„Ich habe nie Medaillen gezählt“, hatte Michael Phelps vor der Eröffnungsfeier in London gesagt, und wohl niemand hatte es ihm geglaubt. Medaillen sind die Währung der Olympischen Spiele. Jeder Sportler will eine, am besten in Gold, jede Nation will ganz viele, auch Deutschland. Alle vier Jahre schreibt der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) den Sport-Verbänden deshalb in Zielvereinbarungen vor, wie viele Medaillen jeder Sportverband bitteschön gewinnen sollte. Schließlich gibt das Bundesinnenministerium (BMI) jährlich mehr als 130 Millionen Euro für den Spitzensport aus. Weil das Steuergeld ist, wollten Journalisten des WAZ-Rechercheblogs – unter anderem der ZEIT-ONLINE-Autor Daniel Drepper – wissen, wie viele Medaillen der DOSB in welcher Sportart in London verlangt. DOSB und BMI verweigerten eine Antwort. Doch gestern entschied das Verwaltungsgericht Berlin: Das Ministerium muss die Medaillenvorgaben aller Sportverbände offenlegen. Wir sind gespannt, wie groß beispielsweise die Lücke zwischen Ist und Soll bei den Schwimmern ist.
Per Zeitungsanzeige zur Medaille
Der britische Sportverband hatte schon vor Jahren einen noch besseren Plan, um an Medaillen zu kommen. Per Zeitungsanzeige suchten die Funktionäre Teilnehmer für die Olympischen Spiele. Die Mutter von Helen Glover las in ihrer Lektüre, dass große Menschen mit Sportinteresse gesucht werden. Sie dachte an ihre Tochter, die Sport studierte, sportlich und relativ erfolgreich im Mountainbike-Fahren war und sprach mit ihr darüber. Das war vor vier Jahren. Am gestrigen Mittwoch gewann Helen Glover dann die erste Goldmedaille dieser Spiele für Großbritannien, im Rudern. Obwohl sie bis 2008 noch nie ein Ruder in der Hand gehalten hatte, schaffte sie es durch maximales Training innerhalb von vier Jahren, von einer Nicht-Ruderin zur Olympiasiegerin im Zweier ohne Steuerfrau zu werden.
Die Fotos der Beachvolleyballerinnen
Die Olympischen Spiele sind ein bildstarkes Ereignis, Tausende Sportfotografen sind in London unterwegs, sie fotografieren alle Wettkämpfe, meist für ihre Bildagenturen, die eine Auswahl der Bilder vornehmen und die Bildausschnitte bestimmen. Die Medien suchen sich dann in den Datenbanken der Agenturen jene Bilder, die sie veröffentlichen. Besonders interessant sind die Fotos vom Beachvolleyball. Wir vermuten, dort gibt es mehr Sportfotografen als Sportfotografinnen. Das ist nur eine These. Über die Geschlechterverteilung in der Berufsgruppe Sportfotograf liegen uns keine Statistiken vor. Aber wer etwa bei der großen Bildagentur Getty Wettkampfbilder sucht, findet Bilder wie dieses. Bei anderen Wettkämpfen wie etwa Gewichtheben oder Schießen sind die Bildausschnitte anders gewählt. Die Kollegen von metro.us brachte das auf einen interessanten Gedanken: Was wäre, wenn alle olympischen Sportarten wie beim Beachvolleyball der Frauen fotografiert werden würden?
Best of 100 Meter Schwimmen
Einen anderen Was-Wäre-Wenn-Gedanken hatten Journalisten der New York Times: Sie lassen alle Olympiamedaillengewinner über 100 Meter Freistil gegeneinander schwimmen. Alle heißt alle. Im animierten Schwimmbecken treten etwa Mark Spitz (sieben Goldmedaillen 1972) gegen Johnny Weissmuller (erster Schwimmer, der 1928 schneller als eine Minute war) gegen den neuen Olympiasieger Nathan Adrian an. Heraus kommen Erkenntnisse wie diese: Alfréd Hajós, erster Goldmedaillengewinner im Jahr 1896, wäre heutzutage mit seiner Zeit (1:22,2) mehr als 42 Meter hinter dem Olympiasieger des Jahres 2008.
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In der olympischen Vergangenheit war jedoch nicht in allen Disziplinen alles schlechter als es heute ist. Zum Beweis dieses Fundstück von den Spielen 1972 in München.
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Doping ist verwerflich, weil Sportler unsaubere Mittel einsetzen. Aber immerhin wollen sie gewinnen. Der heutige Fall liegt anders. Vier Badminton-Frauenteams aus Südkorea, China und Indonesien wollten ihre Partien verlieren, zwei davon spielten sogar dabei gegeneinander. Ist das genauso verwerflich wie Doping oder noch verwerflicher?
Kann ein solcher Wettbewerb ums Verlieren nicht auch ganz unterhaltsam sein, ließe sich das nicht weiterdenken? Wie sähen zum Beispiel Laufwettbewerbe oder Ruderrennen aus, in dem alle Teilnehmer Letzter werden wollten? Nicht neugierig, liebe Leser? Ich würde mir das jedenfalls nicht entgehen lassen.
Doch die Sache hat, wie vieles im Unterhaltungsbetrieb Sport, einen ernsten Kern. Denn die Spielerinnen handelten natürlich nicht aus Rücksicht, sondern aus Kalkül. Weil sie bereits für die nächste Runde qualifiziert gewesen waren, hofften sie auf einen leichteren Gegner im Viertelfinale.
Aber: Ein Code im Badminton sieht vor, dass sich die Spieler um ihre beste Leistung bemühen sollen – in jedem Spiel ist gemeint. Davon kann hier keine Rede sein. „To throw the match“, sagt der Engländer, von „thrown games“ spricht der Sportrechtler. Weggeworfene Spiele. Sowas ist im Badminton verboten, vermutlich auch, weil das Phänomen in diesem Sport nicht unbekannt ist. Können sich die Beschuldigten auf Gewohnheitsrecht berufen?
Doch geht es nicht nur um Paragrafen, hier stellt sich eine Grundsatzfrage. Denn das Gewinnenwollen ist die Grundlage des Sports, deswegen kommen Zuschauer, sie versprechen sich Wettbewerb, erhoffen sich Spannung. Athleten, die verlieren wollen, entziehen dem Ganzen den Sinn. Hier hat ja nicht ein Vater seinen kleinen Sohn beim Federball über die Teppichstange im eigenen Garten gewinnen lassen. Das war Olympia.
Wem diese Anklage zu hochgegriffen klingt, der schaue sich das Video an, wie die Spielerinnen Aufschläge deutlich absichtlich ins Netz oder neben das Aufschlagfeld schlugen, das plötzlich so klitzeklein wurde. Bilder können auch in moralischen Fragen eine andere Wirkung zeitigen als Buchstaben.
Andererseits darf man sich auch nicht von Bildern verführen lassen. Die Teams verfolgten ja eine Erfolgsstrategie: jetzt verlieren, später gewinnen. Kann man das jemandem verübeln? Dieses Dilemma ja auch in anderen Sportarten vorkommen. Die Zuschauer in der Wembley-Arena jedenfalls pfiffen auf sportmoralische Debatten und auf die Spielerinnen. Der Badminton-Verband schloss alle vier Teams aus, das ist immerhin das halbe Feld. Die Verteidigungsrede des südkoreanischen Trainers, die Chinesen hätten angefangen, machte alles nur noch schlimmer.
Kritik kommt nun auf am Modus. Normalerweise wird Badminton im K.o.-System durchgeführt, so auch in Peking 2008. Wer verliert, scheidet aus. In London hat man Gruppenphasen eingeführt, vielleicht weil man allen Teams nach Niederlagen eine zweite Chance geben wollte, vielleicht weil damit mehr TV-Zeit und Geld rauszuschlagen ist. Hier sind meine 2 Cent: das doppelte K.o.-System, in dem man erst nach der zweiten Niederlage ausscheidet. Der Modus ist zwar ein bisschen komplizierter, aber irgendwas ist ja immer.
Aber auf den Modus kann auch nicht alles schieben, jedenfalls nicht, wenn man auf Selbstverantwortung von Athleten und Sportsgeist glaubt.
Der Fall erinnert die Chronisten und Sportfans entweder an Hamburg 74, als die BRD bei der Fußball-WM vielleicht absichtlich gegen die DDR verlor, um auf Holland erst im Finale zu treffen. Oder an Gijon 82. Bei der WM in Spanien „einigten“ sich Deutschland und Österreich schweigend ab etwa der 20. Minute auf den aktuellen Spielstand (1:0) als Endergebnis. Beide profitierten davon, Algerien, das sein Spiel schon ausgetragen hatte, war zuschauender Leidtragender. Auch hier sehr dreist, wie wenig beide Teams ihr falsches Spiel maskierten. Nach dem Turnier legte die Fifa fest, dass alle Spiele der letzten Runde zeitgleich stattfinden müssen. Es war einer der größten Skandale der Fußballgeschichte, bis heute eins der dunkelsten Kapitel des deutschen Sports.
Warum soll man den heutigen Fall anders bewerten? Weil es „nur Badminton“ ist? Das wäre herablassend. Das ist Frage 1 unseres Besinnungsaufsatzes, liebe Leser. Frage 2 heißt: Wäre es eigentlich moralisch besser gewesen, wenn die Spielerinnen nicht so offensichtlich absichtlich verloren und stattdessen einen Scheinwettkampf geliefert hätten? Mof
Wem einmal eine Medaille überreicht wurde, der möchte gerne noch eine. So auch Felipe Kitadai. Der brasilianische Judoka und Bronzemedaillengewinner in der Gewichtsklasse 60 Kilogramm, dürfte aber besonders darauf erpicht sein, denn seine Trophäe fiel ihm beim Duschen runter. Er hatte geschworen, sie überall mithinzunehmen. Nun hat sie eine Delle, und das Trageband riss. „Ich nahm sie mit unters Wasser und steckte sie in den Mund“, sagte Kitadai völlig geknickt. „Ich wollte verhindern, dass sie nass wird. Als ich mich einseifte, fiel sie runter.“ Kitadai bat um ein neues Modell, das IOC überlegt nun, wie es mit der Bitte umgehen soll. Werden sich die harten Herren der Ringe (und Medaillen) erweichen lassen?
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Britta Heidemann wird nach ihrer Silbermedaille im Degen-Einzel eine weitere Ehre zuteil: Der Guardian hat mit Lego ein Reenactment ihres Gefechts gegen Shin A-Lam fabriziert. Die Tränen der Koreanerin muss man sich aber hinzudenken. Schnelle Produktionszeit der englischen Kollegen übrigens.
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Das Internet ist eine wichtige Errungenschaft, weil es belegt, mit welcher Verbitterung selbst Jugendliche zu kämpfen haben und zu Werke gehen. Auf Twitter ist der britische Wasserspringer Tom Daley von einem enttäuschten Fan böse beleidigt worden. „Du bist eine Enttäuschung für Deinen verstorbenen Vater“, hieß es in dem Tweet.
Vor eineinhalb Jahren verlor der nur ein Jahr ältere Daley seinen Vater, der an einem Gehirntumor starb. Der Wasserspringer widmet seine Erfolge stets seinem Vater. Beim Synchronwettbewerb vom Zehn-Meter-Turm waren Daley und sein Partner Pete Waterfield am Montag als Medaillenhoffnung der Gastgeber an den Start gegangen – und wurden Vierte.
„Es tut mir leid, Kumpel. Ich wollte nur, dass du gewinnst, bitte nimm meine Entschuldigung an. Ich will nicht gehasst werden“, sagte Daleys Peiniger, nachdem er von der Polizei festgenommen wurde.
Daley ist übrigens Stänkerei gewohnt. Als er mit fünfzehn Jahren Weltmeister wurde, mobbten ihn anschließend seine Mitschüler. „Ich versuchte, in der Pause irgendwie im Klassenzimmer zu bleiben.“
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Wer ist nicht von solchen Beifahrern genervt, die jede Gas-, Kuppel- und Bremsbewegung mitvollziehen? Doch solch motorischer Support kann auch beflügeln. Die Eltern der amerikanischen Turnerin Aly Reisman, konnten bei der Kür ihrer Tochter nicht an sich halten und gingen auf der Tribüne ordentlich mit, vor allem die Mutter. Siehe da, es half. Am Dienstagabend gewannen die Amerikanerinnen Teamgold im Turnen.
Die Eltern von Barry Murphy hätten ihre Arme und Beine gegeben, um ein Ticket für die olympischen Schwimmwettkämpfe zu bekommen. Murphy ist irischer Schwimmer, wie sehr seine Eltern ihn in London schwimmen sehen wollen würden, twitterte er. Am Wochenende schwamm er jedoch, ohne dass seine Mutter oder sein Vater dabei waren. Dabei waren im Stadion etliche Plätze nicht besetzt. Mehr als 12.000 Plätze blieben am vergangenen Sonntag bei den olympischen Wettkämpfen laut Telegraph leer. Ausgerechnet bei attraktiven Wettbewerben wie Turnen, Tennis, Basketball und Schwimmen waren ganze Zuschauerblöcke freigeblieben. Offensichtlich waren aber, entgegen einer etwas voreiligen Aussage von Großbritanniens Sportminister Jeremy Hunt, nicht die Sponsoren schuld. Vor allem Funktionäre haben von ihren Karten keinen Gebrauch gemacht. Olympioniken, die vergeblich versucht hatten, Tickets für Freunde und Familie zu besorgen, ärgerte das. Politiker und Medien sprechen in London bereits vom Ticket-Fiasko. Einerseits soll die Nachfrage nach Tickets größer sein als das Angebot. Andererseits schaffen es die Organisatoren wohl nicht, Ticketkontingente, die zurückgegeben werden, zeitnah zu verkaufen. Organisationschef Sebastian Coe reagierte auf die Kritik gelassen und kündigte an: „Wir lassen jetzt Soldaten rein.“ Die hätten es verdient, weil sie kurzfristig für die Sicherheit der Spiele in die Bresche gesprungen seien. Außerdem würden die weltweit gesendeten Fernsehbilder dann keine halbleeren Tribünen zeigen.
Stadion-Schlüssel verbummelt
Im Stadion in Wembley standen die Verantwortlichen vor dem Start des olympischen Fußballturniers vor verschlossenen Türen. Weil sie keinen Schlüssel hatten, verständigten sie die Polizei. Doch die Ermittlungen kamen zu keinem Ergebnis. Sie fanden keinen Täter. Weil die Generalschlüssel sich nicht wieder eingefunden haben, musste die Sicherheitsfirma fast alle Türschlösser austauschen. Scotland Yard stufte die Schlüsselaffäre jedoch nicht als Straftat ein.
Banksy beteiligt sich an den Spielen
Eine andere Straftat hat die britische Polizei bisher bloß im Internet entdeckt. Der unbekannte Graffiti-Künstler Banksy veröffentlichte vor dem Beginn der Spiele ein neues Straßen-Kunstwerk. Auf seiner Website zeigte er das Bild, das bisher noch niemand entdeckt hat. Vielleicht ist das auch gut so. Londons Polizei verfolgt Graffiti-Künstler, wenn sie ihre Werke im öffentlichen Raum hinterlassen, und entfernt diese. Im März wurde übrigens ein Kunstwerk von Banksy für mehr als 400.000 Pfund in London versteigert.
Kinnhaken beim Fechten
Das Auftaktwochenende des deutschen Olympiateams verlief schlechter als geplant. Im Schwimmen, wo Medaillen eingeplant waren, enttäuschte das Paar Britta Steffen und Paul Biedermann. In allen übrigen Wettkämpfen gelang keinem deutschen Athleten eine positive Überraschung. Auch der Säbelweltranglistenerste Nicolas Limbach scheiterte. Am schlimmsten erwischte es aber wohl die Florettfechterin Carolin Golubytskyi. Die 26-Jährige führte gegen Elisa di Francisca mit 8:6, als die Italienerin mit dem Florett voll durchzog und der Deutschen Meisterin mit dem Griff der Waffe einen Kinnhaken verpasste. Golubytskyi taumelte, stürzte zu Boden und musste mehrere Minuten behandelt werden. Danach kämpfte sie weiter, verlor und musste am Sonntag schon wieder nach Hause fahren. Manfred Kaspar, Sportdirektor des Deutschen Fechter-Bundes, bedauerte die Niederlage, gab aber zu: „Fechten ist eben eine Kampfsportart.“
Asyl in London:
Es gibt ja viele Menschen, die diese Olympischen Spiele mögen. In London macht es Spaß, Sportler zu sein. Der Gedanke, dass dies in zwei Wochen schon wieder vorbei ist, gefiel einem Läufer aus Sudan überhaupt nicht. Vor dem Wochenende berichteten britische Medien über einen Athleten aus dem südsudanesischem Olympiateam, der in Leeds des nachts eine Polizeiwache aufgesucht haben und um Asyl gebeten haben soll. Im Sudan herrschten in den vergangenen Jahrzehnten oft bürgerkriegsähnliche Zustände. Hunderttausende Menschen starben bei den Auseinandersetzungen zwischen dem arabischen Norden und dem seit dem vergangenen Jahr eigenständigen Süden des Landes. Es wäre verständlich, wenn ein Sportler in London auf die Idee käme, nicht zurück reisen zu wollen. Doch bevor das Asylgesuch zum Aufreger dieser Spiele wurde, dementierte am Freitag die sudanesische Botschaft offiziell in London: Es werde weder ein Mitglied des Teams vermisst, noch habe ein Sportler um politisches Asyl in England gebeten.
Der schlimmste Tweet über die Eröffnungsfeier
Eine Show wie die mehrstündige Eröffnungsfeier der Spiele kann nicht jedem gefallen. Vermutlich wollte das der Regisseur Danny Boyle auch nicht. Doch eine Reaktion, wie sie der Tory-Politiker Aidan Burley der Öffentlichkeit mitteilte, hat womöglich auch den Oscar-Gewinner Boyle überrascht. Die 34-Millionen-Euro-Darbietung sei „multikultureller Käse“ gewesen, twitterte der Konservative und fuhr fort, dass das Spektakel die linkeste Eröffnungsfeier war, die er je gesehen habe. Selbst Politiker aus Burleys Partei empörten sich im Anschluss an dessen Meinungsäußerung. Burley war im vergangenen Jahr übrigens Gast auf einer Party, die englische Medien als Nazi-Party bezeichneten.
01:45 Das Fazit überlassen wir heute unserem Gast Gunter Gebauer:
„Die Show hat nach leichten Anlaufschwierigkeiten meine hohen Erwartungen erfüllt. London war das Gegengewicht zur Eröffnungsfeier von Peking 2008. Das war zwar perfekt arrangiertes High-Tech, aber trug deutlich autoritäre Züge.
Die Feier in London war viel leichter, hatte viele tanzende Momente, witzige Momente. Die Show zielte auf witzige Stimmung, etwa, dass die großen Hits der englischen Musikkultur zum Tragen kamen. Das war kreativ, das war der Spirit of London. London hat die Popkultur gefeiert, und Sport gehört eben zur Popkultur. Wenn man den Abend zusammenfassen will: Der Sport wurde in die Popkultur eingemeindet.
Die Deutschen haben sich als vergnügte Mannschaft präsentiert, die Gefallen an dem Fest gefunden haben. Unsere Fahnenträgerin Natascha Keller ist eine muntere und witzige Frau. Die ganze Mannschaft strahlt Lebensfreude aus. Das finde ich gut bei deutschen Mannschaften, das war früher nicht immer so. Die Freude ist auf mich übergesprungen.
Erstaunlich auch immer wieder, welche Weltprominenz Olympia versammeln kann: Ban Ki Moon, Muhammad Ali, über hundert Staatsoberhäupter. Schade, dass das IOC nicht in der Lage ist, diese Macht im guten politischen Sinne auszuspielen, sondern meist nur im schlechten.
Negativ: ein paar nationale Misstöne zu Beginn und in der Rede von Sebastian Coe, das langweilige Ende und der deutsche Fernsehkommentar.“
Christian Spiller ergänzt aus dem Stadion: „Bestgelaunte aller Mannschaften auf dem Innenfeld: die Australier. Tanzen, lachen und schwatzen mit den Kanadiern und Chinesen.“
Und ich finde, da war viel dabei. Wenn ich drei vermisst habe, dann: Oasis, Morrissey und Robbie Williams. Und Stuart Pearce. Und damit eine Gute Nacht und Ihnen schöne, spannende Olympische Spiele. Vielen Dank an Gunter Gebauer, der schon auf dem Nachhauseweg ist, und Ihnen fürs Mitmachen.
01:40 Die Flamme wird von einer großen Menge Jugendlicher entzündet, begleitet von ehemaligen britischen Medaillengewinnern. Die Briten entziehen sich der mit großer Spannung erwarteten Frage. Nennen wir es elegant.
Geht’s nur mir so? Ich muss zu Boden schauen, Paul McCartney (70) kommt nicht mehr an die hohen Töne von Hey Jude ran. Aua, Mitleid.
01:19 Die Queen macht bei ihrem Eröffnungssatz einen müden majestätischen Eindruck. I declare this bazaar open.
01:15 Die Funktionäre holen uns mit ihren nichtssagenden Phrasen wieder runter. Kein Wort von Coe und Rogge über München 72.
Jetzt der Eid, nicht nur von Athleten gesprochen. Dr. Soundso: „Ich schwöre, dass ich alle Medikamente selbst hergestellt habe.“
Gebauer: „Ich bin sehr enttäuscht, dass Sebastian Coe einen nationalistischen Ton hereinbringt (‚Nie war ich so stolz, ein Brite zu sein‘). Das hat auf einer internationalen Veranstaltung nichts verloren. Er prophezeit auch etwas zu großsprecherisch, dass die Spiele ein Triumph würden. Ich wünsche mir mehr Understatement. Da merkt man halt, dass er ein konservativer Politiker ist.“
01:05 Arctic Monkeys doing Beatles! Yeah! Herr Gebauer sing mit, aber wie reagiert eigentlich Peking auf diese Show? Die halten das doch bestimmt für ordinär und westliche Dekadenz.
00:32 Ein paar Worte zu den deutschen Fernsehkommentatoren, Herr Gebauer, bitte.
Gebauer: „Schablonenhaft, dröge, forciert um Stimmung bemüht. Es hat keinen Witz, keinen Schwung, keinen Esprit. Das deutsche Fernsehen verkrampft, im Gegensatz zur deutschen Mannschaft. Auch die Beteiligung einer Athletin war offensichtlich keine gute Idee. Kathrin Boron ist mir als eindrucksvolle Persönlichkeit in Erinnerung, doch Sportler können wohl nur aus dem eigenen Sportlerleben etwas beitragen, Einordnungen zu kulturellen und politischen Hintergründen darf man von ihnen nicht erwarten. Sie haben wohl nur die Funktion, emotionale Tiefe herzustellen. Aber das klappte heute auch nicht. Ist ja auch schwer, Gefühle zu beschreiben. ‚Jänsehaut pur‘ hab ich noch im Ohr.“
Heidrun Bleeck schreibt in den Kommentaren: „Wieso ist es im deutschen Fernsehen nicht möglich, einen Engländer, der mit der Geschichte, Musik, Kunst etc. seines Landes vertraut ist, dem Kommentator als „Souffleur“ an die Seite zu stellen? Schade um die vielen Infos, Gags und Aspekte der tollen Brit-Show, die am Großteil des deutschen Fernsehpublikums vermutlich unverstanden vorbeigerauscht sind.“ Herrn Gebauer gefällt das.
00:02 Wie kommt es eigentlich, dass Olympia einen solchen intellektuellen und spirituellen Überbau hat, ungewöhnlich für einen Sportwettbewerb?
Gebauer: „Das geht auf Coubertin zurück, der die Wiederbelebung Olympias bei seinen Landsleuten durchsetzen musste. Die französischen Intellektuellen waren damals theoretisch orientiert, körperfeindlich – im Gegensatz zu den Engländern. Coubertin hat seine Auffassung von Sport überhöht, um sie zu überzeugen. Dabei kam ihm zugute, dass Olympia, geradezu die ganze Antike, insgesamt über Jahrtausende verklärt wurde. Heute sieht man das historische Olympia und die Antike deutlich kritischer.
Dabei hat Coubertin seine Idee mit quasireligiösen Elementen überfrachtet. Die Olympische Idee, der Olympische Eid – das hat alles etwas Weihevolles. Das schleppen die Olympischen Spiele bis heute durch, obwohl das heute nichts mehr mit dem zu tun hat. Und vermutlich auch wohl nie hatte.“
23:30 Herr Gebauer, wie bewerten Sie die Debatte um die verweigerte Schweigeminute für die israelischen Opfer von 1972?
Gebauer: „Ich bin immer für Schweigeminuten. Oder sagen wir: Ich bin für ein würdiges Gedenken. Aber das muss man nicht auf der Eröffnungsfeier machen, denn die soll Vorfreude wecken. Die olympische Bewegung sollte jedenfalls der Toten auf würdevolle Weise gedenken, und zwar auf institutionalisierte Weise, bleibend, bei jeder Feier, nicht nur eine Minute lang. Es wundert mich ohnehin, dass diese Debatte nicht früher schon geführt wurde. Einbeziehen sollte übrigens alle Toten, nicht nur die Israelis. Etwa die Opfer der Studentenrevolten vor den Spielen in Mexiko 1968.
Welche Überlegungen bei der aktuellen Absage gespielt haben, kann ich nicht sagen. Sollte sich der Verdacht erhärten, dass das IOC auf ein Gedenken an die Israelis verzichtet, weil es sich nicht mit der arabischen Welt verscherzen möchte, wäre das fatal. Ich kenne ja die Spekulationen um Thomas Bachs Verbindungen in den Nahen Osten und seine Geschäftsinteressen. Aber dieses Gerücht ist interpretationsabhängig.“
Christian Spiller mailt aus London: „Jetzt, wo der Einmarsch der Teams beginnt, eilen viele Zuschauer aufs Klo. Aber wer soll es ihnen verdenken? Bei so einer tollen Show muss man es halten, bis es nicht mehr geht. Very cool, very british alles. Spätestens bei Mr. Bean und allerspätestens bei dem grandiosen Ritt durch die englische Musikgeschichte haben die Engländer die Welt eingefangen. Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate links und rechts haben ebenfalls tüchtig mitgewippt und ein Tränchen im Auge.“
23:05 Warum spielen sie denn nicht „God Save The Queen“ von den Sex Pistols, wo sie doch schon mal anwesend ist?
Blur statt Oasis. Man muss sich halt für eins entscheiden.
Und Hugh Grant, toll! Ich verlange aber auch Ali G.
22:55 Bei so viel englischer Geschichte – sehen wir später auch einen verschossenen Elfmeter?
Gunter Gebauer muss ans Telefon: Interview mit dem Deutschlandfunk. Ein Mann für alle Sender. Er ist jedenfalls geradezu erfreut über so viel Popkultur (Merke: Gegensatz zu Peking), die inzwischen die Show dominiert.
22:45Die moderne olympische Idee hat auch englische Wurzeln. Pierre de Coubertin hat sich an der Pädagogik britischer Internate orientiert. Kann man das so sagen, Herr Gebauer?
Gebauer: „Ja, an der Realität in der englischen Public School, wo Jugendliche der Oberklasse geformt wurden. Kinder der Reichen, die mit ihren Lehrern den modernen Sport erfunden haben, sich dabei und dadurch diszipliniert haben. Aber genau das zeigt die Feier bislang gerade nicht.“
„Mr. Bean mit Simon Rattle, sehr guter Einfall, große Klasse, genau das hab ich mir von den Briten erhofft. Überhaupt bekommt es einen surrealistischen Touch: fliegende Gorillas, eine zehn Mieter große Frau, viele Mary Poppins und fröhliches Krankenhaus. Jetzt haben sie die Feier schön tief gehängt, genau richtig.“
22:30 Absprung Queen und Bond per Fallschirm: „Das ist echt witzig! Gute Idee.“ (Gebauer)
„Doch aus dem Queen-Begleiter Daniel Craig wurde plötzlich Jacques Rogge. Und als Bondgirl gleich neben dran: Dr. Thomas Bach.“ (C. Spiller)
„Aber das Fahnenhissen ist eine große Enttäuschung. So viel Militär! Und alle Waffenkategorien vorhanden.“ (Gebauer)
„Interessant, hier werden die fünf Ringe direkt aus der englischen Schwerindustrie hergeleitet. Die Engländer klauen bei den Franzosen. Oder sagen wir: Die Engländer eignen sich Geschichte an. Ich dachte, Fakes wären den Chinesen vorbehalten.“ (Gebauer)
22:20 Aus dem Programmheft: Ein bisschen Number Crunching aus dem Programmheft: 7.500 freiwillige Darsteller, 500 Lautsprecher (hört man!), im Innenraum liegen gerade 7.346 Quadratmeter Rasen. Still to come: 320 Betten, 10.490 Athleten, 120 Beats per Minute beim Einmarsch der Sportler (damit sie schneller laufen, kein Scherz) und 7 Milliarden Papierschnipsel, für jeden Erdenbürger einen.
Aber ehrlich gesagt: Bei Eröffnungsfeiern komme ich recht schnell nicht mehr mit.
Gebauer: „Offenbar ist es wie immer: Die Macher wollen Englands Geschichte in neunzig Minuten zeigen. Schwierig. Und dann noch in einem Stadion. Jeder Akt der Darsteller ist symbolisch aufgeladen, und der Zuschauer hechtet nach der Bedeutung. Er ist mit dem Interpretationswahn überfordert.“
22:10 Erstaunlich viel Cricket und Rugby bislang.
22:05 Bradley Wiggins, der englische Tour-de-France-Sieger, tritt in Gelb auf und läutet eine Glocke. „Eine Geste mit bescheidenem symbolischem Gehalt. Außerdem ein totaler Missgriff. Tour de France und Olympia sind wie Feuer und Wasser. Wird das jetzt doch eine nationale Feier?“ (Gebauer)
21:59 Gänse und Kühe laufen ins Stadion, und Poschmann redet von „Exzess“.
21:55 ZON: Heute sendet das ZDF. Aus London. Nicht aus Usedom oder Helgoland etwa. Erleichert?
Gebauer: „Ja, sehr. Wenn es festlich wird, sieht man Steinbrecher im Studio. Das bringt uns schon mal in eine feierliche Stimmung. Die Ruderin Kathrin Boron ist als Expertin am Mikro. Das sieht nach sportlicher Mitbestimmung aus. Aus der Luft sieht das Olympiagelände wie ein Rummelplatz aus, nicht wie eine Weihestätte.“
21:40 Gunter Gebauer ist nun da, sagt, die Erwartungen an diese Feier seien hoch. Welche Bedeutung haben denn Eröffnungsfeiern generell?
Gebauer: „Ursprünglich in der Geschichte der modernen Olmpischen Spiele waren Eröffnungsfeiern ein zeremonieller Rahmen mit religiösem Charakter. Wenn man aus dem Alltag heraustreten will, kann man durch ein Schwellenritual in eine Sonderwelt eintreten: Man tritt über eine Schwelle aus dem profanen Leben in eine höhere Welt, wie man in der Kirche in einen Sakralraum tritt. Das war unter den Bedingungen der Moderne eine rituelle Last für die Olympischen Spiele.
Los Angeles 1932 zum Beispiel war dem Totengedenken gewidmet, in Anspielung an das antike Olympia, dem auch eine Feier des toten Gottes Pelops bevorging. 1936 wurde Olympia zu einer religiös-nationalistischen Feier erhöht. München 1972 hingegen hat folkloristisch-bayrische Elemente in den Mittelpunkt gestellt, etwa Leute mit Lederhosen. Dadurch bekam das eine liebenswürdigen, provinziellen Charakter. München eben.
Andere Städte wie Barcelona 1992 haben sich bemüht, historische Elemente (die Geschichte des Mittelmeerraums) in einer Themen-Show darzustellen. In Peking 2008 erlebten wir die Rückkehr zu Massenspektakel mit hochdisziplinierten Darstellern und einer fulminanten Technik-Show. Von London erwartet man sich den Verzicht auf historische und mythische Tiefgründelei, dafür aber Witz, Popkultur, Understatement. Auf jeden Fall eine Mischung der verschiedenen Elemente, durch die Großbritannien immer wieder zu bezaubern weiß (ein Beatle, Fußballmodel, eine Queen, Farmtiere …).“
21:17 Christian Spiller mailt mir gerade: „Truely international hier im Olympiastadion. Rechts neben mir sitzt der Kollege aus Katar, links ein Mexikaner, daneben zwei Scherzkekse aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, die ihre Visitenkarte gegen meine Kreditkarte tauschen wollten. Vor mir zwei Italiener, die nicht still sitzen können, daneben drei Nepalesen, die schon ein paar Gigabyte an Fotos geschossen haben. Ich glaube, das ist Olympia. Die ganze Welt auf kleinem Fleck?“
21:00 Aus dem Stadion twittert der Kollege Christian Spiller. Jens Weinreich bloggt von ebenda. Die New York Times stellt die 25 wichtigsten Athleten der aktuellen Spiele vor.
20:48 Der zweiteilige Plan der Eröffnungsfeier sieht folgendes vor: Teil 1 wird durch den Regisseur Danny Boyle („Trainspotting“) gestaltet. In Teil 2 laufen die Nationen ins Stadion ein, angeführt von Griechenland. Anschließend werden wir eine Ein-Satz-Rede der Queen und den Olympischen Eid durch einen Athleten, einen Trainer und einen Kampfrichter hören. Zum Schluss wird die Fackel hereingetragen und das Olympische Feuer entzündet.
Vorbemerkung
Die Olympische Familie reist nach 1908 und 1948 zum dritten Mal nach London. Die angeblich schlechte Laune der Gastgeber scheint gewichen, und es gibt gute Anzeichen, dass es heitere Spiele werden – trotz aller Sicherheitsvorkehrungen und Militräpräsenz und auch wenn der Guardian seinen olympiagefrusteten Usern seine Homepage mit einem Klick ganz ringfrei anbietet.
Es wäre ein begrüßenswerter Kontrast zu den beiden letzten Sommerspielen: 2004 in Athen schienen sich die Gastgeber nur für die heimischen Athleten zu interessieren, die Spiele 2008 litten unter dem Protz einer Diktatur.
Den heutigen Fernsehabend begleitet die Frage: Wer wird die Olympische Flamme entzünden? Als Favoriten handeln die englischen Zeitungen und Buchmacher: Sir Steven Redgrave, erfolgreichster Brite der Olympiageschichte und sechsfacher Sieger im Rudern, Sir Roger Bannister, der Mann, der als erstes die Meile unter 4 Minuten lief, Daley Thompson, der Zehnkämpfer, der Jürgen Hingsen in den Wahnsinn trieb, und David Beckham, dem Verdienste beim Zuschlag für die Londoner Bewerbung zugerechnet werden (und der für seine Nichtteilnahme bei dem Turnier entschädigt werden könnte).
Charmant fänden wir auch, wenn die Engländer einen Flieger aus dem Zweiten Weltkrieg entsenden würden. Aber wenn wir einen Vorschlag machen dürften: Wie wärs mit John Cleese? Der hat zwar sportlich überschaubare Verdienste, kann aber schön laufen und die Fackel auf den letzten Metern sicher würdig zum Ziel bringen:
Wir bloggen die Eröffnungsfeier aus der Berliner Redaktion live. Zu uns stoßen wird ab etwa 21.30 Uhr Gunter Gebauer, der viel gefragte Sportphilosoph. Wir freuen uns auf Ihre Kommentare.
Halt, wir haben noch mal nachgeschaut. John Cleese hat doch eine sportliche Vergangenheit:
Es scheint, als sei die Tennis- und Twitter-Legende Boris Becker das Vorbild vieler Olympioniken. Becker versteht es wie kein Zweiter, seine mehr als 100.000 Fans mit Beiträgen zu versorgen. Er findet das spannend.
Um in der schnelllebigen Welt des Internets den Überblick zu behalten, wollen wir täglich den Tweet des Tages küren. In der Redaktion wird noch über den Namen diskutiert: Der „Becker Ehrenpreis für Charmante Kuriositäten in der Elektronischen Randwelt“, kurz: #becker, oder der „Becker Orden für Riesigen Informationsgehalt in Sozialen Medien“, kurz: #boris. Egal wie, teilnahmeberechtigt sind nur olympische Athleten.
Am Tag der Eröffnungsfeier gibt es mit der Hürdenläuferin Caroline Nytra bereits einen klaren Gewinner:
Na zuuuum Glüüüüück hab‘ ich meine Fingernägel passend zum Frühstück (-stisch) lackiert… pic.twitter.com/PDrffI4MI4M
Die Spiele haben noch gar nicht begonnen, da haben sie schon ihren ersten Skandal. Oder sind es bereits zwei? Zuerst wurde beim Fußballspiel der Nordkoreanerinnen gegen Kolumbien von allen möglichen 200 falschen Flaggen ausgerechnet die südkoreanische neben den Namen der Spielerinnen eingeblendet. Skandal Nummer zwei: Mitt Romney, olympischer Organisator von 2002 (Winterspiele Salt Lake City) und amerikanischer Möchtegern-Präsident auf europäischer goodwill-Tour, bezweifelt, dass die Briten als Nation olympiareif sind. „Werden sie wirklich zusammen den olympischen Moment feiern?“, fragte er im US-Fernsehen skeptisch.
Das geht natürlich gar nicht, dass die Spiele mit einer Panne beginnen und die ehemalige Kolonie gegen das Königreich aufmuckt, also musste der Premierminister David Cameron persönlich ran zum Scharte auswetzen. Bei einer open-air-Pressekonferenz direkt vor dem Olympiastadion wurde ausnahmsweise mal nicht er gegrillt wegen irgendwelcher Abhör-Skandale, sondern uns Journalisten wurde heiß, als wir in der stechenden Sonne auf ihn warten mussten, bis er ganz vorbildlich den Olympic Park mit öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Fuß erreicht hatte. An der Seite von Organisationschef Sebastian Coe trat Cameron mit patriotischer Verve den drohenden Schwelbrand aus: Keine diplomatischen Verwicklungen mit Nordkorea, wir haben uns entschuldigt, jetzt bloß nichts aufblasen, war die Botschaft Nummer eins. Nummer zwei: „Wenn ich Mitt Romney heute Abend treffe, werde ich ihm sagen, dass wir das VEREINIGTE Königreich sind.“ Und dann kriegte er sich gar nicht mehr ein vor lauter Begeisterung darüber, was seine Landsleute alles bewerkstelligt haben in den sieben Jahren seit der Vergabe der Spiele nach London.
Dazu muss man wissen, dass sich die Briten als Ex-Weltmacht nicht nur im Fußball mit Minderwertigkeitskomplexen plagen. Auch bei anderen Großprojekten misstrauen sie sich – aus Erfahrung. Länger als ein Jahrzehnt zum Beispiel bauten sie an einer neuen British Library – und am Ende waren die Fußböden zu schwach, um die Bücher zu tragen. Aber jetzt haben sie eine Industriebrache in einen Olympischen Park verwandelt, in dem es wirklich grünt und blüht wie auf einer Alpenwiese. „Britain can deliver!“, rief Cameron, wir Briten bringen das! Und dann lieferte er eine Lektion in pep talk, von der sich Angela Merkel einen Mitschnitt besorgen sollte: Weltklasse-Veranstaltung, mit der wir nicht nur eine Stadt erneuern, sondern die Ambitionen eines ganzen Landes, einer ganzen Generation! Für die Sicherheit der Spiele übernahm er auch noch gleich persönlich die Verantwortung, was ihm mit der „finest army in the world“ im Rücken offenbar nicht schwerfiel.
Nur bei einer Sache stahl sich der Premier aus der Verantwortung: die Eröffnungsfeier. Die Musik von den letzten Proben schwappte aus dem Stadiontopf hinter ihm herüber, als er zwar zugab, über den Ablauf und die großen Momente im Bilde zu sein. „Aber ich bin nicht der Regisseur und ich weiß gar nicht, wie Danny Boyle all die großartigen Momente der englischen Geschichte in ein paar Stunden unterbringen will.“
In jedem Fall werden auch bei der Eröffnungsfeier grüne Aspekte eine wichtige Rolle spielen. Während der ganzen Pressekonferenz wurden gleich nebenan unermüdlich echte Blumenteppiche gewässert, die offenbar im Stadion verlegt werden.
Mitten im Herzen einer von Verkehrskollaps und Finanzkrise gebeutelten Stadt wird morgen Abend das ländliche England gefeiert. Auch eine Menge echter Ähren, liebevoll von Hand einzeln in Styroporblöcke eingepflanzt, werden dabei eine wichtige Rolle spielen. Wir vor Ort konnten uns überzeugen: Die Briten sind zu allem bereit, da kann Romney sagen, was er will.
Eine Überraschung erwartete die ägyptischen Olympioniken. „Die Tasche hat vorne ein großes Nike-Logo, und die Reißverschlüsse sind von Adidas“, twitterte die Synchronschwimmerin Yomna Khallaf, nachdem sie ihre Ausrüstung in Augenschein genommen hatte. Nun flog auf, dass alle ägyptische Athleten für ihre Mission London 2012 mit Nike-Fälschungen ausgestattet wurden. Ob Trainingsanzug, Schuh oder Shirt – alles Fakes.
Eigentlich hätte man von General Mahmoud Ahmed Ali, dem Präsidenten des Ägyptischen Olympischen Komitees, eine Entschuldigung oder wenigstens eine Ausrede erwartet, etwa: „Der Typ am Souk in Kairo hat bei Allah, dem Allmächtigen, geschworen, dass alles echt ist.“ Doch in Wahrheit sagte er: „Mit Blick auf die schwierige ökonomische Situation in Ägypten haben wir uns für einen chinesischen Hersteller entschieden.“ Und (sinngemäß zitiert): Mein Gott, die Dinger kann doch eh kein Mensch unterscheiden.
Die Sache hat jedenfalls einen Haken, deshalb fordert Nike die Ägypter dazu auf, „sofortige Aktionen“ einzuleiten.
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Unter Kontrolle halten die Herren der Ringe vom IOC gerne Fans und Athleten, die ihre Olympia-Erlebnisse in ihren sozialen Netzwerken teilen wollen. Zuschauer dürfen zwar Videos machen, aber nicht verbreiten. Und die Sportler dürfen Facebook und Twitter zwar nutzen, aber nur unter strengen Bedingungen: Aus dem Olympischen Dorf soll nichts nach außen dringen. Dabei würden uns Informationen aus diesem Sperrgebiet besonders interessieren.
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Bei den Sommerspielen von München vor vierzig Jahren ermordeten palästinensische Terroristen elf israelische Athleten. Einer idealen Gelegenheit, diesem traurigen Kapitel der Olympiageschichte zu gedenken, verweigert sich das IOC. Bei der Londoner Eröffnungsfeier am Freitag wird es keine Gedenkminute geben, obwohl sich Hinterbliebene und Politiker wie Barack Obama dies wünschen.
Der IOC-Präsident Jacques Rogge verweigerte sich auch der Frage, ob es antiisraelische Beweggründe für diese Entscheidung gebe. Ankie Spitzer, die Witwe des damals getöteten Fechttrainers André Spitzer, richtete sie an ihn. „Aber Rogge gab mir keine Antwort“, sagte sie enttäuscht dem Jewish Chronicle.
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In Glasgow, zurzeit eine Art Londoner Außenstelle, hat sich gestern jemand etwas Besonderes einfallen lassen, um den nordkoreanischen Humor zu strapazieren, der ohnehin wenig strapazierfähig ist: Vor dem Spiel Nordkoreas gegen Kolumbien zeigte die Stadionregie die Flagge Südkoreas. Mit Südkorea befindet sich Nordkorea bekanntermaßen offiziell im Krieg, daher weigerten sich die Nordkoreanerinnen eine Stunde lang aus Protest, das Spielfeld zu betreten – bevor sie 2:0 gewannen. Inzwischen haben sich die Organisatoren für die Panne entschuldigt. Doch mit Wirkung? „Dear North Korea, when you send over that revenge nuke, remember that they’re Scottish not British“, schrieb ein besorgter Engländer.
CNN hat eine kleine Rangliste der peinlichsten Verwechslungen von Flaggen und Hymnen im Sport erstellt. Zum Beispiel, wie das Schweizer Fernsehen die 1. Strophe der Deutschen Hymne einblendete oder wie Kuwait einer kasachischen Schützin die Hymne des Comedy-Kasachen Borat auflegte:
Auf Twitter sind Nordkorea und IOC zurzeit zwei Trending Topics. Tenor des Zwitschervolks: Die einen schweigen zu politisch Heiklem und kontrollieren Informationen. Die anderen regen sich über eine Fahne auf.
Wer in den Tagen vor der Eröffnung mit offenen Augen durch London geht, sieht ihn manchmal doch aufblitzen, diesen vielzitierten olympischen Geist. Wenn im olympischen Dorf vier Niederländer mit freiem Oberkörper auf ihrem Balkon den Kubanerinnen hinterherpfeifen, die vor ihnen flanieren.
Wenn die Hockeyspielerin Natascha Keller, deren Großvater, Vater und Brüder auch schon bei Olympia dabei waren, bei ihren fünften Spielen die Fahne des deutschen Teams tragen darf, ganz aufgeregt ist und hofft, dass ihre Kollegen sie ihr auch mal abnehmen werden, weil die Fahne doch sonst die ganzen Stunden lang zu schwer werden könnte, wie sie sagt.
Wenn jeder zweite Londoner ein Shirt in Olympiafarben zu tragen scheint und gut gelaunt Auskunft über den schnellsten Weg zur Fechthalle gibt (und die andere Hälfte zumindest milde lächelt anstatt die Nase zu rümpfen, wenn Verirrte ihnen in der U-Bahn vor die Füße laufen).
Und wenn man im Medienzentrum dem Delegationsleiter von Sao Tomé und Principe mit Händen und Füßen erklären darf, dass die Toiletten am Ende des Ganges, dann links, sind.
Dann ist das alles Olympia, etwas Besonderes, vielleicht eine der letzten Utopien, die wir haben. Die ganze Erde in einer Nussschale, ein Modell für eine bessere Welt – in diesen Zeiten gefragter denn je.
Deshalb werden am Freitagabend etwa eine Milliarde TV-Zuschauer dabei sein, wenn bei der Eröffnungsfeier das Olympische Feuer entzündet wird, und das ist noch vorsichtig geschätzt. Einige reden von bis zu vier Milliarden. Weil laut Weltbevölkerungsuhr derzeit etwa sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben, schaut also nicht nur sprichwörtlich die halbe Welt zu. Warum eigentlich?
Es ist wohl der Mythos Olympia. Ein ziemlich diffuses Ding, das diese Sportwochen zu etwas Besonderem macht. Nicht zu vergleichen mit Wimbledon, dem Großen Preis von Monaco, der Tour de France, dem Super Bowl, nicht einmal mit den großen Fußballturnieren. Weil es bei Olympia um mehr zu gehen scheint: Um Internationalität, Fairplay, Freiheit. Die Sachen eben, die sich der Baron Pierre de Coubertin damals hatte einfallen lassen.
Doch gibt es diesen Mythos außerhalb der Plakate, Faltblätter und Pressemitteilungen der Veranstalter tatsächlich noch irgendwo? Hat das Internationale Olympische Komitee diesen Geist nicht schon vor etlichen Jahren an Burgerberater und Softdrinkabfüller verkauft?
Wir werden uns in den kommenden Wochen auf die Suche nach der olympischen Idee machen. Unter anderem. Wir werden täglich einen Menschen in unserer Serie „Mein Olympia“ über seine persönlichen Spiele erzählen lassen. Wir werden an dieser Stelle regelmäßig bloggen, Wichtiges und Unterhaltsames. Mein Kollege Christof Siemes und ich werden regelmäßig die spannendsten und interessantesten olympischen Geschichten aus London aufschreiben.
Natürlich wollen und werden wir unsere Notizbücher nicht vor den Übeln verschließen, die diesem Event schon zugesetzt haben. Längst wurden die Spiele von internationalen Großkonzernen vereinnahmt, dessen Produkte bei stetem Konsum ziemlich unolympische Körperwölbungen verursachen.
In London wollte man es nach den Dicke-Hose-Spielen von Peking etwas bescheidener angehen lassen. Aber auch hier wird Olympia den Steuerzahler um etliche Pfund erleichtern. 2,5 Milliarden sollten es werden, offiziell 9,3 Milliarden sind es geworden.
Mehr als 18.000 Soldaten werden für die Sicherheit der Spiele sorgen, weil sich eine private Firma übernommen hat. So viele Uniformen auf einen Fleck sieht man sonst nur in Krisengebieten. Zudem sollen Boden-Luft-Raketen auf Wohnhäusern im Ernstfall ein entführtes Flugzeug abschießen.
Und, klar, gedopt wird auch fleißig. Erst am Mittwoch hat der Leichtathletik-Weltverband noch einmal neun Sportler gesperrt.
Wir werden versuchen, ihnen beide Gesichter dieser Spiele näher zu bringen. Die Faszination Olympia genauso wie die Spiele als Macht- und Wirtschaftsfaktor. Wir werden über naive Freude schreiben und über die düsteren Seiten. Über das Pure und das Verdorbene. Weil beides zu den Spielen gehört.