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New York am Roten Meer

Gang Gang Dance taumeln zwischen Krach und Ruhe und blicken tief in die Satteltaschen der Beduinen: „Saint Dymphna“ ist eine der klügsten Platten dieses Jahres

Die irische Königstochter Dymphna hatte es nicht leicht. Nach dem Tod der Mutter musste sie im 7. Jahrhundert vor den Annäherungsversuchen ihres wahnsinnigen Vaters ins Exil flüchten. Der spürte die Tochter in einem belgischen Kloster auf und enthauptete sie. Heute gilt die Heilige Dymphna als Schutzpatronin der Verrückten und Ausgestoßenen, von Wahnsinn und Chaos. Die New Yorker Band Gang Gang Dance hat ihr viertes Albums nach der Heiligen benannt. Das ergibt Sinn, denn Saint Dymphna ist eine Platte voller chaotischer Abgründe und tiefer Spiritualität. Und damit eine der klügsten Platten dieses Jahres.

Wie das Geräusch der Rotorblätter eines Hubschraubers nähert sich die Musik. Ist das nun Apocalypse Now oder Tabula Rasa? Das Quartett aus Brooklyn lässt keine Zeit für Gedankenspiele. Bereits in ihrem ersten Stück Bebey entlädt sich ein Gewitter aus fernöstlichen Melodien, pulsierendem Freejazz und elektronischen Geräuschfetzen. Das verzerrte Keifen der Sängerin Liz Bougatsos dringt durch den akustischen Taifun: „Prisms have kissed my lids / Sea salt has rubbed on my hips.“ Die Geisterbeschwörung hat begonnen.

Saint Dymphna ist eine reißende Flussfahrt durch ein Land aus einem wilden Traum. Immer wieder tauchen am Ufer seltsame Geschöpfe auf: Beduinen mit Synthesizern auf dem Rücken, verhüllte Reiter auf Pferden aus Lärm, tanzende Derwische und Punk-Schamanen. Gang Gang Dance spielen Musik der tausend Masken und Verkleidungen. Es ist Weltmusik – nachdem alle Systeme endlich zusammengebrochen sind. Auf Saint Dymphna ist das Fremde verschwunden. Plötzlich mündet der Hudson River ins Rote Meer.

Wie in einem Sog fließen die elf Lieder ineinander, bildet das Album einen unerschöpflichen Strom musikalischer Ideen. Gang Gang Dance sind auf ganz großer Fahrt. Die Musiker haben ein Sammelsurium aus tausend Trommeln, Beatmaschinen, kaputten Spielautomaten und verbogenen Gitarren an Bord geschafft. Hin und wieder gehen sie an Land, lassen sich von Klängen und Eindrücken umspielen: TripHop, Jazz, afrikanische und arabische Musik, Techno, Post-Punk – alles fügt sich magisch zusammen. Saint Dymphna ist ein musikalischer Sandsturm. Wohlfeile Liedstrukturen und Melodien werden umschifft oder umgedeutet. Die Faszination der Musik ergibt sich aus der Dekonstruktion. Schönheit und Zerstörungslust stehen sich gegenüber.

Rauschhaft wirkt die Platte durch die behutsame Balance zwischen Schallwellen und ruhigen Passagen. Mal wird es still, dann brechen hitzige Polyrhythmen und abstrakter Krach in die Ruhe. Ferne Schreie, Bläsersätze, orientalische Instrumente, klapprige Schlagzeugkaskaden – das Quartett verarbeitet unzählige Einflüsse und Affekte. Saint Dymphna klingt, als bewege man sich wie in Trance durch New York, Dakar und Teheran. Esoterisch wird es nie.

Am Ende von Saint Dymphna beruhigt sich der Sturm: Das wunderschöne Instrumental-Stück Dust legt sich wie glitzernder Staub auf die Ohren. Dazu weht eine sanfte Brise. Gang Gang Dance verlassen das Schiff und fliegen auf einem magischen Teppich davon.

„Saint Dymphna“ von Gang Gang Dance ist auf CD und LP bei Warp/Rough Trade erschienen.

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Strich durchs Gemüse

Sarah Bogner aus Wien und Bea Dorsch aus München sind Apparat Hase. Auf ihrer ersten Platte servieren sie minimalistische Lieder, rasante Beats und Wortsalat

Da steckt ganz schön viel Gemüse im Debütalbum von Apparat Hase: Um rote Rüben geht es, um Einmachgläser und Buchstabensalat. Apparat Hase sind die Musikerinnen Sarah Bogner aus Wien und Bea Dorsch aus München. Die eine ist 28 Jahre alt und Künstlerin, die andere 37 Jahre alt und in der Psychiatrie angestellt. Kennengelernt haben sie sich im Münchener Nachtleben. Der Bandname ist ein Buchstabensalat aus ihren Vornamen – und dann noch ein bisschen gemogelt.

Bei den Werbefotos für ihre CD haben sie nicht gemogelt – und wurden prompt gefragt, weshalb sie die glänzenden Gesichtspartien auf den Bildern nicht retuschieren ließen. „Wie soll man Haltung bewahren, wenn das Business Haltung für einen Retuschefehler hält?“, fragen sie im PR-Text zur Platte keck zurück. Eine Reaktion, so passgenau wie die elektronischen Beats des Duos. Die Lieder sind minimalistisch aber nie monoton, rasante Rhythmen unterlegen die gelangweilt gesungenen englischen und deutschen Texte. Ihre Texte schreiben Sarah Bogner und Bea Dorsch gemeinsam, die Musik entstand mit Unterstützung der Münchener Robert Merdzo und Andreas Gerth.

Apparat Hase verorten ihre Lieder „irgendwo zwischen Minimal Dance, Electro-Pop, New Wave & Old School“, lässig sind sie auf jeden Fall. Aschebahn etwa ist ein wahrer Tanzflächenkracher, Comfort lädt zum Twist in den Elektrokochtopf. Höhepunkt des Albums ist das Lied Flexionsklasse über Einkaufszentren, schlaue Wörter und allgegenwärtiges Gemüse: „Ich mag Einwegdenke nicht / Einmachgläser hab‘ ich nicht / Rote Lippen steh’n mir nicht und auch keine -ismen, -ismen!“ Die beiden Damen reichen Wortsalat. „Einkaufskorb ist leer, Einmachglas ist voll / Shopping Mall gesperrt, Gemüse überall! / Komm mit in mein Einmachglas / Schnellkochtöpfe machen Spaß / Auf rote Lippen ist Verlass / Und auf keine -ismen, -ismen …“ Eine Steigerung ist nach diesem zerhäckselten Wortwitz nicht mehr möglich. Die folgenden Lieder rauschen vorbei, weil man gedanklich an der einen Zeile kleben bleibt: „Gemüse überall!“

Auf der Albumhülle sieht man verwuschelte Haare und zwei ausgeschnittene Frauenkörper vor einem tristen Hintergrund. Schön ist das nicht, aber wie sympathisch diese Verweigerungshaltung ist. Auf der Rückseite des Albums ist der Bandname durchgestrichen, so als bedeuteten sie den Hörern: „Euch machen wir einen Strich durchs Gemüse!“

Das unbetitelte Debütalbum von Apparat Hase ist als CD und LP bei Trikont/Indigo erschienen.

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Aus U und E wird Ü

Seit einigen Jahren lässt die Deutsche Grammophon ihre Klassik auf Pop trimmen. Die Technoproduzenten Carl Craig und Moritz von Oswald nahmen sich nun Ravel und Mussorgsky zur Brust

Begegnen sich Klassik und elektronische Clubmusik, reagieren Puristen meist skeptisch. Dabei besteht – anders als in der Rockmusik, in der das Orchester vor allem Schmuck ist – hier noch eine ästhetische Übereinkunft. Beide Stilrichtungen sind gleichermaßen an Klangforschung und an Texturen interessiert, die mit Hörgewohnheiten brechen. Beiden wohnt das Eigenbrötlerische inne und die ewige Last, sich nur dem Fachpublikum wirklich zu öffnen. Trotz gegenseitigen Respekts und dieser Gemeinsamkeiten gehen Klassik und Clubmusik sich lieber aus dem Weg. Umso erfreulicher ist es, wenn jemand den Graben überwindet.

Die Serie Recomposed der Deutschen Grammophon basiert auf der Idee des Brückenschlags. Die Reihe soll Klassik clubtauglich machen. Angesagte Pop-Produzenten dürfen sich Stücke aus dem Katalog des Klassiklabels aussuchen und sie neu mischen. So bearbeitete bereits der Hamburger Produzent Matthias Arfmann Aufnahmen der Berliner Philharmoniker, und der finnische Techno-Kabarettist Jimi Tenor tobte sich an Werken der Neuen Klassik aus.

Die dritte Ausgabe der Serie bestreiten nun die Technoproduzenten Carl Craig und Moritz von Oswald. Ein Coup der Deutschen Grammophon, zu Recht gelten sie als zwei der wichtigsten Protagonisten der elektronischen Tanzmusik. Mit seinen experimentellen Stücken zwischen Techno, Jazz und Soul prägte Carl Craig aus Detroit das Genre, Moritz von Oswald erfand im Berlin der frühen neunziger Jahre den Dub-Techno und veröffentlicht auf dem Label Rhythm & Sound minimale Bassmusik zwischen Roots-Reggae und Dub. Zusammen bearbeiten sie nun Maurice Ravels Bolero und seine Rhapsodie Espagnole, sowie Ausschnitte aus dem Zyklus Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgsky und reduzieren sie auf minimale Erkennungsmerkmale, kombiniert mit eigenen Klängen. Das Ergebnis ist ein in sich geschlossenes Musikstück in sechs Sätzen.

Oberflächlich betrachtet haben Vorlage und Neubearbeitung nicht viel gemein. Zu Beginn der Re-Komposition steht eine sanft gleitende Einleitung melancholischer Synthesizer-Akkorde. Erst nach vier Minuten schält sich der markante Rhythmus des Bolero heraus. Die Musiker lassen sich viel Zeit: Sparsam eingesetzte Elemente geraten erst nach und nach in Bewegung, einzelne Klänge treten hervor, etwa die Solotrompete aus Mussorgskys Bilder einer Ausstellung.

Das endlose Steigerungsprinzip der Kompostion Ravels betonen Carl Craig und Moritz von Oswald, indem sie mikroskopische Klangeinheiten immer wieder neu kombinieren. Erst mit dem Einsatz der Basstrommel verlässt der Bolero das klassische Terrain – er ist zu einem treibenden Technostück mutiert, dessen repetitive Klänge sich ineinander schrauben. Die Parallelen zwischen U- und E-Musik sind hörbar – nahezu unbemerkt haben die beiden Arrangeure die Clubmusik mit der abendländischen Klassik in Einklang gebracht.

Erst im fünften Satz sind die Originalaufnahmen der Berliner Philharmoniker zum ersten Mal deutlich zu hören. Dunkel und schwer arbeitet sich das Prélude A La Nuit der Rhapsodie vorwärts, Carl Craig und Moritz von Oswald setzen es mit Pausen und Hallschleifen effektvoll in Szene. Die Musiker schaffen einen faszinierenden Spannungsbogen, das geheimnisvolle Motiv dreht sich um sich selbst, und mündet schließlich in einen fiebrigen Dub-Techno.

Im letzten Satz kommt die Re-Komposition wieder zur Ruhe: Die Orchesterspuren kreisen wie hungrige Vögel über afrikanischer Perkussion. Das Experiment endet offen, Carl Craig und Moritz von Oswald improvisieren mit elektronischen Klängen und rhythmischen Effekten. Der Klang verhallender Trommeln beschließt die Platte, das ist schlüssig. Schließlich haben Trommeln noch jeden musikalischen Graben überwunden.

„Recomposed“ von Carl Craig & Moritz von Oswald ist bei Deutsche Grammophon/Universal erschienen.

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Im Schein zweier Monde

Während im Club die letzten lauten Töne poltern, begibt sich Morgan Geist mit „Double Night Time“ auf einen Streifzug durch die Nacht

Jeder kennt das Gefühl: Die Party ist vorbei, fröstelnd steht man auf der Straße. Die Musik ist aus, die Kleidung klebt auf der schweißnassen Haut. Wo eben noch viele Menschen waren, ist man nun allein. Der Heimweg führt durch die nächtliche Stadt. Der Wind weht den Geruch von Feuer über den Asphalt. Die Stadt ist ein Labyrinth, bedrohlich und anziehend zugleich. Man möchte darin verschwinden, in den dunklen Straßenschluchten unsichtbar werden.

Diesem Gefühl hat der New Yorker Morgan Geist sein neues Album gewidmet. Auch auf Double Night Time ist es Nacht. Bereits mit seinem Projekt Metro Area hat er Tanzmusik für die schattigen Momente im Club produziert. Aber wo Metro Area noch die Discokugel aufblitzen ließen, gehen auf Double Night Time die Lichter ganz aus. Während in den Clubs die letzten lauten Töne poltern, begibt sich Morgan Geist schon auf seinen einsamen Streifzug.

Im Moment der Ekstase liegen Glücksgefühl und Melancholie nah beieinander. Morgan Geist beschwört diese Uneindeutigkeit immer wieder herauf. Die minimalen Kompositionen strahlen Sehnsucht aus: Hier wird ein Klavierlauf angedeutet, dort erschallt eine verwaiste Jazztrompete. Die Rhythmen und der spröde Bass schieben sich unaufdringlich nach vorn. Double Night Time ist eine Platte von unterkühlter Eleganz, glasklar und koordiniert klingt die Musik.

Dabei ist es kein Techno- oder Disco-Album. Die neun Stücke verweisen auf Italo-Disco und Dance-Pop, streifen New Wave und zickigen Elektrofunk. Viele Stücke sind tanzbar, auch wenn man nach wenigen Minuten beunruhigt die Tanzfläche verlässt. Immer wieder schleicht sich ein finsterer Unterton ein. Selbst auf einem charmanten Disco-Stück wie Most Of All rasseln die Streicher wie in den Filmen Alfred Hitchcocks, während Skyblue Pink mit seinen gespenstischen Klängen Erinnerungen an die Musik aus Blade Runner weckt.

So hätte Double Night Time eine bedrückende Angelegenheit werden können, wäre Morgan Geist nicht ein unverbesserlicher Romantiker. Vielleicht wartet in der Dunkelheit ja eine Bekanntschaft, die alles verändert. Vielleicht verbirgt sich hinter einem der erleuchteten Fenster die wahre Liebe. „What if I flew to you through the sky / What would you do?“, singt Jeremy Greenspan im Lied The Shore. Das ist Kitsch – aber er macht die Melancholie, die Double Night Time durchweht, erträglicher. Und so muss man sich nach dieser Sternenfahrt um das Einschlafen keine Sorgen machen. Nach einem geschmackvolleren Schlummerlied als Lullaby wird man jedenfalls lange suchen müssen.

Zwischen Melancholie und Romantik ist das Album auch eine Hommage an die großen Zentren der Tanzmusik. Der melancholische Techno aus Detroit, der urbane Glamour New Yorks und Chicagos schwüle Euphorie – hier kommen sie alle im Schein zweier Monde zusammen. Der nokturnen Stadtrundfahrt leiht Jeremy Greenspan, der Sänger der kanadischen Band Junior Boys, seine Stimme. Er verbindet die Stücke, er gibt dem Album das rettende Fünkchen Wärme, bevor es endgültig von der Einsamkeit verschluckt wird. Auf Liedern wie Ruthless City und dem famosen Detroit klingt Greenspan wie einer, der sich auf allen Tanzböden der Welt herumgetrieben hat und sich nun müde auf die dunkle Rückbank eines Taxis flüchtet.

Im Klang seiner Stimme scheint die Nacht niemals zu enden. Doch dann tauchen am Horizont plötzlich die Lichter der Stadt auf. „Detroit…“, seufzt er erleichtert. Langsam wird es hell. Die Party geht weiter.

„Double Night Time“ von Morgan Geist ist bei Environ/Alive erschienen.

Mehr zum Album hören Sie am Donnerstag, den 25. September, von 22 bis 23 Uhr in der Sendung „60 Minutes“ auf ByteFM. Hier öffnen Sie den Livestream »

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Wellnessgewitter auf Samui

Michael Milosh aus Kanada bringt Elektro und Folk zusammen. Sein neues Album „iii“ klingt nach Blumen, Sonne und thailändischer Entspannung.

Milosh III

Michael Milosh ist ein empfindsamer Typ. Schon als Kind brachte ihn Musik zum Weinen. »Sad, soft and beautiful«, so sollte sie damals sein. Mit seinen eigenen Liedern möchte er an diese Erinnerungen anknüpfen. Zwei Alben hat der Kanadier in den vergangenen Jahren als Milosh veröffentlicht, auf beiden mischte er elektronische Musik und intimen Folk. Er schuf Klanglandschaften, in denen es sich wunderbar auf und ab wandeln ließ – die Kompositionen waren wie verschlungene Pfade, die Töne wiesen nach hier, nach dort und kreuzten sich wieder, vom Wegesrand grüßte der Wohlklang.

Auch sein drittes Album iii gleicht einem frühmorgendlichen Spaziergang durch einen exotischen Garten. Man hört, wie die Klänge sich behutsam entblättern, wie Michael Milosh eine musikalische Blüte nach der anderen freilegt und erblühen lässt. Es gibt viele Blumen auf diesem Album: Zerbrechliche Gewächse mit vielfarbigen Schattierungen, funkelnde und erhabene Exemplare, die sich duftend in den Himmel strecken.

Komponiert und aufgenommen wurde das Album während eines einjährigen Aufenthalts auf der thailändischen Insel Koh Samui. Die Umgebung inspirierte Michael Milosh: Tatsächlich erinnern das Spannungsverhältnis zwischen Stille und Dynamik und die feingliederigen Arrangements an fernöstliche Musiktradition. Das auf Another Day gespielte Cello klingt wie ein japanisches Koto. Die Abgeschiedenheit des Komponisten und sein Einklang mit der Natur wird auf Liedern wie Warm Waters und Gentle Samui besonders deutlich: Milosh spiegelt natürliche Zustände und Vorgänge und macht sie hörbar. Er kreiert einen organisch-plastischen Klang, der sein sonisches Vokabular aus den Geräuschen der Natur schöpft.

Bei soviel Natur ist der esoterische Kitsch nicht fern: Gerade zu Beginn der Platte klingt die innere Einkehr stellenweise wie die Begleitmusik eines Wellness-Urlaubs im frisch gekachelten Spa. Mit jedem weiteren Lied werden diese Momente glücklicherweise seltener. Denn in all der empfindsamen Leichtigkeit wagt er es immer wieder, den frisch geharkten Zen-Garten gehörig durcheinander zu bringen.

Jede Blume verblüht. Und so schleicht sich auch auf iii langsam die Dunkelheit heran. Etwas Tieftrauriges umgibt die letzten Lieder der Platte. Auf Wrapped Round My Ways werfen verzerrte Gitarrensamples unheimliche Schatten, und das elektronische Schlagwerk klingt plötzlich bedrohlich kalt. Eben schien noch die Sonne, nun ziehen Gewitterwolken auf. Der Wetterumschwung erfasst bald auch Miloshs glockenhelle Stimme. Trauer schwingt mit, die Zartheit der ersten Lieder weicht der Melancholie, der blühende Garten verwandelt sich in ein düsteres Labyrinth. Hinter den gestutzten Hecken lauern die Dämonen.

Mit The World findet Milosh schließlich den Weg hinaus, das Lied klingt erfrischend wie ein lang erwarteter Sommerregen. Die Wolken reißen auf, die Sonne traut sich wieder hervor. In Momenten wie diesem ist iii ein Album von reinigender Wirkung.

„iii“ von Milosh ist bei K7/Alive erschienen.

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Kommt HipHop von Hippie?

Dies könnte der Soul der Zukunft sein: Flying Lotus kredenzt eine psychedelische Mischung aus Herzrhythmusstörungen und geweiteten Pupillen

Flying Lotus Los Angeles

Mit einem musikalischen Schaumbad fing 1991 alles an, die EP Analogue Bubble Bath wurde Aphex Twins erstes Meisterwerk. Der kauzige Brite brachte dem Ambientpop die quietschnassen Synthesizertöne bei. Was im Funk einmal der trockene Bass galt, das bedeuteten den Elektronikpionieren bald die glitschigen analogen und digitalen Beats. Übersteuerte Rhythmen und blubbernde Glissandi erzeugten einen typischen Klang, der besonders beim Label Warp zu Hause war. Die verschiedenen Spielarten von bedrohlich abstrakt bis hypnotisch verträumt gehören heute zu den Klassikern der elektronischen Independent-Musik.

Das von Sheffield nach London verzogene Label war und ist aber ebenso eine Plattform für Schräges aus ganz anderen Nischen. Der Kalifornier Steven Ellison ist HipHop-Produzent, DJ, Laptopmusiker und Karikaturist, sein Debütalbum 1983 brachte er unter dem Namen Flying Lotus im Jahr 2006 bei Plug Research in Los Angeles heraus. Dort experimentierte man in den neunziger Jahren mit krachenden Breakbeats, inzwischen ist Steven Ellison nicht der einzige Künstler dort mit einem Hang zu organischen und atmosphärischen Klängen. Ob in seiner Vorliebe für Jazz und brasilianische Musik das Erbe seiner Großtante Alice Coltrane mitschwingt?

Nun erscheint das zweite Album von Flying Lotus bei Warp. Los Angeles badet im Feuchtbiotop elektronischer Psychedelik. Als wäre HipHop zu Hippiezeiten erfunden worden, bekommen Ambientklänge sanfte Herzrhythmusstörungen und die brüchigen Beats geweitete Pupillen. Und was sieht das hörende Auge da nicht alles: seltsame Unterwasserwesen, die kalifornische Metropole als Atlantis, bewohnt von singenden hawaiianischen Nixen und den pumpenden Kiemenhumanoiden aus Drexcyias schwarzer Techno-Saga.

Durch die Titel Breathe.Something/Stellar Star und Beginner’s Falafel galoppiert der Jazz rückwärts in einer antik-futuresken Polonaise über den Meeresboden. Sodann lässt Flying Lotus einen pointierten Takt brasilianischer Herkunft zu Zeitlupenhüftschwüngen zerfließen, während im dämmrigen Gegenlicht knapp unter der Wasseroberfläche die Golden Diva der House-Musik heranschwimmt.

Richtig ausgiebig tobt der House in dem Stück Riot, Aufstand im U-Boot, dumpf prallen die Bässe von den muschelbewachsenen Stahlwänden ab. Der Musikcomputer gibt das versunkene Orakel der Weltpolitik, imitiert arabische Melismen, kämpft gegen sich selbst mit irren Dub-Stampfern, bösem Funk und Experimental-Hop. Auf dem Sexslaveship weinen leise die Keyboards im Tonfall pazifischer Inselbewohner.

Die Stücke sind meist kurz, es gibt keinen Anfang und kein Ende unter Wasser, alles zerfasert wie vorbeitreibende Algenstränge und ist doch Teil des feuchten großen Ganzen. Dazwischen führen Gastsängerinnen mit Jazzstimme kontemplative Selbstgespräche, ein Titel heißt Roberta Flack. In Auntie’s Harp und Auntie’s Lock/Infinitum wird dann doch der berühmten Harfenistin Alice Coltrane gehuldigt, es tönt befreiend statt nostalgisch. Klingt so der Soul der Zukunft?

„Los Angeles“ von Flying Lotus ist auf CD und Doppel-LP bei Warp/Rough Trade erschienen.

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Mark Stewart: „Edit“ (Crippled Dick Hot Wax 2008)

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