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Sagt denn keiner Nein?

Kanye West ist der Erfolg zu Kopf gestiegen: Auf seinem neuen Album „808’s & Heartbreak“ beklagt er sein Schicksal und wirft mit verbalem Exkrement um sich

Unbeirrbar hat sich Kanye West in die Riege der großen Popstars gearbeitet. Vom Hintergrund in den Vordergrund. Als HipHop-Produzent machte er sich einen Namen, schneiderte Jay Z, Talib Kweli und vielen anderen Rappern das klangliche Gewand. Schließlich wollte er ans Mikrofon, wegen seiner begrenzten Fähigkeiten wollte ihm aber zuerst niemand einen Plattenvertrag geben. Da wurde er noch unterschätzt. Seine Schwächen verwandelte er in Stärke. Im HipHop ist es üblich, vor allem darüber zu rappen, wie toll man rappen kann. West machte es umgekehrt, reimte über seine Unfähigkeit. Das kam gut an und hatte Charme. Sein Debütalbum College Dropout ging im Jahr 2004 förmlich durch die Decke.

Wer unterschätzt wird, hat ein Problem. Wer berühmt ist, ein viel größeres. Mit dem Ruhm kommen die Schulterklopfer, die Ja-Sager. Es hätte jemand „Nein“ rufen sollen, als Kanye, der Unbeirrbare, sich auf den Irrpfad begab. Seine Entschlossenheit ist nun Hybris, sein Charme Weinerlichkeit. Bei Preisverleihungen zetert er, wenn er leer ausgeht, und ständig redet er von seinem Platz in den Geschichtsbüchern. Als „Stimme seiner Generation“ würde er erinnert werden, sagte er jüngst in einem Interview. Nicht wolle, sondern würde.

Ein schweres Jahr liegt hinter Kanye West. Erst starb seine Mutter, dann verließ ihn seine Freundin. Und man hat schon vieles gehört von verlassenen Männern: Dass sie verbittern, mit Suizid drohen, die Wohnung verwüsten und Lügen über die Ex verbreiten. Das alles ist schlimm, aber muss er gleich sein ganzes Album 808’s & Heartbreak als diffusen Rachefeldzug anlegen? Ist da wirklich niemand, der „Nein“ sagt?

Zweiundfünfzig Minuten und neun Sekunden beweint er sein Schicksal, bewirft die Verflossene mit verbalem Exkrement. Selbstsucht, angereichert – besser angeärmert? – mit banalen Gedanken über das Leben. Dass Geld allein es nicht bringt, dass man ja ein ganz normaler Typ sein will, und schau mal, was ich mir für tolle Klamotten, Sportwagen und Häuser gekauft habe! Der Narziss singt die Pinocchio Story: „I turn on the TV and see me and see nothing.“ Der Psychiater sagt: „Rette sich, wer kann! Der Mann kann sein eigenes Spiegelbild nicht ertragen.“ Dass das künstlerische Genie seine Erfindungen aus den dunklen Tiefen von Melancholie und Wahnsinn schöpft, ist eine gängige wie falsche Annahme. Kanye West ist ihr erlegen. Die jüngste Kreativitätsforschung hat sie zum Glück widerlegt.

Auf diesem Album gerät die Musik zum Nebenschauplatz. Wirklich übel ist sie nicht. Die Single Love Lockdown nimmt eine überraschende Wendung, als afrikanische Trommeln das kalte, digitale Klangbild überlagern. Heartless liegt ein beschwingter Rhythmus zugrunde, die Melodie hüpft gleich mit. Doch da ist auch viel Internetapotheke, Musik nach Hitrezept: Hier Beatles-Streicher im Stück RoboCop, dort kitschige Midi-Glocken, die das Weihnachtsgeschäft einläuten. Da Kanye West nicht mehr so viel rappen will, aber auch nicht singen kann, bedient er sich des Auto-Tuners – auch bekannt als Cher-Effekt. Wenn man geschickt auf diesen Studioeffekt hinkomponiert überschlägt sich die Stimme und klingt android. Wohldosiert ist das ein lustiger Effekt, aber über die Dauer einer Stunde nicht zu ertragen. Oder wie der amerikanische Komiker Stephen Colbert sagt: „Wie kann Kanye West die Stimme einer Generation sein, wenn er nicht einmal die Stimme seines eigenen Albums ist?“

„808’s & Heartbreak“ von Kanye West ist auf CD bei Def Jam/Universal erschienen.

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Warum nicht jeder so?

Vor dem Frühstück texten, danach ins Studio, mittags Alben bewerben und verschicken, nachmittags ein Video drehen, am Abend zur eigenen Musik zeichnen: Norman Palm macht fast alles selbst – und gut

Das Musikgeschäft ist ungerecht. Wer seine Aufnahmen bei einer kleinen Plattenfirma unterbringt, hat noch lange nicht gewonnen, denn der Schlüssel zum Erfolg ist der Vertrieb. Der sorgt dafür, dass die Aufnahmen im Plattenkaufhaus und bei Netzhökern zu erstehen sind. Sieht man seine eigene Platte dann im Laden stehen, hat man dennoch nichts gewonnen, denn sie fällt niemandem auf. Also muss eine findige Werbeagentur ran. Unterwegs haben schließlich so viele ein paar Euro verdient, dass der Musiker sich mit wenigen Cent zufrieden geben muss. Um daraus wiederum ein paar Euro zu machen muss er ziemlich viele Platten verkaufen.

Theoretische Alternativen gibt es natürlich, vor allem das Internet gilt vielen als Heilmittel gegen all die Wehwehchen des Geschäfts, als Garant der Chancengleichheit. Und tatsächlich: Ein, zwei mal im Jahr lassen MySpace und YouTube neue Sternchen aufblitzen. Doch wer wollte sich auf diesen Zufall verlassen?

Norman Palms Rezept ist ein anderes, es geht ungefähr so: Drei mal täglich vor und nach den Mahlzeiten alles selber machen. Seine ersten Lieder stellte er nicht einfach hoffnungsvoll ins Netz, sondern er ließ sie in Vinyl drücken und schickte die Singles eigenhändig an eine erkleckliche Zahl von Musikjournalisten. Zwei entzückende Coverversionen waren drauf, Girls Just Wanna Have Fun von Cindy Lauper und Boys Don’t Cry von The Cure.

Sein Debütalbum Songs bringt nun Ratio Records raus, ganz ohne Vertrieb. Das Label betreibt er mit drei Freunden. Und man kann Songs kaum übersehen: Es ist nicht wie normale Werbesilberlinge in ein karges Papphüllchen gewandet, auch nicht in die sonst übliche schäbige Plastikkiste. Nein, Norman Palm verschickt sein Album als Beilage eines dicken Buchs. Das fällt nicht nur auf, weil es jeden CD-Stapel zum Einsturz bringt. Das sieht auch verdammt hübsch aus und will gehört werden.

Es wird gehört: Zwölf leichtfüßige Lieder singt er und macht auch hier fast alles selbst. Mehr als die Gitarre und seine schwere, amerikanische Zunge ist meist nicht zu hören. Manchmal singt er mit sich selbst im Chor und spielt eine Maultrommel. Und ganz selten darf mal jemand anderes den Klang von Schlagzeug, Klavier oder Teekisten-Bass beisteuern.

Zu Beginn erzählt er, was er alles nicht könne: Tanzen und Reiten etwa, oder einen Refrain schreiben, Singen. Doch gleich das zweite Stück Bitterness And Aftertaste widerlegt seine Selbsteinschätzung: Eine charmante Melodie, ein paar Zupfer an der Akustischen – mehr braucht es nicht zum liebenswerten Poplied. So geht es weiter, meist luftig, manchmal getragen, immer melodiös. Vierzig Minuten später krabbeln zwölf wuselige Ohrwürmer durchs Zimmer. Wahrscheinlich kann Norman Palm auch Reiten und Tanzen.

Was in seiner Biografie wohl erlogen ist, entscheide jeder selbst: Er wuchs in Norddeutschland auf, früh lernte er mehrere Instrumente spielen. Nach der Schule wollte er Rechtsanwalt werden, doch seine Eltern überredeten ihn, auf die Kunsthochschule nach Berlin zu gehen. Dort gefiel es ihm, er schrieb viele Lieder und begann diese während eines Aufenthalts in Paris in das Mikrofon seinen Laptops zu singen. Er gestaltete ein kleines Büchlein, in dem er seine Lieder illustrierte. Bald durfte er sie in Galerien und auf Festivals spielen. Da es ihm nicht gefiel, dass die Leute ihn anstarrten, ließ er bei Auftritten jemanden sein Buch durchblättern und projizierte es an die Wand. Heute pendelt er zwischen Mexico City und Berlin.

Songs sind die Lieder aus Paris und ein kleines Buch. Das unterhaltsame an seinen zweihundert Seiten ist die Formenvielfalt. Jedem Stück ist ein Kapitel gewidmet. Oft sind die Liedtexte typografisch gestaltet, mal in Leuchtschrift, mal in seiner Handschrift. Daneben stehen mal versierte, mal krakelige Zeichnungen von Sperma, Krokodilen und abgeschnittenen Zungen. Oh, Elisa zieren scheinbar zufällige Momentaufnahmen aus Paris, Berlin, London und Mexico City, den Middletown Blues begleiten ein Dutzend Polaroids voll typischer Kleinstadttristesse, zu Boys Don’t Cry schauen ein paar geschminkte Jungs in die Kamera.

Bild und Ton ergänzen sich, nach mehrfachem Durchblättern und -hören mag man gar nicht mehr entscheiden, was zuerst da war. Warum macht das nicht jeder so? Ach, ja richtig, das Geschäft. Ein solches Album würde mit der gängigen Anzahl von Mitverdienern wohl gut 30 Euro kosten.

„Songs“ von Norman Palm ist als Buch plus CD bei Ratio Records erschienen. Erhältlich ist das Album in dieser Form nur in einem Plattenladen in Berlin, im Webshop des Labels und bei A.N.O.S.T.

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Utopien im Nebel

David Grubbs‘ Musik hat eine poetische und eine politische Ebene. Er besingt die Künstlerexistenz, wirft viele Fragen auf. Und lässt sie unbeantwortet

Im Grenzgewässer zwischen Romantik und Realität schwimmt ein Boot. Töne schallen von dort herüber. Holz knirscht, ein Mast quietscht, eine Stimme verneigt sich vor der Dämmerung. Der Tag gehört der Utopie. Doch die Tage werden kürzer – hat die Utopie eine Zukunft?

Das ist eine der Fragen, die David Grubbs‘ neues Album An Optimist Notes The Dusk dem Hörer stellen könnte. Grubbs‘ Sprache ist ein offenes Englisch, frei assoziiert, frei interpretierbar. Und seine Musik ist weitläufig wie die See.

Grubbs nimmt die Gitarre, stellt hin und wieder ein Schlagzeug dazu. Eine Trompete schallt im Einklang mit den Saiten, doch nur für einen kurzen, verhaltenen Moment. David Grubbs‘ Stimme strahlt Wärme aus. Manchmal klingen seine Stücke wie die Abstraktionen eines Seemannsliedes. Die Musik des Titelstücks biegt sich wie im Sturm, so als versuche sie mit aller Macht, Oberwasser zu behalten. Da wird deutlich: Sie hat eine ästhetische und poetische, aber auch eine politische Ebene.

Ist sie das leidige Thema amerikanischer Intelligenzia in der Bush-Ära? Lebt man als Künstler innerhalb einer Gesellschaft oder ist man vielmehr Teil eines globalen Dorfes, bewohnt von Gleichgesinnten? Und wird diese Beschaulichkeit nicht zur Scheinwelt, spätestens wenn man die eigenen Kinder zur Schule bringt?

Aufgewachsen ist David Grubbs in Kentucky, bereits mit vierzehn Jahren erregte er Aufsehen mit seiner Punkband Squirrel Bait. Mit den nachfolgenden Projekten Bastro und Gastr del Sol dekonstruierte er Pop und Rock. Als aus Chicago der Post-Rock hinüberschwappte, war Grubbs einer der wichtigsten Klangarchitekten der Bewegung. Im Jahr 1999 zog er nach New York und wurde Professor für Radio- und Klangkunst. Regelmäßig schrieb er Musikkritiken für die Süddeutsche Zeitung. Sein eigenes Label Blue Chopsticks ist eine Schnittstelle zwischen bildender Kunst, Musik und Literatur.

An Optimist Notes The Dusk wirft viele Fragen auf. Deren Antworten liefert Grubbs nicht. Sie liegen im grauen Nebel, in den uns das letzte Stück der Platte führt. The Not-So-Distant ist eine rein elektronische Komposition, deren synthetische Klänge sich so langsam entwickeln, dass Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen. Zwölf Minuten, die all die menschliche Wärme von Gitarre und Stimme vergessen machen.

„An Optimist Notes The Dusk“ von David Grubbs ist auf CD und LP bei Drag City/Rough Trade erschienen.

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