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Den Keller voller Geräte

Matmos aus San Francisco sind emsige Klangforscher. Nun haben sie unzählige Synthesizer geschultert und stapfen mit ihrem neuen Album »Supreme Balloon« in Richtung Club.

Matmos Supreme Balloon

Platte oder CD? Gute Frage. Als die CD eingeführt wurde, lockten viele Künstler mit Bonusstücken, die den Kauf des teureren Silberlings attraktiv machen sollten. Der Schallplatte drohte das Ende, als Anfang der Neunziger viele Alben nur noch auf CD erschienen. Es blieb ein kleiner Liebhabermarkt. Seit einiger Zeit nun produzieren selbst die großen Plattenfirmen wieder Schallplatten ihrer namhaften Popkünstler, Madonnas Hard Candy erscheint ebenso auf LP, wie das neue Alben von Coldplay. Mancher Plattenhülle liegen die digitalen Versionen der Lieder bei, anderen ein Schlüssel, mit Hilfe dessen man sie ganz umsonst aus dem Netz ziehen kann. Derweil soll der Absatz der CD wiederum durch limitierte Auflagen mit geschenkten DVD-Beilegern angekurbelt werden. Doch wie viel Bonus braucht der Mensch, um sich für die jeweilige CD oder LP zu entscheiden? Ein Musikvideo? Einen Film über die Band? Zwei, drei Lieder?

Das amerikanische Elektro-Duo Matmos macht dem Hörer die Entscheidung leicht. Sind auf der silbernen Version ihres neuen Werks Supreme Balloon sieben Stücke zu hören, schallen aus den schwarzen Rillen der Doppel-LP derer elf. Unter den vier vinyl-exklusiven Stücken sind einige der besten des Albums, auf einem davon, Hashish Master, improvisierte der Minimal-Musiker Terry Riley auf den Tasten. Die schweren Scheiben sind in stabilen Karton gebettet, die abstrakten Computerzeichnungen auf der Hülle der CD kaum zu erkennen – geschweige denn oben links in diesem Artikel. Wer die Platte kauft, kann sich alle elf Stücke von der Internetseite der Plattenfirma Matador in guter Qualität herunterladen. Da lohnt sich der Plattenkauf selbst für Menschen, die gar keinen Plattenspieler besitzen. Und er lohnt sich nicht nur, weil er dem Besitzer das Gefühl gibt, reich beschenkt worden zu sein. Er ist auch musikalisch durchaus sinnvoll.

Martin Schmidt und Drew Daniel sind Matmos, sie kommen aus San Francisco. Ihre bisher sechs Alben folgten jeweils einem experimentellen klanglichen Konzept. Auf The Civil War setzten sich Matmos im Jahr 2003 klanglich und inhaltlich mit dem britischem und dem amerikanischen Bürgerkrieg auseinander. Zwei Jahre zuvor fügten sie A Chance To Cut Is A Chance To Cure aus Klangschnipseln medizinischer Gerätschaften zusammen. Die Rhythmen bastelten sie aus den Geräuschen brechender Knochen und schneidender Skalpelle, Fettabsauger und chirurgische Laser spendeten minimalistische Melodien. Stellenweise klang das nach harmlosem Techno-Pop. Allein das ihrer Ratte gewidmete To Felix (And All The Rats) spielten sie auf dem Käfig des verstorbenen Tieres.

Die Vorgabe für das neue Album Supreme Balloon ist dagegen recht banal. Matmos versichern, man höre hier ausschließlich Synthesizer und kein einziges Mikrofon. Eine Elektronikband nimmt ein rein elektronisches Album auf, ist das wirklich etwas Besonderes? Bei Matmos schon, schließlich mussten sie nun ohne die vielen Klangfetzen ihrer Umwelt auskommen, ohne Küchengeräte, elektrische Zahnbürsten und Rattenkäfige. Klingen durfte nur, was im Synthesizer schon drin war.

Und was hier alles klingt!

Auf ihrer Internetseite erläutern die beiden Musiker recht genau, welche elektronischen Schätze und musikalischen Einflüsse zu hören sind und wo die verwendeten Instrumente bereits früher zu vernehmen waren. Hier ein modularer Doepfer Synthesizer, ein Korg MS-20 und ein ARP 2600, dort ein Dubreq Stylophone, ein Coupigny Synthesizer und ein Electro Comp 100. Man liest all diese Namen, ohne sie wirklich zu verstehen. Aber eines ist klar: Martin Schmidt und Drew Daniel haben den Keller voller Klangmacher – und sie sind vollkommen durchgedreht.

Und wie es klingt!

So abschreckend die Worte Experiment und Konzept wirken, so leicht man Kühle assoziiert, hört man Elektronik: Supreme Balloon strahlt eine heimelige Wärme aus, es lebt. Manch einer der Synthesizer ist beinahe 50 Jahre alt, viele Töne umgibt ein analoges Flirren. Rainbow Flag kokettiert mit einem lateinamerikanischen Rhythmus. Die torkelnde Melodie kommt aus dem Stylophone, einem kleinen Synthesizer, den man in der Hand hält und dessen winzige Tasten man mit einem Metallstab bedient. Zu Zeiten des Manchester Rave Ende der Achtziger tönte diese Taschenorgel in vielen Tanzkrachern.

Oder Polychords: Der Rhythmus stapft in Richtung Club, irgendein sicher namhafter Synthesizer schiebt harmonische Flächen hinterher. Zwischendurch brodelt und knarzt es kurz, wir tanzen auf der Stelle. Dann geht es steten Schrittes weiter, nach dreieinhalb Minuten sind wir angekommen, es ging viel zu schnell. Zemoi funktioniert ähnlich, kombiniert harte Rhythmen mit Hymnischem. Les Folies Francaises und Cloudhoppers sind expressionistische Spielereien ganz ohne Taktschlag. Ganz anders Mister Mouth und Exciter Lamp And The Variable Band, hier betreiben Matmos weniger leicht konsumierbare Rhythmusexperimente. Doch selbst aus dem Abstrakten schälen sich hier und da greifbare Melodien. Komplex klingen vor allem Hashish Master und das Titelstück, in ihnen kommt alles Vorhergenannte zusammen. Supreme Balloon nimmt die Seite D des Albums vollkommen ein und führt den Hörer vierundzwanzig Minuten lang durch die Höhen und Tiefen der Klangerforschung.

Supreme Ballroom wäre ein viel besserer Titel für dieses berauschende Album gewesen. Matmos bringen das elektronische Experiment zum Tanzen. Sie selbst nennen das: »Traditionelle synthetische Küche, serviert in ungezwungener Atmosphäre«. Da ist man gern zu Gast.

»Supreme Balloon« von Matmos ist auf CD und Doppel-LP bei Matador/Beggars Banquet erschienen.

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Disco in Elysium

In Kelley Polars Paradies winden sich Opernchöre, schmierige Synthesizer und Tanzrhythmen vor Verzückung. Auf seinem zweiten Album »I Need You To Hold On While The Sky Is Falling« gluckern die Elektronika wie Hühner auf der Stange.

Kelley Polar I Need You

Kelley Polar widerlegt die Glaubenssätze aller Disco-Geweihten. Er ist nicht der schillernde, vom Nachtleben gezeichnete Typ, den alle umschwärmen. In seinen Bühnenshows sieht er aus wie eine Mischung aus tapsigem Elvis-Imitator und polnischem Zahnarzt, die Begleitmusiker scheinen einem antiken Drama entsprungen zu sein. Er hat so gar nichts von der ätherisch schwülen Aura eines Anthony oder eines Patrick Wolf.

Und doch macht Kelley Polar Disco-Musik, genauer gesagt komponiert er sie – noch ein Widerspruch. Er bemüht klassische Arrangements, Streicherkaskaden und seine Opernstimme in höchsten Lagen, die Melodien streben himmelwärts. Kaum zu glauben, dass dieses Disco-Jubilato seine prägenden Einflüsse aus der kühl konstruierten Musik von Kraftwerk und Thomas Dolby bezogen haben soll.

»There’s a special sensation« haucht und haspelt es im ersten Stück in euphorischer Wiederholung aus dem Vocoder, begleitet vom Klagen einer Nymphe tänzeln die kickenden Beats. Klangwälle aus dem Keyboard malen Walhalla in den Farben Giorgio Moroders an, Märchenkulissen tun sich auf, wie schon auf Polars erstem Album Love Songs Of The Hanging Gardens aus dem Jahr 2005. Sein zweites Album trägt den nicht minder vieldeutigen Titel I Need You To Hold On While The Sky Is Falling.

In zuckrigem Kontratenor schmachtet er vom Elysium zwischen Satelliten, Chrysanthemen, dem expandierenden Universum und der im Video ironisch durch eine US-Flagge symbolisierten himmlischen Stadt. Um ihn herum scharwenzeln Sirenen mit elektronisch auftransvestierten Stimmbändern, Engel und Schlampen zugleich. Ihr »Huuhuu-haahahahaa« führt ein leichtsinniges »Schubidu« im Unterton und weist zu funkigen Bässen den Weg ins irdische Paradies, in die Disco. Die alten Synthesizer gluckern wie Hühner auf der Stange, die kunstvollen Gesänge würden wohl selbst beim Leipziger A-capella-Festival ausgezeichnet – und am Ende klingt alles, als müsse es so sein.

Verständlich, nach einem Blick in Kelley Polars Vergangenheit. Als Sohn US-amerikanischer Diplomaten kam er in Dubrovnik als Michael Kelley zur Welt. Er wuchs mit der Musik Dvořáks und Schuberts auf, die Mutter förderte sein Violinspiel. In New York studierte er an der Julliard School. Dort traf er den Elektronikmusiker und Labelbetreiber Morgan Geist wieder, den er schon am College in Ohio kennenlernte, und steuerte die Streicherpassagen zu seinem Projekt Metro Area bei. Erst als das akademische Leben und die Liebe zu Disco- und Popmusik nicht mehr zusammenpassen wollten, begann Kelley Polar, den Kulturschock in Kompositionen zu verarbeiten.

Das Meer in dem Stück Sea Of Sine Waves gerät nicht unerwartet in Turbulenzen. Aus den berechenbaren Sinustonwellen sprüht die archaische Gischt von Götterchören, Götter der alten Welten und Götter der modernen Tanztempel, die sich hier jauchzend einen Atem, einen zierlichen Dreiklang teilen und sich verzückt auf den Schaumkronen des elektronischen Pop winden. Bei allem kulturellen Donnerhall klingt Kelley Polars Musik nach persönlich Erlebtem. Es kommt aus viel weiteren Räumen als dem kleinen glitzernden Viereck, auf dem seine Disco-Märchen rhythmisch aufschlagen.

»I Need You To Hold On While The Sky Is Falling« von Kelley Polar ist auf CD bei Environ/Alive erschienen.

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Den Bass flach halten

Munk macht Tanzmusik von morbider Schönheit. In seinen besten Momenten klingt das Album »Cloudbuster« nach italienischer Nobeldisko und dem New Yorker Punkschuppen CBGB.

Munk Cloudbuster

»Come on, bring it on!«, flüstert eine Stimme zu Beginn. Das ist mehr als eine Aufforderung, das klingt wie ein Befehl. Ein massiger Klavierakkord springt die Tonleiter hinauf, erinnert an die besten Zeiten der Housemusik. Die Flüsterstimme ist wieder da. Diesmal verkündet sie: »Live Fast! Die Old!«. Müsste das nicht ganz anders heißen? Was ist geschehen mit dem selbstzerstörerischen Credo des Rock’n’Roll? Hier werden noch ganz andere Sachen passieren. Willkommen auf Cloudbuster, dem musikalischen Spiegelkabinett von Munk.

Munk waren mal zu zweit. Jonas Imbery und Mathias Modica krempelten mit ihrem Debütalbum Aperetivo vor drei Jahren die elektronische Tanzmusik um. Bei ihnen trafen Post-Punk, Synthesizer-Disco und Wave aufeinander. Als eine der ersten deutschen Bands verbanden Munk die Do It Yourself-Ästhetik des Punk mit dem Disco-Glitzern ihrer Wahlheimat München. Dort stand einmal die Wiege des berüchtigten Munich Sound: Giorgio Moroder schoss von hier aus seine galaktischen Disco-Weltraumabenteuer in die Erdumlaufbahn.

Mit Gomma Records erfanden Imbery und Modica im Jahr 2004 auch gleich das Label zum Klang. Dabei ist Gomma weniger eine Plattenfirma als vielmehr ein Design. Neben elektronischer Musik erscheint hier mit dem Amore Magazine eine Plakatzeitschrift. Befreundete Künstler und Modedesigner gestalten die eigene T-Shirt-Kollektion und kümmern sich um den optischen Gesamtauftritt der Firma. Zu Modeschauen von Louis Vuitton und Givenchy steuern Künstler des Labels die Begleitmusik bei. Gommas Konzept funktioniert in Galerien und Clubs gleichermaßen. Inmitten des Irrsinns fanden Imbery und Modica immer noch Zeit, als DJ-Team aufzutreten. Mittlerweile betreibt Mathias Modica das Projekt Munk allein. Jonas Imbery produziert unter dem Namen Telonious eigene Musik.

Cloudbuster ist eine Tanzplatte von morbider Schönheit geworden. Schon die Single Live Fast! Die Old! macht deutlich, dass Munk die Punk-Attitüde des Vorgängeralbums gegen den schillernden Pathos des Disco eingetauscht haben. Schwere Akkorde des ausgebildeten Klavierspielers Modica zitieren die Klassiker des Chicago House. Eine laszive Frauenstimme singt dazu mal auf Englisch, mal auf Italienisch. Sie gehört der Schauspielerin Asia Argento, der Tochter des italienischen Horror-Regisseurs Dario Argento. Sie verleiht den Stücken eine düstere Erotik.

In seinen besten Momenten klingt Cloudbuster nach italienischer Nobeldisko und dem Punkschuppen CBGB zugleich. Immer wieder verweisen die Lieder auf die kruden Anfänge der Diskomusik, den Hang zur verschwenderischen Melodie leiht sich Modica bei der Italo Disco, die Orgeln und Schlagzeugeffekte klingen nach frühen Krautrockexperimenten.

Den Bass hält Modica erstaunlich flach, richtig abheben will keines der Stücke. Cloudbuster ist keine reine Clubplatte, es gibt zu viel zu entdecken. Es ist eine Platte voller popmusikalischer Kalauer, die mit Klugheit und Charme angeschoben werden. Hier bemüht Modica alberne Soundeffekte, dort darf Asia Argento »I don’t like milk, I don’t like lemonade« über eine brummende Basslinie rappen. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie das tut, gibt No Milk etwas Absurdes. So ist die erste Hälfte des Albums überaus unterhaltsam, ein Hit jagt den nächsten. Das schunkelige The Rat Race und der lässige Groove auf You Never See Me Back Down gehören zu den Höhepunkten.

Irgendwann jedoch kippt die Stimmung. Seltsame Geräusche schleichen sich ein, die Stücke haben keine klar erkennbare Struktur mehr. Die Rhythmen schleppen sich wie lahme Monster vorüber, rätselhaft verzerrte Stimmen dringen an die Oberfläche. Direkt unheimlich klingt Cloudbuster in der zweiten Hälfte, die gute Laune ist verschwunden. Ist das überhaupt noch Disco-Musik? Tanzen möchte man dazu jedenfalls nicht.

Was zunächst als Bruch verstört, offenbart sich beim näheren Hinhören als logischer Übergang. Die Platte gewinnt nun an Atmosphäre, gleicht einer Filmmusik. Die poppige Breite der ersten Stücke weicht einer cineastischen Doppelbödigkeit. Hier zielt die Platte nur noch vordergründig auf den Tanzboden, der tatsächliche Spielraum ist das Kino im Kopf. Die vielen Verweise auf filmische Vorbilder sind gar nicht zu übersehen: Das starrende Auge auf der Plattenhülle erinnert an Luis Buñuels Stummfilm Ein andalusischer Hund, die musikalischen Themen auf Stücken wie Interludus #1 und Il Gatto könnten italienischen Giallo-Filmen entstammen. Der Titel des Stücks PsychoMagic verweist auf die dubiose Therapiemethode des Regisseurs und Tarot-Meisters Alejandro Jodorowsky. Und damit nicht genug: Den Text von The Rat Race schrieb der Filmemacher Klaus Lemke. In einem der Platte beiliegenden Pamphlet findet Lemke weise Wort: »Musik ist für die Gefühle da, die man woanders nicht unterkriegt.« Cloudbuster ist voll von diesen Gefühlen.

„Cloudbuster“ von Munk ist auf CD bei Gomma erschienen.

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Das Leben ist kein Wunschkonzert

Auf ihrem zweiten Album „Verlass die Stadt“ gibt sich die Wienerin Gustav weniger kämpferisch als zuvor. So hübsch die Töne, so verzweifelt klingen ihre politischen Texte.

Gustav Verlass die Stadt

Die Hülle von Gustavs erstem Album Rettet die Wale zierte eine idyllische Berglandschaft. Der Wal im Bergsee irritierte. Auf dem neuen Album Verlass die Stadt sieht man einen dichten Wald, in dem Menschen liegen. Entspannen die Menschen? Sind sie tot?

Gustav ist die Wienerin Eva Jantschitsch. Sie arbeitet gerne mit Gegensätzen, aber sie traut ihnen nicht. Im Titelstück ihres neuen Albums beschreibt sie die Stadt als unwirtlichen Ort. Mit dem Stück Alles renkt sich wieder ein stellt sie klar, dass die Flucht in die Natur keine Alternative ist. Alles renkt sich wieder ein ist ein Volksmusik-Schlager mit apokalyptischem Text. Die Trachtenkapelle Dürnstein hat Schwierigkeiten, das Arrangement von Christoph Seliger zu spielen. Leicht schräge Klänge unterstreichen die Todessehnsucht: »Ich will die Kinder schreien hören / Die Mütter einsam fleh’n am Grab / Und keine Vögel soll’n mehr singen / Nur unsere Melodie erklingen.« Die heile, harmonische Welt der Volksmusik wird mit einer Zerstörungswut kurzgeschlossen, die durchaus in der Welt der Trachten und Blaskapellen beheimatet ist. »Zumindest in Österreich sind Trachten und Musikvereine erzkonservativ, meist bräunlich eingefärbt«, sagt Gustav.

Viele Stücke leben von solch einer konzeptuellen Herangehensweise. Erstaunlich ist, dass sie trotzdem als hübscher Pop funktionieren. Die Melodien bleiben nach dem ersten Hören hängen. Eva Jantschitsch hat eine klare, unprätentiöse Gesangsstimme. Und die Elektronik umgarnt das Ohr, ohne sich in den Vordergrund zu drängeln.

Gustav klingt auf Verlass die Stadt trauriger als bei Rettet die Wale. Das Debüt war noch kämpferisch, in We Shall Overcome hieß es: »Deep in my heart, I do believe / That we can defeat / This mess that we bought so far«. Die neuen Lieder thematisieren die eigene Verstricktheit ins Elend: »Jetzt ist also dein Körper / Dein Körper die Fabrik / Reproduzierst du was begehrt wird / Oder wieder nur dich? / Dient dir der Dampf als Antriebskraft / Oder ist es gar Leidenschaft?« heißt es in Soldat_in oder Veteran. Dazu stampft ein Elektro-Rhythmus, der nah am Marsch gebaut ist.

Total Quality Woman lässt die flexibilisierte, moderne Frau auftreten. Und obwohl sie alle modernen Eigenschaften besitzt – »She’s the culturally engineered / Downsized, outsourced, teleworked / Just-in-time, take-out, just-in-time / Down-right-tired…now« – ist sie noch so unfrei, so gefangen im Geschlechterklischee, wie die Hausfrau vor 50 Jahren. »Push her womb and she will hum / ›How kind of you to let me come‹ / She is flexible and caring / Sympathetic and observing / Add an intercessory device / For a rockbottom price.« Musikalisch unterstreicht die Verbindung beschwingter Streicher mit gebrochenen Rhythmen und Störgeräuschen die Wirkmächtigkeit von Geschlechterrollen.

Dass Gustav das Protestlied gerettet habe, ist ein Missverständnis. Schuld daran ist vor allem das Stück Rettet die Wale. Dabei sind Zeilen wie »Rettet die Wale / Und stürzt das System / Und trennt euren Müll / Denn viel Mist ist nicht schön« und »Lasst den Kindern ihre Meinung / Oder treibt sie früher ab« eher ein Abgesang auf die wohlmeinenden Aufforderungen der Liedermacher. Verlass die Stadt paart Resignation mit bösem Humor. Gustavs Lieder sind politisch, Protestlieder sind es nicht.

Am Ende der Platte singt sie ein Ständchen, dass einem die Lust auf Geburtstage vergällt. »Heute also ein Jahr älter / Lacht nicht, ihr alle werdet sterben!« trägt sie zu einem traurig schunkelnden Keyboard-Rhythmus vor. Trotzig fordert sie: »Ich will Friede / Und Freude / Und verdammt noch mal / Den Eierkuchen / Und die Freunde / Die friends / Möchte ich mir gefälligst selbst aussuchen / Doch und das sei stets vermerkt / Das Leben ist kein Wunschkonzert.« Und damit alle wissen, woran sie sind, zählt Gustav ganz am Ende auf, für wen das Leben kein Wunschkonzert sei: »Nicht für Peter, nicht für Boris, nicht für Ahmet, nicht für Thod, nicht für Svenska oder Rita, nicht für Rosi vormals Bob …«

Lesen Sie hier ein Porträt der Künstlerin von Nadja Geer

„Verlass die Stadt“ von Gustav ist auf CD und LP bei Chicks On Speed Records erschienen.

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Explosion mit Botschaft

Mit 17 Jahren gründete Mark Stewart die Pop Group, sie prägte den Post-Punk der frühen Achtziger. Sein neues Solowerk „Edit“ ist so kraftvoll und brachial wie die früheren Alben, bisweilen aber klingt es etwas unfertig.

Mark Stewart Edit

Malcolm McLaren hatte einen einfachen Plan im Jahr 1976 in London: Finde ein paar seltsame Typen, die ein Instrument halten können, und stecke sie in zerschlissene Klamotten. Erkläre ihnen, dass sie eine Band sind, provoziere ein paar kleine Skandale, ziehe einen riesigen Plattenvertrag an Land. Provoziere ein paar große Skandale und kassiere am Ende ab. So simpel, so aufsehenerregend und gewinnträchtig. Hauptdarsteller in McLarrens Schmierenkomödie waren die Sex Pistols, sie spielten den Punk. Ihre Botschaft? Nun ja, es gab eigentlich keine.

Einen ähnlich einfachen Plan verfolgten wenig später ein paar junge Männer in Bristol: Sie gründeten eine Band, eine Popgruppe, die sie schlicht Pop Group nannten. Sie bekamen einen Plattenvertrag, gelangten auf das Titelbild des NME und ins Fernsehen. McLaren hatte verrückten Typen die Tür geöffnet. Aber es gab zwei wesentliche Unterschied zu den Sex Pistols: Die Musiker der Pop Group traten schicker auf, und sie waren Intellektuelle. Sie hatten eine Botschaft.

Mark Stewart, der Kopf und Sänger der Band, war damals 17 Jahre alt. Er mochte P-Funk, Reggae, Punk und Dub. Genau wie seine fünf Mitstreiter schwärmte er für expressionistische Malerei, für Fluxus, Dadaismus und Aktionismus. Die Pop Group wollte Elemente dieser Kunstrichtungen in ihrer Musik vereinen, unglaublich viele Platten verkaufen und ihre subversiven Ideen in die Köpfe der Menschen pflanzen. Zum verzerrten Punk-Funk der Pop Group überschlug sich Stewarts Stimme. Er schrie mehr als er sang.

Seine Texte waren Collagen. Politische Parolen vermischte er mit Werbesprüchen, Agit-Prop mit der Cut-up Methode des Schriftstellers William S. Burroughs. Auf der Rückseite von We Are All Prostitutes, der bekanntesten Single der Pop Group, brüllte er Auszüge aus dem Jahresbericht von Amnesty International. Nach zwei Jahren löste sich die Pop Group auf, Mark Stewart gründete mit dem Schlagzeuger Bruce Smith und Ari Up von den Slits die New Age Steppers. Mit deren Produzenten Adrian Sherwood bildete Stewart später die Band Maffia. Ihr von Dub und Reggae beeinflusster Stil war wegweisend für Massive Attack, Portishead und Tricky.

In den vergangenen zwölf Jahren war Stewart vor allem als Produzent tätig. Nun kehrt er mit einem neuen Album zurück, Edit. Es ist so kraftvoll und brachial wie seine früheren Alben, bisweilen aber klingt es etwas unfertig. Raum für schöne Klänge ist hier nicht, die Beschallung von Kaffeehäusern überlässt Stewart den Kollegen von Massive Attack. Zu seinen Klängen lümmelt man sich nicht in dicke Polster oder schlürft Latte Macchiato.

Adrian Sherwood hat das Album produziert. Stewart und er lassen altmodische HipHop-Rhythmen auf indische Tabla-Klänge treffen. Die Techno-Statik in Loner und Almost Human erinnert an die Electronic Body Music der frühen Achtziger. Der Synthesizer fiepst den P-Funk, die Gitarre klingt wie der Fingernagel auf der Schultafel. Der Klassiker der Yardbirds, Mr. You’re A Better Man Than I wird durch den Reißwolf gejagt. Mit Ari Up, der Weggefährtin aus alten Tagen, kämpft sich Stewart durch ein dubbiges Inferno.

Der Journalist Alan Bangs sagte nach einem Konzert der Pop Group einmal, er habe sich gefühlt, wie im Zentrum einer Explosion. So klingt es eigentlich immer, wenn Mark Stewart zu Werke geht.

„Edit“ von Mark Stewart ist auf CD und Doppel-LP bei Crippled Dick Hot Wax erschienen.

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Wenn die Sitar leise weint

Bishi aus London spielt englischen Pop auf indischen Instrumenten. Ihr Debütalbum „Nights At The Circus“ beweist, wie frisch Zweiweltenmusik klingen kann.

Bishi

Von Sirenen und Besoffenen, vom Verlieben und Verschmelzen, vom Nachtbus und dem Morgen nach der Party – davon singt Bishi. Die 24-jährige Musikerin lebt in London, als DJ hat sie sich in den Clubs der Stadt einen Namen gemacht. London sei ihr „pleasure ground, spectacular and cruel“, sagt sie. Ihre zweite Heimat ist Indien, von dort kommen ihre Eltern. Sie besucht das Land jedes Jahr.

Jetzt hat Bishi ihr erstes Album aufgenommen. Nights at the Circus heißt es, nach einem Roman von Angela Carter. Die Platte ist ein klingendes Panoptikum. Lustvoll und spielerisch verbindet Bishi die beiden Musikkulturen, in denen sie zuhause ist. Feinsinnige Elektronika trifft auf traditionelle indische Instrumente. Unermüdlich klopft sie die Tabla, die Sitar spielt sie wie eine E-Gitarre. Sie bereichert den Pop ihrer ersten Heimat um tausend kleine Klänge ihrer zweiten, verziert jedes Stück mit Glockenspiel, Ukelele und Harmonium. Über all dem schwebt ihre wandlungsfähige Stimme, teils zum Chor verstärkt. Das sei keine Weltmusik, sagt sie, sondern London-Musik.

In dem Lied The Swan entführt sie den Hörer in die Welt eines zarten Schwanenwesens und entgeht dem Kitsch um Haaresbreite; in Nightbus trottet man mit ihr bedrückt durch die Kälte, Nachtbusse sausen durch die von gebrochenen Kreaturen gesäumten Straßen; in der nächsten Nummer stürmt sie „on my own again“ wütend in Richtung Tanzboden.

Das Album schließt mit einem zauberhaften „Namaste“ – dem indischen Wort für Danke. Als habe sie das Geschenk empfangen, aus zwei Traditionen schöpfen zu dürfen und sich nicht zwischen ihnen zerreißen zu müssen. Der Trick sei, sagt sie, nicht zwischen den Kulturen zu wählen, sondern eine eigene zu erschaffen. Zur Zeit weilt Bishi in Buenos Aires, für den argentinischen Tango ist in ihrem großen Musikerinnen-Herzen allemal Platz.

„Nights At The Circus“ von Bishi ist bei Gryphon Records erschienen.

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Kleistern bitte im Wohnzimmer

Einst waren Underworld die Helden der britischen Party-Szene. Ihr neues Album „Oblivion With Bells“ klingt dumpf und träge, wie Dubstep in Zeitlupe.

Underworld Oblivion With Bells

Jede Musik hat ihre Zeit. Genesis passten in die Siebziger und die Achtziger, heute kann man sie belächeln. Michael Jackson musiziert seit zwanzig Jahren als seine eigene Parodie, die Rolling Stones seit dreieinhalb Jahrzehnten. Auch die Wiedervereinigung der Sex Pistols vor einigen Jahren war ein Trauerspiel.

Und Underworld? Sie hatten ihre Zeit Mitte der Neunziger, Ewan McGregor rannte damals im Rhythmus ihres Born Slippy. Nuxx durch Edinburgh. In Danny Boyles Film Trainspotting lieh er dem Drogenkranken Mark Renton sein verschwitztes, aber nettes Gesicht. Renton pfiff auf Karriere und Riesenfernseher, auf Familie und Zahnzusatzversicherung. Wie Smells Like Teen Spirit einige Jahre zuvor wurde Born Slippy. Nuxx zur Hymne einer Generation. Diese gierte nicht nach Authentizität und Gitarren, sie durchfeierte die Nächte in den britischen Metropolen mit Alkohol, Pillen und poppigem Techno.

Underworld haben ein neues Album veröffentlicht, Oblivion With Bells. Interessiert das jemanden? Heute bringen die brüchigen Rhythmen des Dubstep die Tanzböden zum Bersten, Underworlds dickflüssiger Kleister ist da kaum gefragt. Sie schwelgen im Flächigen, ihre Rhythmen sind dumpf und träge, ist das Dubstep in Zeitlupe? Oft erhebt Karl Hyde seine Stimme, mal ruhig sprechend wie in Holding The Moth und Ring Road, dann wieder durch den Verzerrer singend, wie bei Crocodile und Best Mamgu Ever. Das geht meist ohne Punkt und Komma, wie damals bei Born Slippy. Nuxx.

Überhaupt, irgendwie ist hier alles wie früher. Hyde und sein Kollege Rick Smith fackeln nicht lange. Zwanzig Sekunden lang jubilieren schrille Keyboards, dann bahnt sich ein funkender Rhythmus den Weg, er beherrscht das Album. „Two kangaroo fingers push through and scratch my back in rhythm“, singt Karl Hyde in lang gezogenen Silben. Und „Two numbers click between her touch when you pull me down into them. Rising and rising through the inside of a glass eye painting“. Sind ja nur Worte. Nach sechseinhalb Minuten geht das Stück in Beautiful Burnout über, das fällt erst gar nicht auf.

Im fidelen Ring Road klingt Hyde wie Mike Skinner alias The Streets. Im nordenglischen Zungenschlag legt er eine arhythmische Geschichte über ein umso rhythmischeres Beben. Auch der Junge aus dem Trainspotting-Hit taucht wieder auf: Das Stück Boy, Boy, Boy klingt organisch, denn Larry Mullen Jr. spielt ein echtes Schlagzeug. Sonst trommelt er bei U2, auch so eine Band, die den richtigen Moment zum Aufhören verpasst hat. Das fantastische Faxed Invitation schließlich klingt wirklich ein wenig nach Dubstep.

Überhaupt: fantastisch. Das Album ergreift einen, sobald man aufhört, übers Tanzen nachzudenken. „Waiting for a night to wrap around us“, beschwört Hyde in Crocodile das alte Gefühl. „I could go in there get some sweet stuff“, fügt er hinzu und schmunzelt selbstsicher. Auch der ironische Titel des Album legt die Vermutung nahe, Underworld wüssten sehr genau, wie es um sie steht. Wenn ihr uns schon vergesst, dann wollen wir wenigstens gut klingen – so könnte man den Titel verstehen.

Und sie klingen genau so gut und dicht wie vor zehn Jahren, nur alles um sie herum klingt heute anders. Sie sind dem Club entwachsen, weil sie dort niemand mehr hören will. Ihre Rhythmen sind träge, fast beruhigend, so etwas macht sich im Wohnzimmer ohnehin viel besser.

Im neuen Kontext dürfen Underworld einen zweiten Frühling erleben. Was das für die heutige Musik von Genesis, Michael Jackson und den Sex Pistols bedeutet? Da denken wir besser gar nicht drüber nach.

„Oblivion With Bells“ von Underworld ist als CD und Doppel-LP erschienen bei PIAS.

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Depeche Mode aus Bietigheim

Seit 25 Jahren machen Camouflage eingängigen Elektropop, ihre Stücke gehören auf jede gute Wave-Party. Das Doppelalbum „Archive #1“ versammelt nun Kurioses und Verschollenes, Erfolgreiches – und Unhörbares.

Camouflage Archive

„Ist das von Depeche Mode?“ – Nein, ist es nicht. Im Jahr 1987 machte das Lied The Great Commandment die Band Camouflage auf einen Schlag bekannt, die Einflüsse Depeche Modes und Kraftwerks waren nicht zu überhören. Das melancholische Tanz-Stück bringt seitdem Wave-Partys in Bewegung und rotiert noch heute im Radio. Sein Rhythmus geht in die Beine, die Melodie ins Ohr. Mit Love Is A Shield hatten Camouflage im Jahr 1989 einen zweiten großen Hit und galten nicht länger als bloße Kopie von Depeche Mode. Allmählich erspielten sie sich eine eigene Hörerschaft, erfolgreich waren sie vor allem in den USA. Die nun erschienene Doppel-CD Archive #1 resümiert fünfundzwanzig Jahre Bandgeschichte.

Angefangen hatte alles im Jahr 1983 im schwäbischen Bietigheim-Bissingen. Heiko Maile, Oliver Kreyssig, Marcus Meyn und Martin Kähling probierten, was man mit Synthesizern anstellen kann. Bald nannten sie sich Camouflage, nach einem Stück der japanischen Elektropop-Gruppe Yellow Magic Orchestra. Im Keller von Mailes Elternhaus richteten sie sich ihr Studio ein und tauften es Boys Factory. Wie das damals aussah, verrät ein Foto in der Klapphülle des Albums: Vier Jungs mit zartem Oberlippenflaum und Strickpullovern stehen selbstversunken hinter Synthesizern. Martin Kähling verließ die Band nach einem Jahr.

Auf Archive # 1 tragen Camouflage Remixe, Single-Rückseiten und Raritäten zusammen, Anhänger erfreut das. Der weniger fanatische Hörer wird sich bei einigen der 26 Stücke die Ohren zuhalten müssen. Der Orbit Dub Mix von Love Is A Shield ist grauenhaft, im technoiden Lexy & K-Paul Remix verliert das Stück jegliche Romantik und eignet sich allenfalls für die Morgengymnastik. Mit Kling Klang und der Cover-Version von Computer Liebe verneigt sich die Band gleich zweimal wohlklingend vor Kraftwerk. Manches klingt überraschend: In Every Now And Then hört man tickende Wecker, gregorianische Chöre, der Gesang kommt über das Verzerrer-Mikrofon. Mit They Catch Secrets und Perfect führen Camouflage vor, was ihnen am leichtesten aus den Tasten hüpft: eingängiger Elektro-Pop, dessen Synthetik durch Marcus Meyns nasalen Gesang warm und wehmütig wirkt. Der Höhepunkt des Albums ist das instrumentale Camou Says Abdulu, da piept und scheppert es ganz wunderbar im Klanggewand der Achtziger – das Stück stammt von einer Zweispur-Kassettenaufnahme aus dem Jahre 1985.

Mittlerweile haben die Mitarbeiter der Jungsfabrik die anderen Seiten des Musikgeschäfts kennen gelernt – als Werber und Produktmanager für große Plattenkonzerne und als Musikproduzenten. Auf ihrer Homepage erzählen sie, wie aufreibend die Verhandlungen mit Plattenfirmen sein können. Auf Höhen folgen Tiefen, da kann ein bodenständiger Beruf nicht schaden. Bei aller Liebe zur Musik – da ist sie wieder, die Mischung von Zynismus und Romantik, die sie in Love Is A Shield besingen: Nichts ist für immer.

„Archive #01“ von Camouflage ist als Doppel-CD erschienen bei Polydor/Universal.

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Eintauchen, dann ausatmen

In den vergangenen Jahren beschallte der Däne Raz Ohara die Berliner Clubs mit harten Rhythmen. Sein neues Album mit dem Odd Orchestra kommt behutsamer daher, gefällig gar.

Raz Ohara

Es gibt so viele Geschichten über Raz Ohara. Im Alter von 18 Jahren kam er aus Dänemark nach Berlin, erwanderte sich lebenshungrig die Stadt und ihre Menschen und bezog ein Zimmer über einem Jazz-Club. Er scharte Musiker um sich, spielte mit ihnen. Er verlor sie wieder, weil sie starben oder verrückt wurden. Raz Ohara ist ein Künstler, und so erzählt man über ihn.

Zwei Alben nahm er für das Label Kitty-Yo auf. Das zweite, The Last Legend, entstand im Jahr 2001. Kurz zuvor war sein Vater, ein Seemann, ertrunken. Raz Ohara entdeckte nun die Clubszene Berlins und begann, Techno-Konzerte zu geben. Er veröffentlichte unzählige Maxis. Im vergangenen Jahr reiste er mit dem Elektronik-Musiker Apparat um die Welt.

Sein neues Album nahm er mit Orchester auf, wenn auch nur mit einem ganz kleinen. Oliver Doerell ist das Odd Orchestra, bislang arbeitete er mit dem Ambient-Projekt Dictaphone. Ohara und Doerell schickten sich im vergangenen Jahr Musikfragmente hin und her und bastelten daraus schließlich in einem kleinen Berliner Studio ein Album. Zeitweise hauste Ohara zwischen den Gerätschaften.

Das Album trägt keinen Titel, auf der Hülle steht einfach nur Raz Ohara And The Odd Orchestra. Im Mittelpunkt der elf gefühlvollen Elektropopstücke steht Oharas Stimme. Kürzlich verfeinerte sie das Album Walls von Apparat. Diese Stimme kommt einem nah. Sie klingt, als singe Ohara mit großen, offenen Augen. Auf den älteren Platten fiel sein lautes, hektisches Einatmen auf, das hat er sich fast abgewöhnt. Stattdessen hört man nun beseeltes Ausatmen.

Den Gesang umgeben Klavier, Streicher, Gitarre und Rhythmen, die erzählen eigene Geschichten. Alles hier klingt gelassen, ja gefällig. Man kann in diese Musik eintauchen, man kann es ebenso gut lassen. Am Ende der Lieder stehen weder Ausrufe- noch Fragezeichen. Sie sind einfach da, drängen sich nicht auf und überfordern den Hörer nicht.

Erschienen ist das Album bei dem Berliner Technolabel Get Physical, offensichtlich orientiert man sich dort neu. In seiner Pressemappe stellt die Plattenfirma Raz Ohara als einen entrückten Künstler vor. Er spricht bedeutungsschwere Sätze und lässt den Blick schweifen. Das steht ihm gut. Raz Ohara passt zu seiner Musik. Diese behutsamen, hübschen Poplieder könnten vielen gefallen.

Das unbetitelte Album von Raz Ohara And The Odd Orchestra ist erschienen bei Get Physical Music/Rough Trade.

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Schön, dass wir Strom haben

Ein Phänomen aus Hannover ist die Experimental-Band Closedunruh. Seit 30 Jahren macht sie Nischenmusik, die in jeden Sarg passt.

Closedunruh

Als Thomas Tier zu schwitzen beginnt, werden ihm die verspiegelte Pilotenbrille und die Lederjacke lästig. Dann zeigt der Sänger seine Tätowierungen und sein verwaschenes T-Shirt. Während er als Gekreuzigter posiert und sich am Boden krümmt, wahren seine Begleiter an den Tasten die Contenance, in weißen Hemden mit blinkenden Pfeilen und Krawatten. Im Konzert bei Silke Arp bricht in Hannover fühlt sich Closedunruh ganz zu Hause. Manchmal holpert die lässige Darbietung, dann lächeln die Musiker. Mit Thomas Tier spielen der Klangtüftler Yangwelle, Milford T. und Frank Simon. Ihr Auftritt ist ein tanzbares Vergnügen, es stampft, fiept und rappelt. Die achtziger Jahre lassen sie nicht los, erst zum Schluss gibt es einen grässlichen Blues, den niemand so recht hören mag. Das passt zu dem Motto über der Bühne: „Wer sich am kommerziellen Musikgeschmack orientiert, dient der Reaktion.“

Seit dem Jahr 1980 experimentiert Thomas Tier mit Elektronik, montiert Töne und Texte zu düsteren Klanggebilden. Das erinnert mal an DAF, mal an die Einstürzenden Neubauten, auch an Depeche Mode. Allerlei Musiker begleiteten ihn über die Jahre, so veränderte sich der Klang der Band ständig. Nichts schmeckt – doch alles schmeckt gut heißt das neue Album, erschienen ist es bei E-Klageto, dem Plattenfirmchen seiner Partnerin Anke Wolff.

Zurzeit verdient Thomas Tier seinen Lebensunterhalt als Fernfahrer. Seine Aufnahmen macht er mit Radiorekorder, Walkman, und Vierspurtonband. So entstanden zwischen 1980 und 2000 mehr als 50 Musikkassetten und diverses Vinyl. Nebenbei trommelte er bei den Punkbands Blut + Eisen und Cretins. Einen Einblick in die musikalische Vergangenheit von Closedunruh gewährt die dem neuen Album beigefügte Bonus-CD mit Aufnahmen aus den Jahren 1981 bis 1995. Da gibt es enervierende Krachmontagen wie Nirgends hat man seine Ruhe (mit Staubsaugern, Bohrmaschinen und Opernarien) und tanzbare Lieder über die wundersame Elektrizität: Wie schön, dass wir Strom haben!

Thomas Tier liebt die Uneindeutigkeit. Ein Album von Closedunruh hieß Nimm den Zug vom Friedhof, auf dem neuen singt er vom Konfirmationsunterricht und vom Verlust der Zähne. Ganz nebenbei zeigt er seine Rechenkünste: „Fünf und sechs ist elf, ich weiß Bescheid.“ Das Lied Kopfschmerzen im Knie verneigt sich vor DAF, dann würgt und röchelt der Sänger; es passt in jede Gruftie-Disko.

„Nichts schmeckt – doch alles schmeckt gut“ von Closedunruh ist erschienen bei E-Klageto.

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