

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Jahrelang im Verdacht

Im NSU-Prozess haben erstmals Opfer des Kölner Nagelbombenanschlags von 2004 ausgesagt. Sie mussten mit drastischen Verletzungen leben – und mit Anschuldigungen der Polizei.

Lange Zeit hat sie niemand gehört. Sie waren Opfer von Verdächtigungen und Gerüchten. Standen im Verdacht, sich selbst die Schmerzen zugefügt zu haben, unter denen sie noch heute leiden: die Zeugen, die den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 miterlebt haben.

Selbst im NSU-Prozess wurden die Kölner Zeugen auf die lange Bank geschoben: Mehr als anderthalb Jahre hat es gedauert, bevor sie in München aussagen durften. Am heutigen Dienstag sagten nun diejenigen aus, die unter den Betroffenen die schwersten Verletzungen erlitten hatten.

Denn die Wirkung der Bombe war verheerend: Mit mehr als 700 Nägeln bestückt war der Sprengsatz, den laut Anklage Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf einem Fahrrad angebracht und vor einem Friseursalon in der Keupstraße abgestellt hatten – einem der wichtigsten Zentren des türkischen Lebens in Köln. Die Nägel bohrten sich noch 150 Meter vom Sprengsatz entfernt in jedes Hindernis, noch in 250 Metern Entfernung barsten Fensterscheiben. 22 Menschen wurden damals verletzt.

In dieser und der nächsten Woche hört das Münchner Oberlandesgericht die Opfer und die Ärzte, die sie behandelt haben. Ein Protokoll der Aussagen, die die Folgen der rassistischen Tat dokumentieren.

Sandro D. (34), arbeitssuchend, aus Köln
Kurz vor 16 Uhr war ich mit meinem Freund Melih in Mülheim unterwegs. Wir haben unser Auto auf der Keupstraße abgestellt und uns einen Döner geholt. Auf dem Rückweg vor dem Friseurladen ist es dann passiert. Das fühlte sich an, als hätte mir jemand von hinten die Beine weggeschossen. Überall war Qualm. Neben mir sah ich Melih auf dem Boden. Ich brüllte seinen Namen – ich wusste nicht, ob er lebt oder tot ist. Ich konnte aber nichts hören, weil meine Trommelfelle zerstört waren. Um mich herum standen Menschen, sie zogen mir mein brennendes Oberteil vom Leib.

Später habe ich erfahren, dass wir bei der Explosion genau vor dem Friseurladen waren, direkt an der Bombe. Alles war ohne Geräusche, wie in Zeitlupe. Es war wie ein Stummfilm. Von meinen Verletzungen habe ich nur einen schwarzen Punkt an meinem Bein wahrgenommen und meinen Daumen – da schaute der Knochen raus.

Im Krankenwagen rief ich meine Mutter an, dann war ich weg. Ich bin erst zwei Tage später wieder zu mir gekommen, da konnte ich auch wieder etwas hören.

Ich war dann wochenlang im Krankenhaus, am Anfang auf der Intensivstation. Ich hatte Nägel in den Beinen und am Rücken. Ich durfte nicht mit Melih sprechen, weil es hieß, wir hätten das Fahrrad dorthin gestellt und die Bombe sei zu früh explodiert. Ich wollte wissen, was mit Melih war. Irgendwann hat man uns dann von Intensivstation zu Intensivstation telefonieren lassen.

Diese Sache nagt an einem. Vor allem der Gedanke, dass alles so schnell zu Ende sein kann. Dabei denke ich dann an meine beiden Kinder. Erst habe ich keine psychiatrische Therapie gemacht. Es gab ja keine Täter. Weil man nichts abschließen konnte, habe ich versucht, das zu vergessen. Als es dann hieß, es gebe einen Täter, musste ich mich der Sache stellen. Die richtige Therapie fängt erst nach dieser Aussage an.

Dietmar P. (59), behandelnder Arzt von Sandro D.
Herr D. kam am 9. Juni 2004 mit dem Rettungsdienst in unsere Notaufnahme. Er hatte eine große Risswunde an der linken Schulter, mehrfache Fremdkörpereinsprengungen in Form von zehn Zentimeter langen Zimmermannsnägeln, Verbrennungen zweiten Grades im Gesicht und am linken Arm. Am schlimmsten war, dass der rechte Oberschenkelknochen durch einen Nagel gerissen war. Vier Nägel wurden ihm entfernt. Die Brandwunden mussten durch Hauttransplantationen behandelt werden. Am linken Oberarm musste immer wieder abgestorbenes Gewebe abgetragen werden.

Melih K. (31), Justizangestellter aus Köln
Ich war mit Sandro auf der Keupstraße, als es den Knall gab. Licht aus, Licht an, und dann ist man auf einmal in Texas – alles in Schutt und Asche. Mein linker Arm, meine Haare und meine linke Gesichtshälfte brannten. Die Leute um mich herum schütteten Wasser über mich.

Im Krankenhaus wurde ich operiert, hatte immer wieder Arztbesuche und Reha-Aufenthalte. Ich hatte schwere Verbrennungen, auch an den Beinen. Wenn ich den Fuß bewegt habe, habe ich gesehen, wie sich die Sehnen und die Adern bewegt haben. Das war wie bei Körperwelten. Auch meine Gesichtszüge waren kaum zu erkennen. Als ich wachgeworden bin, lag ich da wie eine Mumie.

Wenn ich mich heute umziehe, sehe ich jedes Mal die Narben. Ich hatte jahrelang Probleme beim Einschlafen, heute gehe ich zur Psychotherapie. Viele Jahre lang habe ich nichts gemacht – ich musste meine Ausbildung abbrechen, weil ich nicht mehr geeignet war. Dann habe ich mich zu Hause eingeschlossen. Erst war ich beim Arbeitsamt, dann habe ich mich abgemeldet, bevor ich Hartz-IV-Empfänger geworden wäre. 2011 habe ich dann eine Umschulung zum Bürokaufmann begonnen und 2013 abgeschlossen. Anfang dieses Jahres habe ich eine Anstellung bekommen.

Ich habe nicht sofort erfahren, dass es sich um eine Bombe handelte. Als die Polizei mich fragte, wer für den Anschlag verantwortlich sein könnte, habe ich die rechte Szene dahinter vermutet. Das ist ja offensichtlich. Wer würde so etwas sonst am hellichten Tag machen, wo es jeder sehen kann. Dafür muss man kein Ermittler sein.