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16 kleine Schwarze auf Silber

Morr Music lädt ein zur Reise durch die Geschichte des elektronischen Independent. „A Number Of Small Things“ ist Zweitverwertung deluxe.

Ernte25 Bar25

Es ist ein Stich in das Herz eines Sammlers. Das Berliner Label Morr Music veröffentlichte in den vergangenen Jahren eine Serie von Singles, A Number Of Small Things genannt. Dreizehn kleine Vinylscheiben, jeweils auf 1.000 Stück limitiert, bespielt mit je zwei, drei Stücken verdienter Künstler des Labels. Viele sind nicht mehr erhältlich. Nun das: Auf einer Doppel-CD gesammelt erscheinen die bisher 30 Stücke nocheinmal, zusammen mit sechs neuen.

Immerhin, die Zweitverwertung hat auch ihr Gutes: Man hört die beiden CDs anders als die Singles. Das Vinyl legt man ein paar Mal auf, dann wandert es in den Plattenschrank. Die CDs hört man durch. Stück für Stück führen sie einen in die musikalische Vergangenheit des Labels, komprimieren sie auf zwei Stunden. Und machen deutlich, wie wenig homogen die Klänge sind, die bei Morr Music in den letzten sieben Jahren erschienen.

Die Reise beginnt in der Gegenwart. Drei Künstler steuern je zwei neue Stücke bei, Butcher The Bar, Seavault und Seabear. Butcher the Bar ist der 22-jährige Brite Joel Nicholson, er singt zwei sanfte Lieder und begleitet sich selbst mit Akustikgitarre, Banjo und Melodika. Elektronik braucht er kaum. Ganz anders Seavault, das Projekt Antony Ryans – eine Hälfte der britischen Bastler Isan – und Simon Scott – in den frühen Neunzigern Schlagzeuger bei Slowdive. Die beiden mischen Gitarre und Elektronisches zu gleichen Teilen. Sie interpretieren zwei recht unbekannte Stücke von Ultra Vivid Scene und Altered Images neu, melodisch und poppig.

Überhaupt: Immer wieder entstehen für die Singles bemerkenswerte Coverversionen. Seabear machen aus dem Punk-Klassiker Teenage Kicks eine spröde Ballade, Masha Qrella nimmt Roxy Musics Don’t Stop The Dance alles Glitzern, alles Blendwerk. Unter dem Pseudonym John Yoko interpretieren Lali Puna Papa Was A Rodeo von The Magnetic Fields und Morning Paper von Smog. Auch Populous wagen sich an ein Stück von Smog, Blood Red Bird. Jede Version hat ihren Charme, Unaufgeregtheit verbindet die Neuinterpretationen. Oder ist das Traurigkeit?

Die ersten fünf Singles waren 2001 und 2002 erschienen, danach legte die Serie eine zweijährige Pause ein. Die Musik aus dieser ersten Phase findet sich am Ende der zweiten CD, zehn Stücke von Lali Puna, B. Fleischmann, Teamforest, Styrofoam und Other People’s Children erinnern daran, wie stark das Label in seinen Anfangsjahren auf Elektronik ausgerichtet war. Die älteren Stücke sprechen die gleiche Sprache wie neuere Aufnahmen, allein das Vokabular scheint noch nicht so ausgeprägt. Es pliept und klackt wie auf den damals bei Morr Music erschienenen Langspielplatten.

Erst Isan brachen das im sechsten Teil der Serie auf. Sie machten ihre Single zu einem Experiment. Sorgsam erforschten sie die einhundert Jahre alten Gymnopédies des französischen Komponisten Erik Satie und verliehen ihnen ein zeitgemäßes Antlitz. Keine sieben Minuten dauern die drei Stücke zusammen, genau genommen sind es nur leicht variierte Tonfolgen auf dem Xylofon. Dennoch, sie haben etwas ungeheuer Tröstliches. Die Lust zum Experimentellen griffen nachfolgende Künstler auf – Lali Puna, auch Masha Qrella und die bereits erwähnten Populous.

Die sechs neuen Lieder werden als Teile vierzehn, fünfzehn und sechzehn auf Vinyl-Single erscheinen, Plattensammler müssen diese Kompilation also gar nicht erwerben. Allen anderen sei A Number Of Small Things ans Herz gelegt, als eine ausgiebige Reise durch die Geschichte der sogenannten Indietronics.

Die Kompilation „A Number Of Small Things“ ist erschienen bei Morr Music. Die CD ist ebenso wie manche Singles erhältlich im Webshop des Labels.

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Wo die Kätzchen tanzen

In Berlin an der Spree liegt die Bar25. Die Nächte sind hier immer zu kurz und die Musik ganz fabelhaft. Jetzt gibt es das elektronische Lagerfeuergefühl auf CD.

Ernte25 Bar25

Die Bar25 in Berlin ist ein Freizeitpark für Menschen ohne Zeitgefühl. In der Holzhütte an der Spree treffen sich an den Sommerwochenenden Tanzfreudige aus aller Welt und bleiben bis zum frühen Morgen. Es gibt viel zu erleben auf der Ranch: schaukeln in der großen Pappel, zu fünft im engen Fotoautomaten posieren, eine Schlacht mit 250 kg Konfetti in der Manege. Leicht vergisst man, dass der Montagmorgen naht. Wer es nicht nach Hause schafft, mietet sich einen kleinen Holzbungalow im Garten.

Die Musik zum vier Tage währenden Wochenende gibt es nun auf der Kompilation Ernte25 zu hören. Musiker aus dem Umfeld sangen der Betreibern der Bar 17 Stücke ins Poesiealbum. Martin Gretschmann alias Console alias DJ Acid Pauli ist einer von ihnen, er kam schon des Öfteren in den Genuss des Exklusiv-Urlaubs an der Spree. Ein anderer ist der Däne Raz Ohara, er nähme gerne mal einen Whiskey an der Bar, heißt es. Gravenhursts Nick Talbot ist mit seiner Zweitband Bronnt Industries Kapital vertreten. Daneben stehen viele unbekannte Künstler, Pilocka Krach, K-Chico und La Deutsche Vita aus Berlin, They Came From The Stars I Saw Them und John Callaghan aus Großbritannien.

Die Auswahl auf Ernte25 ist so vielseitig wie das Programm der Bar und ihr Publikum. Hier speisen Schlipsträger das beste Rinderfilet der Stadt, tänzeln Hippies barfuß über die Holzbohlen, schnurren Selbstdarstellerinnen in Kätzchenkostüm. In den frühen Morgenstunden wärmen sich alle am Lagerfeuer. Die Musik auf der CD reicht von experimentellem Elektrofunk über plingeligen Techno und eingängigen Computerpop bis hin zu groovendem Elektropunk. All das geht erstaunlich gut zusammen. Das verbindende Feuer schürt das Berliner DJ-Team Des Wahnsinns Fette Beute. Es ist für seine verspulte Auflegerei zwischen Indie und trippiger Tanzmusik auch außerhalb der Stadt bekannt und hat die Lieder hier ausgewählt und gemixt, ohne sie zu zerstückeln.

Erschienen ist die auf 1000 Stück limitierte Kompilation beim hauseigenen Bar25-Label, hier wurden bisher nur Technoplatten verlegt. In dem aufwändigen Pappkistchen stecken eine CD und eine Single. Die CD klingt wie ein Geschenk der Bar25 an sich selbst, es geht weniger um die Musiker als um das Lebensgefühl dort, an langen Wochenenden zwischen Ostbahnhof und Jannowitzbrücke an der Spree. Auf der Vorderseite des Vinylscheibchens singt Die Piratenbraut die Hymne zur Bar, 12345und20, ein Gitarrenstück, das beschreibt, weshalb man sich hier so gerne verliert.

Die Kompilation „Ernte25“ ist erschienen bei Bar25, sie ist erhältlich über die Website des Labels

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Frauen singen eindeutig zweideutig

Da kommen Erinnerungen auf: Das Berliner Duo Rhythm King And Her Friends wühlt lustvoll im Fundus des Post-Punk.

Rhythm King Front Of Luxury

Pauline Boudry und Linda Wölfel kommen aus Berlin. Sie nennen sich Rhythm King And Her Friends und wühlen im Fundus des Vergangenen. Wie vielen Bands aus dem feministisch-lesbischen Umfeld – man denke an Le Tigre oder Chicks on Speed – ist ihnen der Post-Punk wichtig.

In dessen Ära Anfang der achtziger Jahre eroberten Frauen die Bühnen und Aufnahmestudios, sie wollten endlich mehr als den dekorativen Platz am Mikrofon. Sie stellten männliche Mythen der Rockmusik in Frage, das verschwitzte Pochen auf Authentizität mochten sie nicht. Im Post-Punk ging es um das Entlarven der Konstruiertheit vermeintlicher Tatsachen, um das Aufbrechen von geschlechtsspezifischen und ethnischen Rollenzuschreibungen und die Kritik an der Konsumgesellschaft. Die Jungs-Band Orange Juice kultivierte auf Fotos und in Interviews ihre Schüchternheit und Verletzlichkeit. Frauen kombinierten Kleinmädchenkleider mit klobigen Stiefeln und kleideten sich so nachlässig, wie ihre männlichen Kollegen es schon immer taten. Sie experimentierten mit ihrer Musik und ihren Rollen. Post-Punk war nie ein Stil, sondern eine Explosion von Stilen. Das macht bis heute seine Faszination aus.

Viele fruchtbare aktuelle Anschlüsse an diese Ära kommen nicht von ungefähr aus feministischen Zusammenhängen. Das liegt auch am Ernst ihres Anliegens. Viele der männlich dominierten Retrobands wärmen lediglich einen alten Sound auf, abgekoppelt von seiner Bedeutung. Sie fügen der Musik nichts Neues hinzu, sondern nehmen ihr etwas – die Aussage, die Dringlichkeit, die Offenheit.

Bei Rhythm King And Her Friends ist das anders, sie rekonstruieren nicht einfach nur. Sie kombinieren auf ihrem zweiten Album The Front of Luxury gegensätzliche Klänge und transportieren so Bedeutungen. No Picture of the Hero ist ein Popsong, der Eingängiges gegen Kantiges setzt. Der elektronische Rhythmus poltert nervös, die Gitarre ist in einem Moment schroff wie bei Gang of Four und im nächsten beseelt wie bei Orange Juice. Die Scratches und der eingängige Refrain erinnern an eine zeitgenössische Frauenband, Luscious Jackson.

Rhythm King And Her Friends jagen nicht dem Zeitgemäßen hinterher, ihr Umgang mit Elektronik ist gelassen und lustbetont. Wie Le Tigre und Chicks on Speed bemühen sie ihre Synthesizer und Sampler nur, wenn sie die wirklich brauchen – und dann gern polternd und verzerrt.

Dass es hier um mehr als die Musik geht, signalisieren die parolenhaften Texte. Beim zweiten Hören verlieren sie ihre Eindeutigkeit. Im Titelstück singen sie: „We are the front of luxury / we can invent a new story / we want more desires / working like a factory“. Man kommt ins Grübeln: Ist das nun affirmativ oder widerständig?

„The Front Of Luxury“ von Rhythm King And Her Friends ist erschienen bei Kitty Yo/Cargo

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Mädchenmusik mit Falten

Der Name der Band klingt nach elektronischer Fummelei. Doch aus dem Brockdorff Klang Labor swingt Pop, locker wie ein Faltenrock beim Tanz.

Brockdorff Klang Labor Mädchenmusik

Drei junge Menschen aus Leipzig haben schon viel erlebt. Sie durchstreiften die Kulturwissenschaften und die Tanzdielen, die Musiktheorie und den Elektro-Feminismus, den Journalismus und die Informatik, die Poesie und das bunt gemischte Instrumentarium aktueller Popmusik.

Das Brockdorff Klang Labor entstand in einer Wohngemeinschaft in der Leipziger Erika-von-Brockdorff-Straße, benannt nach einer Widerstandskämpferin im Nationalsozialismus. Nadja von Brockdorff nennt sich so schillernd wie bedeutungsschwer die Sängerin und Gitarristin. Sergej Klang ist der Bastler der Rhythmen und Worten und gibt den singenden Sequenzer. Ekki Labor lässt die Synthesizer und den Moog-Bass zwitschern und leiht seine Stimme dem Chor.

Mädchenmusik heißt die CD, frisch geht das Trio zu Werk. „Frohe Schritte nähern sich, singen zieht über die Stadt“, der Refrain des ersten Stücks und das Vorwärts aus der Rhythmusmaschine klingen nach Wandervogelbewegung und Jugendweihe. Doch es ist das wilde Nachtleben gemeint: „In Kellern voll Rauch marschiert der House / Brich mit mir den Rhythmus dieser Stadt… Und im Tanz, da sind wir eins / Und am Morgen wieder entzweit.“ Raffiniert schüttelt das Trio den Staub aus allen historischen Andeutungen zu Diskorhythmen. Oder setzt sie, wie im Stück Wenn du willst, zu teils erfundenen Anekdoten neu zusammen. Im Auf und Ab der feierlichen Erwartungen und der Ernüchterung am Morgen danach spiegeln sich revolutionäre Sehnsüchte als modernes Trugbild, Pop und Glamour sind heute Aufbruch und Routine zugleich.

Die leicht verworrene Alltagspoesie der Texte ergäbe auf dem Papier vielleicht nicht viel mehr als Studentenlyrik, wären nicht auf der CD allerlei kuriose, im Originalton wiedergegebene Zitate und vor Selbstironie triefende Prologe und Zwischenrufe zu hören. „Aber dient denn da die Sprache noch als Kommunikationsmittel?“, tönt eine seriöse Stimme.

Auch musikalisch ist das naive Schema der fiepsenden Knöpfchenelektronik gepaart mit dem Charme funkensprühender Chansonkunst nicht so unbedarft wie es scheint. Jedem glucksenden Plopp und Boing sitzt ein Schalk aus versteckten Kommentaren im Nacken. Um sie zu hören, muss man die CD ganz durchlaufen lassen, denn sie sind in den Leerlauf zwischen den Stücken eingearbeitet. Und schnell sein, die Fetzen bekannter Melodien von Velvet Underground, Pulp, Stereolab fliegen am Ohr vorbei. Noch bevor entschieden ist, ob das gerade eben The Trashmen oder doch The Cramps waren, beginnt Nadja von Brockdorff schon vom Breakfast for Cyborgs zu singen: „Ich bin das Opfer, ich bin die Verfolger, ich bin sie / Im Zentrum meiner Ironie.“

In Anlehnung an Gilles Deleuzes Abhandlung Le Pli (Die Falte) könnte man diese Technik verborgener Zitate Plissee-Pop nennen. Die Drei vom Brockdorff Klang Labor bügeln ihre Songs in Musikmaschinen zu großen Falten und kleinen Rüschen, und darunter, in der Vertiefung, liegen die kurzen Gewebefäden alter Originale. Schließlich lassen sie den Faltenwurf der Geschichte in ein Cover des The Smiths-Hits Some Girls Are Bigger Than Others auslaufen.

Im Stück mit dem Refrain „I kill the creatures in my alphabet“ spuken die gerufenen Geister als Buchstaben- und Zahlensalat herum. Wie ein Denksportgenie, das sich Zahlen- oder Wortkombinationen in figürlichen Bildern merkt, scheucht Nadja von Brockdorff sie zurück in eine alphabetische Ordnung. Inmitten einer düsteren Zukunftsballade wiederum steckt der Vers „Wähl ein Klischee, wie die Welle im Delay“, als wolle die Sängerin damit zusammenfassen, dass Pop nicht alles sei und elektronische Musik nicht die bessere Alternative und dass sowieso nur zähle, was einen berührt. Eine trefflichere Retourkutsche auf Julis nervige Schlagerzeile „Das ist die perfekte Welle“ wird es erstmal nicht geben.

Neben Nadja von Brockdorffs Lady-Charme setzt Sergej Klang als zweiter Sänger seinen spitzfindigen Humor. In heiter absteigender Melodie zitiert er Altmeister Leonard Cohen: „Let’s sing another song boys, this one has grown old and bitter.“ Hier klingt es wie eine Aerobic-Anweisung gegen Depressionen. Auch im nächsten Lied geht es bewegt zu, „Vorwärts, seltsame Höhen, rückwärts, seltsame Tiefen“, und unterwegs ein Rap-Intermezzo.

Das glitzernde Schlusslicht bildet das Titelstück Mädchenmusik, die Sängerin wirft sich im Duett mit Jens Friebe in ihr Element. Er textete hierfür einen Eurodisco-Knaller der Gruppe Baxendale zum Kirmes-Schlager um, der einen das Fliegen im Kettenkarussell der Jugenderinnerung lehrt. Jens Friebe stellte auch den Kontakt zur Plattenfirma ZickZack her. Produziert wurde Mädchenmusik von Tobias Levin.

Mitten in die historische Schwere eines Stadtbildes hinein proklamiert das Brockdorff Klang Labor eine Leichtigkeit des Seins, die sich hier und an ähnlichen Orten popkulturell nicht unbedingt aufdrängt. Mädchenmusik für alle Geschlechter, sie zaubert hübsche Falten auf die Denkerstirnen und lässt plissierte Röcke im Takt wippen.

Das Album „Mädchenmusik“ der Band Brockdorff Klang Labor ist erschienen bei ZickZack

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Von Etta bis Übermorgen

Willkommen zur Geschichtsstunde: Hot Chip legen für die Reihe „DJ Kicks“ ihre Lieblingslieder auf die Plattenteller.

Hot Chip DJ Kicks

Ist es nicht aufregend von seinem Schwarm eine Mixkassette zu bekommen? Er wählt seine Lieblingsstücke aus und zeigt sich und seine Gefühle, das ist sehr persönlich. Natürlich geht er ein hohes Risiko ein. Man stelle sich vor: Der Angebetete überreicht unsicher das handbeschriftete Teil, man wartet gespannt, zelebriert den Moment des Anhörens und spult dann von einem peinlichen Lied zum nächsten. Der Zauber ist verflogen, der Schwarm Vergangenheit.

Die Indiepopper des letzten Jahres, Hot Chip aus London, geben einen solchen Einblick in ihre Herzen. Für das Berliner Tanzmusiklabel !K7 haben sie die 28. Folge der DJ Kicks zusammengestellt. Sie machen das gut, zum Glück, man kann also weiter für sie schwärmen.

In der Reihe sind in den vergangenen 12 Jahren viele Alben erschienen, die das Zeug zur Lieblingsplatte haben. Ob Kruder & Dorfmeister oder Erlend Øye, Andrea Parker oder Four Tet, immer wieder gruben die Künstler außergewöhnliche Stücke und Bands aus. Eine gute DJ Kicks-Platte führt den Hörer in ihm unbekannte Gefilde und gewährt neue Blicke auf die Kompilierenden. Ihre musikalische Sozialisation, ihre Vorlieben und natürlich auch Peinlichkeiten treten zu Tage. Oft ist die Auswahl der Stile überraschend, weit weg von der eigenen Musik.

So auch bei Hot Chip. Beinahe schizophren geht es zu. Die 24 Stücke weisen in alle Richtungen, nur an ihr eigenes Hitalbum The Warning aus dem Jahr 2006 erinnert beinahe nichts. Hier ein bisschen Old School HipHop, Soul und Pop, dort Minimal-Produktionen der Franzosen Nôze und Audion, gemischt in Film 2 von Grauzone. Plötzlich ein paar Breaks, dann wieder verträumter Gesang. Auch die Technoproduzenten Gabriel Ananda und Dominik Eulberg kommen hier unter und laden zum nachmittäglichen Tanz im Wohnzimmer ein.

Doch der Tanz stockt, man reißt die Augen auf. Kaum ein Stück wird ausgespielt und der Mix ist nicht sonderlich engagiert. Hot Chips DJ Kicks klingt halbherzig, so als legten sie es nur drauf an, Unpassendes zu mischen. Weder wollen die fünf Musiker beweisen, dass sie mixen können, noch taugt die CD als Geschenk an Tänzer, die in ekstatischen Bewegungen die Welt vergessen wollen. Vielmehr halten Hot Chip eine kleine Musikgeschichtsstunde ab, bei Etta James und Ray Charles fangen sie an, über New Order und Joe Jackson landen sie in der Gegenwart, bei dem Produzenten Marek Bois, auch bekannt als Daypak. In der Mitte der CD wagen sie mit My Piano einen Blick in die Zukunft, auf ihr im kommenden Jahr erscheinendes drittes Album.

Hot Chip stellen auf DJ Kicks ihre Lieblingslieder zusammen. In einem Internetforum schreibt jemand: „Scheißgeile Platte, scheißmieses Mixing“. Eine richtige Mixkassette also, schließlich geht es dabei nicht um DJ-Künste und immer ein wenig mehr um einen selbst als um den Beschenkten und seine Bedürfnisse.

„DJ Kicks“ von Hot Chip ist erschienen bei !K7

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Hüter des Feuerchens

Lässig schüren A Certain Frank die elektronische Glut an der Wiege von Philosophie und Pop.

A Certain Frank

Bei Düsseldorf wurde nicht nur dereinst unser Neandertaler Vorfahre gefunden, es lebt und arbeitet dort auch ein Urgestein rheinischer Pop- und Elektronikmusik. Frank Fenstermacher und Kurt Dahlke sind nur ein winziges bisschen weniger berühmt als der Höhlenmensch, in Popmusikepochen gerechnet sind sie schon urig lange wohlbekannt. In den achtziger Jahren würzten sie mit der Gruppe Der Plan und ihren grotesken Mitsinghits die Neue Deutsche Welle. Zudem riefen sie die Bands Fehlfarben und DAF ins Leben und gründeten ihr eigenes Label ata tak. Als Krönung ihrer Musikerfreundschaft bilden sie schließlich das Elektronik-Duo A Certain Frank.

Kurt Dahlke nennt sich dann Pyrolator – ihrer neuen CD nowhere liegt, im Transparentplastik der Hülle gut sichtbar eingeschlossen, ein Streichholz bei! Mach Feuer, alter Freund! Lass die entspannten Grooves und exotischen Klänge warm leuchten, diese modernen, aber niemals modischen Melodien. Denn was bei A Certain Frank wie Lounge-Musik zum Nebenbeihören klingt, kommt in Wirklichkeit aus tiefen Höhlen, von nowhere ist es now here, wie man den Album-Titel auch lesen kann.

Aus dem Nirgendwo ins Hier und Jetzt scheint auch Frank Fenstermachers Stimme zu tönen, wenn er seine Wortspiele wie im ersten Song L‘argent in eine karge, rauh gemurmelte Gesangslyrik verpackt. Das Französische zieht sich sparsam als Signalfarbe der Aufklärung durch Kurt Dahlkes schwelgerische Synthesizermalerei und die aus dem Computer gezauberte Exotik. Wie an einem Streichholz entzünden sich am Wohlklang kleine schrille Funken, melodische Ausrutscher auf dem Weg zur Disharmonie, kurz vorher abgefangen von weichen animalischen Rhythmen. Hier ein etwas zu scharfes Gitarrenschnarren, dort ein übersteuertes Dröhnen oder Pfeifen, überwuchert von Pianolianen, gebannt von Rumbarasseln.

Eine der Höhlen im Urwald heißt trancelingen. Technoides Geschepper weist den Weg, unten drunter wummert es fast wie aus dem Hause Basic Channel. Vorlaut schnattern die Bläser, die frechen Äffchen. Mal nimmt Frank Fenstermachers Saxofon den D-Zug durchs fremd knisternde Idyll, mal bringt es den von den vorigen Platten bekannten jazzigen Chillfaktor. Auch der ist nicht ohne – wer je als DJ die anonyme Abendgesellschaft mit Stücken von noendofno, nobody? no! oder nothing beschallt hat, weiß, welches Maß an nervöser Aufmerksamkeit sogar Kenner zur Nachfrage ans Discopult treibt.

Ein solches Geheimversprechen gibt auch das Stück the earth is round. Die im Refrain stetig wiederholte, ja recht simple naturwissenschaftliche Erkenntnis verhallt im Nebel der Vibraphonechos und verzerrt quäkender Kazoolaute. Daraus entsteigt mit zweigeschlechtlich anmutendem Tarzansingsang eine neue Dschungelgottheit. Auf verschlungenen Loops und elastisch federnden Dub-Beats tanzt sie durch die nächsten Stücke bis in den Himalaya.

Flockig versprengen Geräusche und Melodien ihren Esprit und wirbeln dabei immer wieder Elementares auf, wie im letzten Stück Wald. Von dort flüstern A Certain Frank synästhetisch mit dem Holzmotiv auf der CD-Scheibe, einer Nachbildung des ersten hierzulande gefundenen Holzrades aus dem 11. Jahrhundert vor Christus. Doch alles historisch Schwerwiegende wird hier so verführerisch zur leichten Muse, als sei Platons Höhle mit einer schicken Fototapete ausgekleidet, bambusgrün leuchtend wie der CD-Hintergrund. In Sokrates Becher lockt ein exotischer Cocktail, und als jüngste Gäste im Höhlenpop-Ambiente machen die französischen Dekonstruktivisten Small Talk und wippen dazu mit den Füßen.

„nowhere“ von A Certain Frank ist als LP und CD erschienen bei ata tak

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Musik mit Umlaut

Das Elektronika-Label Pingipung lädt ein zur Mottoparty, eine illustre Musikerschar kommt nach Lüneburg und bringt Blechblasinstrumente mit – „Pingipung Blows: The Brass“.

Pingipung Blows

Musikalisch gesehen, ist der zweitgrößte deutsche Exportschlager (nach der Titelmelodie von Derrick) die elektronische Musik. Das scheint der Deutsche gut zu können. Nirgendwo auf der Welt wird sie so puristisch gespielt wie hier.

In weißen Räumen, in monotoner Weitläufigkeit kredenzen streng gescheitelte Teutonen menschenferne Maschinenmusik. Kalt und ohne Emotion. So wurden Kraftwerk zu Popstars und bis tief in die Gefilde der Klangkunst sollten ihnen viele folgen. Das ist das Klischee von elektronischer Musik made in Germany.

Dazu gibt es natürlich Alternativen. Nicht selten kommen sie aus Lüneburg, wo das Label Pingipung Beachtenswertes veröffentlicht. Pluckernd, fiepend oder erwärmend – nah am Menschen, dicht an den Ohren des Hörers entsteht kluge Musik. Die Präzision des Computers nutzen, sich aber auch auf die Wärme des akustischen Instruments verlassen, das scheinen die Grundlagen des Pingipungismus zu sein. Sie nennen es Ü-Musik, U plus E, na klar.

Pingipung Blows: The Brass ist eine Kompilation mit Konzept. Sie funktioniert wie eine Mottoparty. Elektronikmusiker aus ganz Europa wurden dazu eingeladen. Sie mussten ein Brass – also Blechblasinstrument – mitbringen. Statt Kartoffelsalat legten sie ein Stück Musik auf das Büffet.

Pingipung wagt es, klassische Instrumente mit Elektronik zu mischen. Da gibt es natürlich viele Ansätze. Wir hören Selbstgemachtes: Dub von Hey-O-Hansen, Getragenes von Mister Tingle. Mouse on Mars klingen, als würden sie ein Hamsterrad beschallen. Ihr Stück spurtet vorwärts und dreht sich zugleich um die eigene Achse. Der Kölner Avantgardist und Poet Harald Sack Ziegler kommt gar ohne Worte und sein Waldhorn aus. Im Hintergrund brabbelt und klappert ein Café. Er beschallt es nachträglich mit einer leiernden Trompete. Nahtlos knüpft Peter Presto an – man merkt kaum, dass ein neues Stück angefangen hat.

Das ist die große Stärke dieses Albums. Es ist liebevoll kompiliert, es wird ein musikalischer Bogen gespannt. Anderswo hätte man vielleicht nach Prominenz der Bands geordnet.

Meist ist die Blechbläserei Grundlage des Klangs, die Elektronik baut sich darum auf. Nicht immer gelingt dies. Wie bei Goto 80, dessen 8Bit-Musik scheppert wie ein alter Heimcomputer. Eine Trompete gesellt sich hinzu und es wird nicht klar warum, denn sie hat seinem Stück nichts hinzuzufügen. Jazzclub trifft Daddelhalle. Wie das durchdacht umgesetzt wird, zeigen Gangpol und Mit aus Bordeaux. Ihr Beitrag ist eine Wonne. Sie bedienen sich eines Kazoos. Selbst Laien können ihm schöne Klänge entlocken, da man hineinsingt. Es ist erstaunlich, wie viele Ideen sie in zwei Minuten unterkriegen, ohne dass der Sinn verloren geht. Zwischen dem filmischen Throw Snow On This Big Animal von Übertonmensch und der hektischen Improvisation Brass Impro von DJ Elephant Power und Niko Uské liegen Welten. In Lüneburg sind sie Nachbarn.

Richtig dreist ist Imagine des Briten Vanishing Breed. Er benutzt gar kein Blasinstrument, sondern erzählt dem Zuhörer, dass man sich verschiedene vorzustellen hätte. Nach eigenen Angaben hat er sogar Buntstifte für seinen Beitrag benutzt. Charmant umschifft er die einzige Bedingung der Kompilatoren und zeigt, worum es hier eigentlich geht: Originalität.

„Pingipung Blows: The Brass“ ist erschienen bei Pingipung Records und im Webshop des Labels erhältlich. Vor zwei Jahren erschien ebendort die ähnlich hörenswerte Kompilation „Pingipung Plays: The Piano“

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Duff-Dak mit Wumms

Wer in den Achtzigern Prinzessin Stéphanie verehrt hat, wird Sally Shapiro lieben. Ihr süßer Elektropop ist charmant, eingängig und verbreitet gut gelaunte Melancholie.

Sally Shapiro

Ich düse mit Prinzessin Stéphanie im Cabrio durch Monaco, der Wind verfängt sich in unseren Haaren. Sie trägt ein tolles Kleid in grellem Pink, ein Schlauch aus kleinen elastischen Schlaufen. Ihre Lippen leuchten orangefarben, der Himmel hält azur dagegen. Pfiffe hallen aus den Autos, die wir überholen. Meine Freundin Stéphanie lächelt wissend und winkt ganz elegant und lässig. Ich kann meine Augen nicht von ihr wenden, wie sie will ich auch einmal werden, wenn ich groß bin. Noch bin ich sechs.

Sie blickt mich kokett über den Rand ihrer Sonnenbrille an und dreht das Radio laut: Es spielt Irresistable, ihr Lied! Ich kann noch kein Englisch, also singe ich in meiner Fantasiesprache mit: Shikndaudibell, Shäibiweididell… Wir beide haben einen Riesenspaß und schrauben uns im Cabrio die Serpentinen an der Steilküste empor. Stéphanie zeigt stolz aufs Meer hinaus, da liegt ihre weiße Yacht. Sie plappert vergnügt, plötzlich kommt uns ein Lastwagen entgegen, sie verliert die Kontrolle über das Auto, und wir stürzen den Hang hinunter. Alle Lichter aus.

Vertraute Klänge dringen an mein Ohr, ich schlage die Lider auf. „Stéphanie, bist du’s?!“ „Nein, ich bin Sally Shapiro, deine neue Freundin“, sagt das blonde Mädchen an meinem Bett. Sie spricht Schwedisch und singt Englisch. „Sally? Was ist passiert?“ Sie entgegnet: „Du hast 20 lange Jahre geschlafen, meine Musik hat dich geweckt.“ Dann stimmt sie eine süße Melodie an: I know you’re my love, even though sometimes I believe I will wake up from this dream. Ja, es muss viel Zeit vergangen sein, ich verstehe jedes ihrer Worte und singe gleich mit – ohne Shikndaudibell.

Und doch, diese Musik klingt wie aus den Achtzigern: Metallische Synthesizerflächen bereiten den Grund für beschwingte Ohrwurmlinien, im Hintergrund klötert ein E-Schlagzeug. Duff-Dak, Duff-Dak, Zischschsch. Sally Shapiros Duff-Dak hat mehr Wumms als damals Stéphanie, Sandra oder Limahls Never Ending Story. Er ist in der Gegenwart angekommen und greift neue Elektro-Spielereien auf, mal treibend und sonnig, mal sphärisch und benebelt. Das ist gut gelaunte Melancholie. Stilecht bindet Sally französische Sprechpassagen ein. Sie erzählt von Liebe, Nähe, Sehnsucht und schwelgt im gängigen Repertoire der Poplyrik. Ihre sanfte, kindliche Stimme bewegt sich nach damaliger Mode. Oder ist es die Mode von heute?

Journalisten schreiben von Discotrash, Sally Shapiro besinne sich auf die große Ära der Italo-Disco. Es ist unüberhörbar: Stilelemente der Achtziger erfahren seit einigen Jahren eine Renaissance; Rock, Pop, Elektro mischen mit. Selten aber wurden diese Klänge so konzentriert und charmant wiederbelebt wie auf Sally Shapiros Debütalbum Disco Romance. Die junge Schwedin hat eine Kunstfigur erschaffen, einen Namen gewählt, der nach glitzernden Lurex-Leggins klingt, und die entsprechende Musik drum herum gewoben. Sie ist so schüchtern, ihr ätherisches Stimmchen flattert nur im Studio, und keiner darf dabei sein. Werden wir sie je auf einer hell erleuchteten Disco-Bühne sehen dürfen? Abwarten. Ich jedenfalls nehme schon mal Platz im Cabrio.

„Disco Romance“ von Sally Shapiro ist erschienen bei Klein Records (Diskokaine)

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Was der Apparat noch so kann

Dicker Funk erinnert an Prince, die Melodien beschwören Radiohead und Coldplay. Auf seinem dritten Album klingt der Berliner Elektronikmusiker Apparat nicht mehr so kühl und traurig wie früher.

Seit zehn Jahren nimmt der Berliner Sascha Ring unter dem Namen Apparat melancholische Laptop-Musik auf. Zwei Alben hat er beim Label Shitkatapult veröffentlicht, jetzt erscheint sein drittes, Walls.

Eine Überraschung. Wo ist die Distanz, die für viele elektronische Produktionen so charakteristisch ist? Und wo das Gefühl, jeder Ton, jeder Klang sei durchdacht? Das alles vermisst man nicht, man bemerkt das Fehlen nur, wenn man ein weiteres Album im Stile des Vorgängers Duplex aus dem Jahr 2004 erwartet hat.

Nur kurz scheint es, als ob Walls die Erwartungen erfüllte. Das Eröffnungsstück Not A Number ist ruhig und flächig, zart werden ein paar Töne aus dem Vibrafon geklöppelt. Vier Minuten später bricht ein schnarrender Basslauf durch, der könnte von den White Stripes kommen. Hailin From The Edge verkündet: „Nieder mit den Erwartungen, her mit dem schönen Leben!“

Apparat weitet sein elektronisches Geschäft mal hierhin aus, mal dorthin. Oft assoziiert man andere Lieder, andere Künstler. Hailin From The Edge und Over And Over protzen mit dickem Funk, die Stimme des Gastsängers Raz Ohara klingt ein wenig nach Prince. Holdon neigt zum HipHop, der in sanftem Falsett vorgetragene Refrain stünde sogar Robbie Williams: „Hold on / to all / you got“.

Headup ist euphorisch melodiös, eine singende Gitarre und dieses typische bam-bam-bam-peng-bam-peng-Schlagzeug gemahnen an Coldplay. Bei Arcadia grüßen Radiohead, Sascha Ring singt hier selbst, mit hoher Stimme. Die Melodien steigen aus dem Keller empor, Klänge öffnen sich. Radiohead hätten wohl auf den steten Tanzbass verzichtet – hier gehört er hin.

Das elektronische Schlagzeug hält die Platte zusammen. Die Bässe sind tief und dumpf, in den Höhen klackt es immer nur. Es wird wenig gefrickelt, Walls erschließt sich schnell. Immer wieder sorgen breite Streicher für Dramaturgie, die gesungenen Melodien sind getragen.

Es ist nicht alles so gut. In Limelight schnarrt eine fiese Keyboardgitarre, auf die Drei klatscht es jeweils anorganisch. Mancher Schlag bei Fractales klingt, als hätte Sascha Ring das elektronische Schlagzeug der Flippers geklaut, hallend, billig, fremd. Und das Keyboard-Muster klingt gar nach Join Me von Him. Das ist dann ein bisschen zu viel.

Walls klingt schlüssig, wenn man es als Dokumentation einer Richtungssuche versteht. Vielleicht hatte Sascha Ring die sanfte, verfummelte Elektronika einfach über und wollte einmal sehen, was der Apparat noch so kann. Er wirkt nicht desorientiert, mutig probiert er dies und das aus. Die von Maria Hinze gestaltete Hülle erinnert an Kritzeleien beim Telefonieren, sie spiegelt die Vielgestaltigkeit der Musik wider.

„Walls“ von Apparat ist erschienen bei Shitkatapult

 

Hab keine Angst vor der Liebe, Süßer

Er lässt die Elektronik eiern, sie spricht eindringliche Prosa. Das Duo The Student Body Presents bringt selbst talentierte Tänzer zum Stolpern.

The Student Body Presents

Ein synthetischer Rhythmus galoppiert, die Gitarre spielt ein dünnes Tremolo, das an Killing Joke erinnert. Eine Spoken-Word-Künstlerin verkündet, in keine Kiste zu passen.

Wie wahr. Das fängt mit dem seltsamen Namen der Band an, The Student Body Presents. Und auch musikalisch hat das Duo aus Dichterin Miasha Williams und Produzent Eric Porter Außergewöhnliches zu bieten.

Sie hat ihre Texte schon im Nuyorican Poets Cafe vorgetragen und in der CBGB’s Gallery, an den Orten, an denen die Literaturform des Poetry Slam entstand. Er hat unter anderem als Afrikan Sciences bei Bittasweet veröffentlicht, dem Label der Broken-Beat-Pioniere Bugz In The Attic. Das liest man und denkt an die Konstellation von US-amerikanischer Spoken-Word-Künstlerin und West-Londoner Beat-Bastler: Ursula Rucker und 4 Hero. Man liegt falsch.

Eric Porters Rhythmen sind eigenwillig, die Brüche kommen unerwartet. Selbst der talentierteste Tänzer dürfte dazu stolpern. Häufig benutzt Porter einen geraden Techno-Rhythmus und legt asymmetrisch eiernde Klänge und Basslinien drüber, die dem Rhythmus entgegenlaufen. Dazu schreckt schmatzendes Klatschen die Ohren auf. Miasha Williams, die Frau an seiner Seite, hat etwas zu sagen. Porters Musik fordert uns auf, gefälligst zuzuhören. Der Titel der CD The Student Body Presents Arts & Sciences ist kein Zufall. Sie bringen uns einiges bei, über die Künste, über das Leben, über den Körper.

Williams trägt im Singsang vor, ihre leicht rauhe Stimme ist gelegentlich verzerrt und dann noch eindinglicher. Ihre Texte sind autobiografische Skizzen aus dem Gefühlsleben einer Außenseiterin. Sie schwanken zwischen trotziger Selbstermächtigung und Angst. Die Musik lässt das Außenseitertum und das Ringen mit den Konventionen erkennen. Denn Porter macht nicht den Fehler, ihre Worte lediglich zu begleiten, sie stehen nicht im Zentrum. Die einzelnen Elemente der ungewöhnlichen Mischung – Williams’ Stimme, die Basslinien, die Rhythmen, die Worte, die seltsamen Synthesizer-Klänge – entwickeln ein Eigenleben, alles zusammen klingt organisch.

Auf das eingangs erwähnte Boxes, das den langen Prozess der Akzeptanz eigener Andersartigkeit beschreibt, folgt das neunminütige Drift Wit’ It und die halb gemurmelte Aufforderung „Don’t be afraid of love, my sweet – Float in it“. Dieser Aufforderung möchte man gerne folgen, auch wenn man ahnt, dass man sich darin verlieren kann.

„Arts & Sciences“ von The Student Body Presents ist erschienen bei Rubaiyat/Groove Attack

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