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Buddha am Alex

Sinnlich und verführerisch schaukelt der Groove, die Berlinerin Gudrun Gut legt uns ihre neue Platte auf.

Gudrun Gut I Put A Record On

Zarah und Paula sind zwei Berliner Mädchen von ungefähr zwölf Jahren. Sie filmen sich selbst, beim Spielen, beim Anprobieren zu großer Kleider, beim Posieren und Tanzen in der elterlichen Wohnung – überall. Hier tun sie es für das Video zum Eröffnungsstück Move Me auf Gudrun Guts neuer Platte I Put A Record On.

Was auf den ersten Blick wie eine von Millionen Amateuraufnahmen auf Meine-Peinlichkeiten.de anmutet, offenbart zur sanft schiebenden Tango-Polka und Frau Guts gehauchtem Gesang sehr schnell eine tiefere Geschichte. Diese Art der verschwörerischen gegenseitigen Beobachtung, der wortlos nach Vertraulichkeit tastenden Körpersprache, gibt es nur unter Mädchen und Frauen. Schon in verschiedenen Stilepochen der darstellenden Kunst tauchten sie am Rande auf mit ihrem Pas de deux der Selbstbespiegelung, als Malerinnen, als Fotografinnen, und später beim Film.

Heute übergibt die Altmeisterin des Berliner Elektro-Punk in ihrem Musikvideo die Stafette an die jungen Mädchen: Move Me – tragt es weiter, ihr zwei! Das ist fürwahr ein Stück Frauenbewegung, getanzt, gesungen, gefilmt, und schon für sich ein brillanter Auftakt. Gar nicht weit spannt sich der Bogen zu dem Video Celle, das der CD beigefügt ist, Pipilotti Rist hat es gedreht. Große Kunst also, aber eben nicht als künstlicher Überbau, sondern als folgerichtiger Weg, als Teil 2 dieser Frauengeschichte, diesmal zwischen den zwei großen Mädchen Gut und Rist, die sich lange kennen.

Mit der selben Nonchalance und Leichtigkeit ist man als Hörer versucht, im Laufe der CD die Bedeutungsschwere von Gudrun Guts Musikerinnenbiografie abzustreifen und hinter sich zu lassen. So sinnlich und verführerisch schaukelt der Groove durch die elf Stücke von I Put A Record On, da wird die kennerhafte Erbsenzählerei ganz nebensächlich. Steht Gudrun Guts Wirken in der Underground-Szene der achtziger Jahre im Gegensatz zu diesen sanften elektronischen Tönen? You Make Me Cry Easy heißt es im vierten Stück, die Gefühle liegen dicht unter der Oberfläche, es geht nicht um einfache Aufrechnungen. Die Rhythmen sind warm, der Sprechgesang in seiner flachen Melodik distanziert und doch eindringlich.

War der Techno-Boom im Berlin der neunziger Jahre prägend für Gudrun Guts Zugang zu elektronischer Musik? Als Grundgeschwindigkeit lässt sich ein beschleunigter Dub oder ein verlangsamter Techno ausmachen, House ist es von den musikalischen Zutaten her eher nicht. Doch die aberwitzigen Basshüpfer, der beinahe folkloristische Shuffle und der Zigeuner-Swing der Stücke wollen von Techno gar nichts wissen, lesen die Chronologie der Ereignisse quer zu eigenwillig sich wellenden Gefühlsmustern.

Wo bleibt auf einer Soloplatte der Kult-Status von Gudrun Guts Frauenbands Malaria! und Mania D? Im Stück Girlboogie 6, das bereits auf der Kompilation Girl Monster erschien, schreibt er sich fort als vernuschelte Oral History, souffliert von Maschinenbeats und Laptop-Klängen. Hänsel und Gretel summen, schubsen, singen, schieben sich durchs Nachtleben, geraten im Rhythmus von elektronischem Händeklatschen plötzlich in den Blätterwald. Dort raunt das Hutzelweib Beschwörungsformeln zur Walpurgis-Disco, die E-Gitarren kreischen ums Feuer, die Basstrommel wirft lange Schatten und lässt die Zweige in der Glut knacken. Es ging hoch her, Last Night, im Ocean Club vielleicht, Gudrun Guts jahrelanger Radio- und Veranstaltungsreihe.

Aus Schritten werden Drehungen, Schleifen, Loops, langsamer pumpen sie den Pleasuretrain durchs Trip-Hop-Dickicht. In diesem wie im folgenden Stück The Wheel leiht die Weggefährtin und Band-Kollegin Manon Duursma ihre Stimme, das Helle spiegelt sich im Dunklen. Hinter dem nächsten Blubbern aus der Rhythmusbox gluckst ein Country-Akkord, hinter dem nächsten Kirmesorgelrauschen wartet dein zweites Ich.

Gudrun Guts jüngste Identität ist die als Labelchefin von Monika Enterprise, der Berliner Plattenfirma für elektronische Spezialitäten. Mit ihrem Soloalbum I Put A Record On geht der Esprit des Punk nicht verloren, er trifft sich mit der Spiritualität elektronischer Liedschreibekunst auf leisen und verschlungenen Pfaden. Die Loops schleifen den Straßenstaub der Musikgeschichte mit sich wie der niedliche, schlaue Linus in den Peanuts-Comics seine schmutzige Schmusedecke. Und das magische Summen, die treibenden Elektroströme, das heisere Flüstern tönen, als säße Buddha mitten auf dem Alexanderplatz.

„I Put A Record On“ von Gudrun Gut ist als CD und LP erschienen bei Monika

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Das ist nicht Björk!

Augen zu, Ohren auf: A&E aus Paris jagen billige Keyboard-Klänge und glockenhelle Stimmen kreuz und quer durch traditionelle japanische Minyo-Musik.

A&E Oi!

Verstehst du die Dinge, wird alles eins;
Falls nicht, fällt alles entzwei.
Verstehst du die Dinge nicht, wird alles eins;
Falls doch, fällt alles entzwei.

Diese Worte des Zen-Meisters Mumon Ekai (1183-1260) beschreiben die Vielschichtigkeit von Klang und Musik. Strebsamkeit allein hat niemals gute Musik gemacht, pure Erfüllung gerät zum Scheitern. Musik über Musik zu machen ist folglich sehr schwer, denn die Grenze zwischen eigenem Ausdruck und bloßem Zitat ist fließend.

Das Duo A&E macht auf seinem Album Oi! genau das: Musik über Musik. Wie geht das? Geht der Klang zum Ohr oder geht das Ohr zum Klang? Mumon sagt:

Wenn du mit deinen Ohren hörst,
kannst du es nicht begreifen.
Wenn du mit deinen Augen hörst,
kannst du es begreifen.”

Versuchen wir es.

Wir hören — Verzeihung — sehen eine liebliche Stimme. Ein Glockenklang umgarnt ihre Geschichte, die von der Liebe handelt. Der Vortrag erinnert an einen friedlichen Tag im Garten. Dazu spielt eine Jazzgitarre hektische Skalen, scheppernde Drum’n’Bass-Rhythmen irren durch den Raum und kommen bei keiner Tanzfläche an. Ein Keyboard beschallt die Szenerie vom Rand aus, Rhythmus Nummer 18. Hier tummeln sich Franzosen mit Baguettes unter den Armen und Blumenketten über den Schultern. Die Sonne strahlt, jeden Moment könnte es Regen geben. A&E sind realistisch und exotisch zugleich. Zu jeder Sekunde spielen sie mit Klischees, aber sie brechen ab, bevor es peinlich wird.

A&E sind der Brite Andrew Sharpley und die Japanerin Emiko Ota. Sie leben in Paris und haben viele gemeinsame Kinder. Oi! ist ihr drittes Album. Ota singt und spielt teure Perkussion-Instrumente und erlesene Trommeln. Sharpley bedient billige Keyboards und Sampler, seine Elektronik klingt lebendig, mehr nach Kapelle als nach Computer. A&E ist nicht sein einziges Projekt, mit Stock, Hausen & Walkman zerlegte er Hammondorgeln und Popstücke, mit Dummy Run erforscht er die Grenzen der Nervosität.

Auf den vorherigen Alben des Paares ging es elektronischer und punkiger zu. Wilde Schnippeleien reihten sich an Andeutungen im Sekundentakt. Das neue Album ist fast beschaulich. Früher haben sie viel geschrien, nun verfolgen sie ein anderes Konzept. Oi! ist um vier Minyo-Stücke herum aufgebaut, japanische Folklore, spannend und unberechenbar umgesetzt. Emiko Otas Stimme erzählt und bringt Ruhe und Langsamkeit. Andrew Sharpleys Elektronik rödelt dazu, sie bildet einen Gegenpol.

Die Verbindung von Folklore und Elektronik funktioniert erstaunlich gut. Die Mischung der Stile ist subtil und collagenhaft, nie ist sie persiflierend oder albern. Oi! ist nicht nur für Zen-Meister interessant.

„Oi!“ von A&E ist als Digipak-CD erschienen bei Sonig

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Bürogeräte-Blues

Original oder Kopie? Für Alva Noto keine Frage, bei ihm kommt die elektronische Musik wie aus dem Fotokopierer

Alva Noto Xerrox

Es rauscht und piepst ohne Ende. Geräusche, Geräusche, sie bauschen sich wie mit Elektrosmog verunreinigte Zuckerwatte. Hindurch wabern verschwommene Melodien von neutraler Schönheit, vielleicht ein monumentales Orchesterwerk. Vielleicht auch nur die Musikberieselung vom Hotelklo oder aus der Abfertigungshalle: Haliod Xerrox Copy 2 (Air France) heißt eines der vierzehn Stücke.

Man könnte es einfach Ambient nennen, doch Alva Noto alias Carsten Nicolai, bildender Künstler und Elektronikmusiker, verfolgt andere Ziele. Während die Musikindustrie sich nach wie vor an das Verwertungsmonopol künstlerischer Originale zu klammern versucht, sucht er in der Reproduktion und Vervielfältigung von Klängen neue ästhetische Motive.

Auf seiner Platte Xerrox thematisiert er die Frage nach Original und Kopie mittels einer selbst entwickelten Software, die das technische Prinzip des vor gut fünfzig Jahren erfundenen Xerox-Fotokopierers auf Musik anwendet. Allerdings nicht auf irgendwelche Musik, sondern auf jene Muzak des modernen Lebens, die uns ständig im Berufsalltag, auf Reisen und zwischen den Orten umgibt. Als Samples wandern Ausschnitte aus den Telefonwarteschleifen und Musikunterhaltungsprogrammen internationaler Fluggesellschaften und Hotels in den virtuellen Vervielfältiger. Dauertöne, die an das nervige Summen eines nimmermüden Kopierergebläses erinnern, vermischen sich mit dem Echo eines Lautsprecheransagengongs zu surreal anmutenden Klanglandschaften.

Der besondere Zauber entsteht durch die Fehlerquellen, die sich bei wiederholten Kopiervorgängen ergeben. In Wirklichkeit ist keine Kopie wie die andere, aus diesen Ungenauigkeiten schöpft Carsten Nicolai das Musikalische seiner Geräuschkunst. Die Melodien, die sich Gehör und Bewusstsein besser merken können, als rhythmische Unterschiede, ähneln in ihrer Schlichtheit den einfachen plakativen Farben alter Xerox-Kopien. Spinnwebenfein jedoch dämmern sie nun herauf aus der unbewussten Wahrnehmung und wirken in ihrem neuen Ambiente voller verfremdetem Rauschen und Pulsieren viel intensiver und berührender, als das Original aus der Flughafenhalle oder dem Hotelaufzug.

In seinen früheren Klangwelten ging es Carsten Nicolai um experimentelle Abstraktion. Als Noto schuf er Werke von naturwissenschaftlicher Strenge und kristalliner Eleganz, seine Kooperationen mit dem japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto fanden weltweite Beachtung. Mit Xerrox eröffnet er nun auf dem Chemnitzer Label Raster-Noton eine neue Reihe musikalischer Transaktionen, der ersten CD sollen weitere folgen. Und er meint es ernst mit der Kopieridee: Nicht nur auf dem Silberling für den CD-Schlitz und auf Liebhaber-Vinyl sind die Stücke zu haben, man kann sie auch als SD-Card, als Datenspeicherchip, erwerben! Genau wie bei dem kleinen Ding in der Digitalkamera können die Daten dann beliebig kopiert, weiterverbreitet oder sogar gelöscht und neu überspielt werden.

Doch so flüchtig und austauschbar Daten ihrer technischen Natur nach sein mögen, die musikalisch hintergründige Tristesse auf Xerrox gräbt sich umso tiefer ein. Der kühle, verlorene, aber irgendwie auch selbstvergewissernde Blick von außen, dieses akustische Schweben im Off des ansonsten hektischen Treibens, halten einen noch lange gefangen. Es ist das Lied vom summenden Faxgerät, das der Letzte im Büro vergessen hat auszuschalten. Es ist die Hymne vom weißen Rauschen im Fernseher, als es noch Programme gab, auf denen zwischen nachts und morgens nichts mehr lief. Es ist die Ballade des Geschäftsreisenden, der sich auf der Taxifahrt durch graue Vororte zum Flughafen nicht mehr an die Gesichter oder Namen der Leute erinnert, mit denen er den letzten Drink an der Hotelbar genommen hat. Es ist der Blues des Digitalkünstlers, der dem Schöpfungsfluss von Abbild zu Abbild mit der nächsten Kopie die stille Euphorie kleiner Differenzen entgegenschleudert.

„Xerrox Vol. 1“ von Alva Noto ist als CD, als Doppel-LP und als limitierte SD-Card erschienen bei Raster Noton; das Album ist erhältlich u.a. im Labelshop von Raster Noton

Hören Sie hier „Haliod Xerrox Copy 2 (Airfrance)“ und „Haliod Xerrox Copy 6“

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Zu viele Glückspillen

„Du sagst, mein Lied hat keinen Sinn. Ich sage, doch – den, dass ich glücklich bin“, trällert Inga Humpe auf dem neuen Album von 2raumwohnung. Dazu kann man sehr gut den Frühjahrsputz machen.

2raumwohnung 36 Grad

Der Geschirrberg droht umzukippen, das Badezimmer wartet auf den Wischmob. Auf den Büchern liegt Staub, und die Gardinen gehören in die Waschmaschine. Keine Lust, sich um den Haushalt zu kümmern? Ein Fall für das neue Album von 2raumwohnung! Da kommt sie von ganz allein, die Leichtigkeit, mit deren Hilfe man freudig Fenster putzt und Kacheln und Töpfe reinigt. Inga Humpe und Thomas Eckarts neue Lieder machen das Leben locker, wer würde da noch vor ein bisschen Hausputz zaudern?

Auf dem großartigen Debütalbum Kommt zusammen sang Frau Humpe noch „Immer wenn ich glücklich bin, dann weiß ich schon, es wird nicht für immer sein“. Tanzbare Perlen der Popmusik waren es, positive Lebenseinstellung und Melancholie genau richtig gemischt. Und ihr Gesang war wunderbar lässig. „Das Leben ist mal wieder hart. Komm, bleib weich“, war ihre Antwort auf die Verbissenheit der Gegenwart. Diese schlichten Zeilen aus dem Jahr 2001 bestechen. Das neue Album 36 Grad klingt dagegen, als habe das Berliner Duo ein paar Glückspillen zu viel geschluckt. Die Texte sind zahm und die Musik geschliffen. Wir hätten es wissen müssen, Peter Plate und Ulf Leo Sommer von Rosenstolz haben am Album mitgearbeitet, das erhöht den Weichspül-Faktor.

Inga Humpe und ihre Schwester waren einst die Neonbabies. 1979 schufen sie mit dem Lied Blaue Augen einen Klassiker der Neuen Deutschen Welle bzw. Punkmusik. Es folgten wütende Lieder. Über die Jahre jedoch scheint Inga Humpe gelassener geworden zu sein. Heute ist sie 51 Jahre alt, genießt ihr Leben und bastelt mit Thomas Eckart zu Hause am Elektropop. „Wir müssen uns 2raumwohnung als glückliche Menschen vorstellen“, schreibt Thomas Winkler in der tageszeitung. Ja, das müssen wir wohl. Das wirkliche Leben kann draußen bleiben, ernste Themen finden hier nicht statt. Müssen sie ja auch nicht, alles eine Frage der Einstellung. „Du sagst, mein Lied hat keinen Sinn. Ich sage, doch – den, dass ich glücklich bin“, singt sie im Stück La La La. Es sei den beiden gegönnt, immerhin helfen sie uns beim Hausputz. Und wenn wir den schaffen, dann schaffen wir auch alles andere.

„36 Grad“ von 2raumwohnung ist als CD und Doppel-LP erschienen bei it sounds/Labels/EMI

Hören Sie hier „Besser gehts nicht“

2raumwohnung sind im März 2007 auf Tour durch Deutschland, Österreich und die Schweiz

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Queen Kong schläft nicht

Durch die Geschichte von Frauen in der alternativen Musik führt die Kompilation „Girl Monster“. Selbst nach dem soundsovielten Hörmarathon durch die drei CDs möchte man ausrufen: Bitte mehr davon!

No Women No Cry Vol. 2

Im dritten Stück auf CD 3 springen sie uns an, Godzilla, King Kong und Konsorten. The Creatures lassen zu hämmernden Metallorgien und kreischenden Gitarren die Monster von der Kette. The Creatures? Wer waren die nochmal? Ach ja, gegründet im Jahr 1981 als Nebenprojekt von Siouxsie und Budgie, weil die Sängerin und der Drummer der legendären Siouxsie and the Banshees mehr Freiraum für ausgeflippte Ideen suchten. Godzilla erschien im Jahr 2003 als eine späte letzte Single. Das Image von Härte, Wildheit und verruchtem Sado-Maso hatte sich allmählich abgenutzt, kurz darauf lösten sich The Creatures auf.

Ein typisches Beispiel der Spurensuche auf Girl Monster. Alex Murray-Leslie vom deutsch-amerikanischen Projekt Chicks on Speed hat bei der Auswahl wahre Wunder vollbracht, ihre Geschichte der Frauen in der alternativen Musik ist beispiellos: 60 Stücke auf 3 CDs. Mit einem Riesenaufgebot an Underground-Musikerinnen, unbekannten Talenten, vergessenen Heldinnen und Vertreterinnen der jüngsten Avantgarde geht es vorwärts, rückwärts und quer durch die letzten 30 Jahre – vor allem quer zum männlich dominierten Popgeschäft.

Queen Kong schläft nicht: Von Punk über Rrrriot-Rock bis zu modernem Elektropop, bratzendem Laptop-Funk und Frickelelektronik mit oder ohne Gesang sind das dreieinhalb Stunden monströs gute Musik von den Mädels. Das passt in keine Schublade, nichts klingt nach bloßer Erinnerung. Die kluge Zusammenstellung und Abfolge der Stücke erzeugt eine aufregende Grundspannung, als hätten das grummelnde Geschrammel der Girl-Bands aus den Achtzigern und der fein pochende Elektrohouse oder die sparsamen Acid-Bässe aus den Alleinunterhalterrhythmusgeräten von heute schon immer einen gemeinsamen Herzschlag gehabt.

Wo waren sie nur hingeraten in unseren Köpfen, Pionierinnen weiblicher Alternativkultur wie die Slits? Auf CD 2 gemahnt eine seltene Live-Version von ihrem Typical Girl aus dem Jahr 1980 daran, dass es den funky Groove der Selbstbehauptung, wie ihn die Latex-Punk-Gören Peaches, Angie Reed oder Mignon aktuell praktizieren, ohne sie nicht gegeben hätte. Und was für einen herrlich linksradikalen Hirndurchpuster schufen doch Delta 5 aus Leeds im Dezember 1979 mit ihrer ersten Single Mind Your Own Business, da wirkt der leichtfüßige Euro-Disco-Feger Sexy von den zwei sehr jungen, sehr flotten Schwedinnen Cat5 beinahe konzeptionell.

Auch ganz zarte Töne sind aus dem Spätwerk des Punk erwachsen, Ana Da Silva von den Raincoats zeigte es vor zwei Jahren mit ihren Keyboard-Balladen auf dem Soloalbum The Lighthouse. Ihr Beitrag Full Moon ist wie 39 weitere Stücke eine Exklusivversion für die Girl Monster-Sammlung. Slits-Sängerin Ari Up, deren Mutter dereinst mit John Lydon von den Sex Pistols verheiratet war, bestreitet nach längerer Familienpause seit einigen Jahren erfolgreich ihre Solokarriere im Dub-Reggae. Auch Tina Weymouth von den Talking Heads und Cosey Fanni Tutti von Throbbing Gristle begegnen einem auf Girl Monster mit Beispielen ihrer Soloerfolge wieder.

Als Musikerinnenmanifest der späten neunziger Jahre steht Hot Topic von den Amerikanerinnen Le Tigre ganz obenan, daneben packt Planningtorock ihren psychedelischen Plastikpop aus. Alice Daquet alias Sir Alice aus Frankreich variiert ihn im Stück Super Hero zwischen Klangforschung, absurder Kunst, dem Label Tigersushi und der Nouvelle Vague. Ebenfalls mit dem französischen Akzent der leichten Muse spendet Francoise Cactus vom Berliner Duo Stereo Total eine ergreifend tiefgründige Neudeutung des New-York-Dolls-Klassikers You Can‘t Put Your Arms Around A Memory, während die scheue österreichische Elektronikmusikern Susanne Brokesch mit einer Prise Hardcore und Halluzinationen David Bowies Heroes umgarnt. Die Berliner Elektronikgöttinnen Barbara Morgenstern und Gudrun Gut dürfen nicht fehlen, letztere umgeben vom doppelten Ruhm als Mitbegründerin der legendären Gruppe Malaria!. Weniger bekannt, aber spektakulär in ihren beigefarbenen russischen Sekretärinnenuniformen treten Client mit britischem Prog-Pop an. Am wildesten treiben es die kanadischen Lady Rocker Lesbians On Ecstasy und Kids On TV, was bei ihnen der entfesselte, zum Abtanzen peitschende Ungehorsam ist, verpacken Robots in Disguise aus England in fetzigen Glam-Punk.

Die Chicks On Speed rocken seit 1994 von München aus mit Trash-Kunst so glamourös wie kämpferisch auf Modenschauen und in Clubkellern. Auf ihrem eigenen Label Chicks On Speed Records toben nun die Girl Monster. Wie ein überdimensionales Pamphlet präsentiert sich auch die der Kompilation beigefügte achtseitige, gefaltete Zeitung künstlerisch konträr. Im Einzelnen auf die Musikauswahl bezogen wenig informativ, vermitteln die englischsprachigen Wortbeiträge jedoch eindringlich den Herzschlag der Sache, um die es geht: die fehlende oder einseitige Außenwahrnehmung von ganzen Generationen von Musikerinnen und ihre gesellschaftspolitische Brisanz. Eine Fortsetzung dieser Sammlung ist geplant, und selbst nach dem soundso vielten Hörmarathon nonstop durch alle 3 Monster-CDs möchte man sofort ausrufen: Bitte mehr davon!

„Girl Monster“ ist als 3-CD-Box erschienen bei Chicks On Speed Records

Hören Sie hier
„Super Hero“ von Sir Alice,
„Break Dance Hunx (Market Value Mix)“ von Kids On TV,
„Get Rid“ von Robots In Disguise
„Mind Your Own Business“ von Delta 5,
„Sheets“ von Electric Indigo & Dorit Chrysler,
„Sedation“ von Lesbians On Ecstasy und
„Heroes“ von Susanne Brokesch

Lesen Sie hier: Die Platten des Jahres 2006 – Eine Nachschau auf 100 Tonträger

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Sollen die Typen doch heulen

Die Plattenfirma Monika legt zehn Finger an den Puls der Zeit: In der Reihe „4 Women No Cry“ erkunden jeweils vier Musikerinnen die Möglichkeiten der Elektronik

No Women No Cry Vol. 2

Zu den Schätzen vieler Plattensammlungen gehören Split-Singles. Das sind kleine schwarze Scheiben, auf jeder Seite musiziert ein anderer Künstler. Das Konzept funktioniert nur auf Vinyl wirklich gut, weil man zwischendrin umdrehen muss und die Stücke nicht wie auf CD ohne Pause ineinander übergehen.

Doch warum muss man sich auf Single-Kürze beschränken? Warum das nicht mal auf Langspielplatte ausprobieren? Das Berliner Label Monika hat im Jahr 2005 mit einer Serie begonnen, die genau dies tut. 4 Women No Cry heißt das Projekt. Vier Künstlerinnen steht jeweils eine der vier Seiten einer Doppel-LP zur Verfügung, fünfzehn Minuten also.

Künstlerinnen! Bob Marleys Liedtitel No Woman No Cry wird von ihnen absichtlich variiert. Das Motto: „Ist uns doch egal, ob die Typen zu Hause hocken und heulen. Wir machen Musik!“ Auf 4 Women No Cry hört man ausschließlich Frauen. Das ist nicht das einzige Prinzip der Reihe, vielleicht nicht einmal das wichtigste. Warum sollten Frauen keine gute Musik machen können?

International und elektronisch soll es zugehen. Jede Folge porträtiert Künstlerinnen aus unterschiedlichen Metropolen. Auf Teil 1 loteten Rosario Bléfari aus Buenos Aires, Tusia Beridze aus Tiflis, Eglantine Gouzy aus Paris und Catarina Pratter aus Wien die Weiten elektronischer Musik aus. Auf der nun erschienenen zweiten Doppel-LP sind es Dorit Chrysler aus New York, Mico aus London, Monotekktoni aus Berlin und Iris aus Barcelona. Viele Namen, aber auch viele Ideen, Eigenarten und Stilrichtungen.

Seite eins gehört dieses Mal Dorit Chrysler. In ihren fünf Stücken bringt sie Xylophon und Theremin zusammen mit sphärischen und verzerrten Gesängen, Fiepsen und Pluckern. Die Klänge wabern durch Räume, sie kommen kurz vorbei und verschwinden nach nebenan. Dann wieder drängen massive Rhythmen eine hitverdächtige Melodie voran. Eines der Stücke heißt My Sweet Chimera, das passt, denn so richtig festlegen lässt sich das Wesen ihrer Musik nicht.

Pause, Platte umdrehen. Die drei Stücke von Mico sind schon greifbarer. Ihr Dub ist behutsam und gleichzeitig hektisch, tanzen kann man dazu am ehesten ganz langsam. Besonders im Ohr bleiben ihre teils japanischen Texte bei Signal Found und Fruit Tree. Fast dadaistisch klingen sie, vielleicht ergeben sie dennoch Sinn?

Pause. Platte runter, Platte drauf. Monotekktoni ist das Projekt der Berlinerin Tonia Reeh. Auf den meisten ihrer Stücke kreischt und bollert es, verzerrte Gitarren, trötige Keyboards und schrammelige Rhythmen legen einen Klangteppich, über den sie mit eindringlicher Stimme singend schreitet. Ihre Lieder treiben und flirren. Dass sie aus unzähligen Klangfetzen, Synthesizern und Effektgeräten auch anderes basteln kann, zeigen das etwas ruhigere No Cry und das beinahe theatralische Pappeln.

Pause, umdrehen. Iris macht den Abschluss. Sie singt vier schöne Popstückchen, hymnisch, verspielt, freundlich. Bei ihr entsteht alles elektronisch, ihre fragile Stimme hat sie am Rechner weiter zerstückelt.

Gudrun Gut – eine Heldin der Elektroszene – kompiliert die Doppelalben der Reihe. Sie scheint ihre Ohren überall zu haben und legt zehn Finger an den Puls der Zeit. So findet sie, was andere Plattenfirmen suchen. In den Metropolen entwickelt sich elektronische Musik in unterschiedliche Richtungen weiter, schon lange gibt es keinen globalen Takt mehr, dem alle folgen. Richtig treffend lässt sich das alles nicht umschreiben, nur erhören.

Natürlich erscheint 4 Women No Cry auch auf CD. Die Doppel-LP funktioniert besser, außerdem ist sie viel schöner. Die exaltierten Rillen von Folge 2 sind in schickes weißes Vinyl geschnitzt. Die Serie soll jährlich fortgesetzt werden, das ist gut.

In der Reihe „4 Women No Cry“ sind bisher zwei Folgen als Doppel-LP und CD erschienen bei Monika

Hören Sie hier „Satellite“ von Dorit Chrysler, „After Rain“ von Mico, „No Cry“ von Monotekktoni und „Rolling Down“ von Iris

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Nichts ist gut

Über die Jahre (19): Mit den Spaßvögeln der Neuen Deutschen Welle hatten DAF nichts zu tun. Sie provozierten Anfang der Achtziger mit rebellischen deutschen Texten und ihrem Faible für Schweiß, Erotik und Maschinen

DAF Alles ist gut

Stakkatohafter Sprechgesang, düstere Zeilen im Kommandoton vorgetragen: „Sei still. Schließe deine Augen. Denn alles ist gut.“ Im Anti-Einschlaflied Alles ist gut ahnen wir schon: Nichts ist gut.

Mit der Single Der Mussolini gelang der Gruppe Deutsch Amerikanische Freundschaft (DAF) im Jahr 1981 der Durchbruch. Wie ein Tanzlehrer fordert der Sänger Gabi Delgado dazu auf, den Mussolini, den Adolf Hitler, den Jesus Christus und den Kommunismus zu tanzen, sich dabei nach rechts und nach links zu drehen, in die Hände zu klatschen und die Hüften zu bewegen. Sie wollten die Bösen sein, sie provozierten.

Kaum zwei Jahre zuvor hatten DAF ihren ersten Auftritt in Düsseldorf gehabt, da waren sie noch zu fünft. Nach und nach entledigten sich Robert Görl und Gabi Delgado der Kollegen. In Jürgen Teipels Dokumentation Verschwende Deine Jugend sagt Robert Görl: „Wir wollten viel lieber mit Maschinen arbeiten.“ Als 1981 ihr drittes Album Alles ist gut erschien, waren DAF nur noch zu zweit und mit dem Mussolini berühmt geworden.

Gabi Delgado war mit acht Jahren als Gastarbeiterkind nach Deutschland gekommen, im Interview mit Teipel erklärt er: „Mich hat der Umgang mit der deutschen Sprache fasziniert. Deshalb wollte ich unbedingt aggressive Musik mit deutschen Texten machen. Ich dachte: ‚Das passt so gut mit der deutschen Sprache!‘ Wir haben uns bald mehr für Dadaismus interessiert als für Punk. Und haben seltsame Analogien entdeckt. Vor allem in den ganzen Manifesten. Dieses revolutionäre Element: ‚Wir machen jetzt wirklich was anderes und sprengen damit die Gesellschaft. Oder schockieren die zumindest.’“

DAF machten trotzige Lieder ewig rebellierender Adoleszenter und waren die Meister der Monotonie und des tanzbaren Minimalismus. Endlos reihten sie Tonschleifen aneinander, kombinierten analoge Schlagzeugklänge mit harter Elektronik und sonderbaren deutschen Texten. In ihrem militärischen Auftreten verbanden sie Erotik, Maschinen und faschistische Ästhetik. Sie waren eine zweifelhafte Avantgarde, in ihren Fußstapfen folgten ganze Generationen von Electronic-Body-Music– und Techno-Formationen.

Ein Jahr nach Erscheinen von Alles ist gut lösten sich DAF auf. Rund 20 Jahre später konnte man sie wiedersehen, zum Beispiel auf einem Gothic-Festival in Leipzig: Mit neuen und alten Liedern in einer großen Halle mit schlechtem Sound. Gabi Delgado brüllte den ganzen Auftritt lang, von der erotischen Stimme auf den Schallplatten und Kassetten war kaum etwas übrig geblieben. Manchmal ist es besser, wenn Helden ihren Mythos nicht entzaubern. Denn wer Lieder geschrieben hat, die Verehrt Euren Haarschnitt oder Verschwende Deine Jugend heißen, muss ein Held bleiben.

„Alles ist gut“ von DAF ist 1981 erschienen und erhältlich über EMI

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Der Mussolini“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Wie eine Mixkassette

Four Tet aus London bastelt seine Stücke aus Fragmenten von Folklore bis Free Jazz. Seine Musik spricht den Kopf an, und zu ihr kann man auch tanzen. Faszinierend ist sein Beitrag zur Serie „DJ Kicks“

Four Tet DJ Kicks

Vier Alben hat Kieran Hebden unter dem Pseudonym Four Tet aufgenommen, allesamt stecken sie voller unberechenbarer Musik. Er springt von Stil zu Stil, mit jeder neuen Platte macht er einen Schritt in eine neue Richtung. Als er Folk mit Elektronik mischte, erfand die Musikkritik den Begriff Folktronica. Doch da wandte er sich schon dem Free Jazz zu und tauchte als Remixer für die HipHopper Madvillain und Radiohead auf.

So ist es nur konsequent, dass er nun ein Album für die ebenso unberechenbare Serie DJ Kicks aufgenommen hat. Seit über zehn Jahren lädt das Label !K7 Musiker und DJs ein, ihre Lieblingsstücke zusammenzustellen und zu mischen. Um eine ausführliche Titelliste und Quellenverweise erweitert, machen die Alben das Tun der DJs transparent. Hier kann man ihnen auf den Plattenteller gucken, ohne sich ihren Unmut zuzuziehen.

Schnuppern wir an Four Tets buntem Strauß: Los geht es mit einer computergenerierten Improvisation von David Behrman, es folgt britischer Arbeiterfunk von Syclops. Weich landen wir bei Curtis Mayfield. Immer wieder wechselt die Stimmung. New Folk von Animal Collective trifft auf Minimal-Techno von Akufen. Dazu gesellt sich knochiger HipHop von Group Home und Showbiz & A.G., Krautiges von Gong, elektrischer Jazz von Herbie-Hancock-Mitstreiter Julian Priester und afrikanische Kalimbamusik. Ein eigenes Stück von Four Tet gibt es auch, Pockets.

Die Zusammenstellung ist etwas für Zuhause, fürs Auto oder für den Walkman. Tanzen kann man dazu auch, aber für den Club ist das Album nicht gemacht. Four Tet konzentriert sich nicht auf einen Stil, so hat man das von ihm erwartet. Sein DJ Kicks klingt wie eine Mixkassette, aufgenommen für einen guten Freund.

„DJ Kicks“ von Four Tet ist als Doppel-LP und CD erschienen bei Studio !K7

Hören Sie hier „Pockets“ von Four Tet

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Im Takt des Ameisenbärs

Saroos bringen ihre Umwelt zum Klingen und Schwingen: Kreissäge, Blechdose und Metronom, Rasseln, Eimer und Glühwürmchen. Und wie heißt noch dieses Instrument, das George Harrison in Indien spielen lernte?

Saroos

Welch ein musikalischer Ameisenhaufen. Überall wimmelt und wuselt es. Stimmen flüstern hektisch, exotische Instrumente huschen von hier nach dort, es knackt im Unterholz. Man haut auf alles, was so rumliegt, Eimer, Blechdosen, Gläser. Ein Synthesizer dröhnt vertraut, jemand hat eine Rassel mitgebracht. Und was klingt da, ist das eine Kreissäge? Oder ein Schnipsel von Filmmusik? Ein Metronom? Die Ohren gehen einem über, sie wollen überall zugleich sein. Plötzlich kommt der Ameisenbär und lässt den Waldboden unter einem dröhnenden Basslauf erzittern.

Schon die ersten drei Stücke auf Saroos‘ Debütalbum stechen viele Genres an. Die dicksten Scheiben schneiden sie sich bei Elektronika und HipHop ab, HipHop ohne Worte. Doch halt. Bei During This Course rappt plötzlich einer. Ohne Luft zu holen, vier Minuten lang variiert er nur zwei Töne. Was erzählt er da eigentlich? Mit Everyone Was There gehen wir noch tiefer in den Wald, es ist sphärisch, ruhig, dunkel. Wie heißt noch das Instrument, das George Harrison in Indien spielen lernte? Irgendwann bleibt der Bass ganz aus, es wird Nacht im Saroos-Wald.

Gerade als man denkt, man hätt’s begriffen, kommt Videos & Vehicles und führt Trompete und Kontrabass ein, Jazz also auch noch. Wird da Miles Davis gesampelt? Warm und ruhig klingt die Trompete, ist das irgendwas von In A Silent Way? Nur zwei Töne werden abgewechselt, sie verschleppen den Takt gehörig. Das trocken angespielte Schlagzeug muss sie immer wieder zur Ordnung rufen. Am Ende löst sich das Stück in Wohlgefallen auf, der Blechbläser entfernt sich langsam durch einen hallenden Gang. Unverständlich brabbelnde Stimmen werden lauter, das Schlagzeug torkelt unentschlossen in ein nahes Nirvana.

Saroos verstehen sich auf Stimmungen. Troubled Sleep klingt sogar ein bisschen nach Lagerfeuer. Eine akustische Gitarre, mit der Handfläche bearbeitete Trommeln, dazu das säuselnde Geräusch, das entsteht, wenn man die Saiten oben zwischen Bund und Wirbeln anschlägt. Im Hintergrund murmeln Wölfe und Füchse, die unbemerkt in zweiter Reihe sitzen. Und da, ein Glühwürmchen. Kann man das hören? Schließlich graut der Morgen und All We See führt uns zurück in das hektische Treiben des Ameisenhaufens. Auch der Rapper und der Ameisenbär sind wieder da. Am Ende hat er das Gewusel weggeschlürft. Mit Noone gleitet die Platte aus, umschmeichelt einen nochmal, obwohl sie es gar nicht mehr nötig hätte. Die Libellen schwirren über den verwaisten Ameisenhaufen.

Saroos sind Christoph Brandner und Florian Zimmer. Man hört aus ihren Stücken die schönen Popentwürfe Lali Punas (dort spielt Brandner) genauso heraus, wie die introvertierten Elektronikbasteleien von iso68 (der Band von Zimmer). Der Rapper ist Alias, die exotischen Instrumente spielt Saam Schlamminger, beide sind alte Bekannte aus dem großen Notwist-Umfeld. Das muss man alles nicht wissen, um diese Platte zu mögen.

Das selbst betitelte Album von Saroos ist als LP und CD erschienen bei Alien Transistor

Hören Sie hier „This Ain’t No Place“ von Saroos

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Sie bellen und beißen

Hamburg: Die berüchtigte linksradikale Spaßkapelle hat wieder zugeschnappt. Knarf Rellöm Trinity lassen mit bissigem Elektrofunk das Hirn brennen und die Hüften zucken

Knarf Rellöm Move Your Ass

Jetzt aber mal Schluss mit lustig. Einen unnützen Spaßkanzler hatten wir ja schon und an die Revolution mit popkulturellem Glanz und Gusto glaubt keiner mehr. Mit dem Untergrund geht es auch nicht weiter: Seitdem auf Neonazi-Umzügen die Lieder von Ton Steine Scherben gegrölt werden, scheint kein noch so untergründiges nonkonformistisches Zeichen mehr sicher vor der moralischen Entwertung.

Wer will sich da noch lange Gesinnungsmonologe musizierender Radikalinskis anhören?

Ja: Ich! Hier, bitte! Aber nur, wenn sie von Knarf Rellöm kommen! Er ist Superman falsch herum, richtig heißt er Frank Möller und tritt gerne in glänzenden Ganzkörperanzügen und Flatterumhängen auf die Bühne. Dann rotzt er mit seiner Mini-Kombo los und spuckt präzise analytischen Wortunsinn:

Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!
Wer verrät uns nie? Sexualdemokratie!

Das ist ein zentraler Refrain auf der neuen Platte Move Your Ass & Your Mind Will Follow, ein Refrain, mit dem Knarf Rellöm in Techno Talking nichts als Ärger hat. Mit dem Monologisieren fängt er schon im ersten Stück Die Tankstelle am Rande unseres Planeten an. Doch dann, ein paar synthetische Tastendauertöne und kühl knallende Beats weiter, bevölkern Bassistin und Sängerin DJ Patex in der Rolle der gelangweilten Zapfsäulenheiligen sowie Schlagzeuger und Keyboarder Viktor Marek als wispernde Köterkatze die utopische Erzählung.

Man wähnt sich im Jahre 2073, das Motto des Jazzmusikers und Visionisten Sun Ra „Space is the place“ wird als roter Faden ausgelegt. Rapper vom Mars nehmen die Botschaft auf und formulieren zu funky schmatzenden Bässen und körperlosem Händeklatschen die Albumtitelzeile. Saftig im Jazz stehend wird das sture Technowummern der Spaßgesellschaft entrümpelt, beinahe klezmerisiert und mit punkiger Astro-Energie neu aufgeladen: Den Kopf verlieren, um das Denken wiederzufinden. Die Kraft der Negation nannte es Popkulturtheoretiker Diedrich Diederichsen – die Elektro-Rhythmusbox zischt böse Peitschenhiebe.

Selbstzufriedenheit: Nein, danke, this is the heavy heavy No-Deutschland-Sound. Im Stück AKD singt DJ Patex „Arme kleine Deutsche“ im absichtlich niedlichen Sopran-Chorus. Knarf Rellöm redet wieder mal mit sich selbst, seinen anderen Ichs, und imitiert einen Streit mit dem Freund am Telefon über die Verharmlosung des weichen Patriotismus. Der flotte House-Groove hüpft den Worten fast davon, quiekende Elektronik erinnert an die Roboter im Video Tricky Disco, dem lustigen Hit aus der Steinzeit von Techno.

Anders als auf vorherigen Platten reißt hier trotz der Splatter-Stilistik der musikalische Faden nicht ab. Zwei sekundenkurze kuriose Hörspiele strukturieren die Titelreihenfolge wie Wellenbrecher, bevor das Stück What’s That Music? mit warmen Händen noch mehr Soul austeilt. Mit fies knarzenden Bassbeats und von Furien aus dem All gespielten E-Gitarren landet schließlich die Außerplanetarische Opposition, um Knarf Rellöm Trinity den Auftrag zur musikalischen Rettung der Welt zu erteilen.

Ganz am Schluss der CD sind zwei Titel aufgeführt, die es – noch – gar nicht gibt! Nächstes Mal, steht mit Kreuzchen auf der Hülle. Selbst die schrägsten lumpigsten Einfälle passen dem Trio elegant wie maßgeschneidert, mitsamt der geklauten Dreifaltigkeit im Bandnamen, der für jede Platte neu erfunden wird. Sowieso zum Verlieben sind Knarf Rellöms typische Wortverdrehungen wie der Hampfhund mit Kerrchen, und wer sagt eigentlich, dass bellende Hunde nicht beißen!

„ Move Your Ass & Your Mind Will Follow“ von Knarf Rellöm Trinity ist als LP und CD erschienen bei What’s So Funny About

Hören Sie hier „AKD (Arme kleine Deutsche)“ und „Außerplanetarische Opposition“

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