Lesezeichen
 

So klingt der Wahnsinn

Alle paar Sekunden eine neue Idee, ein Tempowechsel: Of Montreals neues Album „Skeletal Lamping“ ist ein Fiebertraum der unterhaltsamen Sorte

Kevin Barnes hat eine blühende Phantasie. Er ist der Sänger und kreative Kopf der Band Of Montreal – wie sein Wahnsinn klingt, ist auf deren neuem Album Skeletal Lamping zu hören.

Das geht so: Alle paar Sekunden eine neue Idee, alle paar Sekunden ein Tempowechsel. Zu Beginn des ersten Stücks Nonpareil Of Favor überschlägt sich ein Spinett, kaum hat man bis fünf gezählt setzt ein trockenes Schlagzeug ein Kevin Barnes singt, als gelte es, den überkandidelten Pop der Sparks zu imitieren. Etliche Ausfallschritte später versinkt alles im Gitarrengewitter. Es sind kaum sechs Minuten vergangen, da hat man den Eindruck, schon mindestens vier verschiedene Lieder gehört zu haben.

Und so geht es weiter. Da trifft Funk auf Yellow Submarine und Gitarrengeschrammel auf Saturday Night Fever. So klänge wohl Vaudeville-Theater im Spielparadies eines Möbelmarktes am verkaufsoffenen Sonntag. Oder die Musical-Version von Alice im Wunderland. Die sechs Musiker aus – von wegen Montreal – Athens, Georgia zelebrieren eine knappe Stunde lang hysterisch den Wahnwitz – und sehen dabei aus, als parodierten sie den Glamrock der Siebziger. Das ist wohl Ironie.

Ironie lässt sich in den Texten und Titeln der Band schon immer reichlich finden. Eines ihrer früheren Lieder hieß – in Anlehnung an Velvet Undergrounds Venus In FursVegan In Furs. In einem anderen erzählt Kevin Barnes davon, was er mit dem besten Freund anstellen würde, wäre er doch bloß ein Mädchen. Auf Skeletal Lamping indes dreht sich fast alles um Sex – und das recht explizit. Ein Fiebertraum der unterhaltsamen Sorte.

Kevin Barnes will irritieren. Auf seiner Internetseite ist zu lesen, er habe ein unvorhersehbares und schwieriges Album machen wollen. Er habe die übliche Wahrnehmung eines Popalbums demontieren wollen. Dabei ist Skeletal Lamping doch reinster Pop. Man kann es wie eine einzige lange Komposition hören. Oder wie eine Kollektion von 15 Popliedern. Oder wie die Aneinanderreihung tausender Klangfragmente.

Bleibt der Albumtitel: Lamping ist eine besonders brutale Art des nächtlichen Jagens. Dabei wird ein Jagdgebiet mit Licht geflutet und die in Panik versetzten Tiere niedergeschossen oder eingefangen. Er habe bei der Wahl des Titels an seine inneren Dämonen gedacht, sagt Kevin Barnes. Er wisse bloß noch nicht, ob er sie niederschießen oder einfangen solle.

„Skeletal Lamping“ von Of Montreal ist auf CD und LP bei Polyvinyl/Cargo Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Antony & The Johnsons: „Another World“ (Rough Trade/Indigo 2008)
The Cure: „4:13 Dream“ (Geffen/Universal)
Tindersticks: „I“ (This Way Up 1993)
Brian Wilson: „That Lucky Old Sun“ (Capitol/EMI 2008)
Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (Caribou 1977/Sony BMG 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Zuckerli und große Kunst

Der Brite Antony Hegarty lieh dem Tanzprojekt Hercules & Love Affair seine androgyne Stimme. Sein neues Mini-Album macht Lust auf die Platte, die im Januar erscheinen soll

Antony Hegartys Stimme steht für sich. Schutzlos wirkt sie, abgetrennt von der Welt. Voller Ausdruck und Gefühl singt er im Grunde nur für sich selbst. Antony Hegarty klingt, als wäre er der letzte Mensch auf Erden.

Dieses Gefühl vermittelte er auf seinem Album I Am A Bird Now, mit dem ihm 2005 weltweit der Durchbruch gelang. Damals kämpfte er gegen Bloc Party, die Kaiser Chiefs und Coldplay um den renommierten englischen Mercury Prize für das beste Album des Jahres – und gewann. Während die Konkurrenz mit den Fans kuschelte, bestand Antony Hegarty auf seiner Einzigartigkeit als Künstler.

In seinen tieftraurigen Stücken besang der in New York lebende Brite seine Metamorphosen, seinen ewigen Wunsch, als Frau aufzuwachen. Er sang vom Begehren, vom Vergeben, von Schuldgefühlen und Angst. Hegarty begleitete sich selbst mit ausdrucksstarkem Klavierspiel, seine zurückhaltende Band The Johnsons steuerte Schlagzeug und Bass bei. Nur hin und wieder brach ein wuchtiger Geigenchor durch die Wolken. Diese androgyne, zittrige Stimme berührte und schmerzte dem Hörer. Die Texte rührten an einen urmenschlichen Kern. Und es gelang Hegarty, komplizierte Gender-Themen der Öffentlichkeit nachvollziehbar zu machen.

Dieser Blick zurück ist nötig, um das neue Minialbum von Antony & The Johnsons, Another World, einzuordnen. Denn in den vergangenen zwei Jahren war Hegarty vor allem in zahlreichen Kollaborationen zu hören, er sang mit Björk und Leonard Cohen und lieh dem Discoprojekt Hercules & Love Affair seine Stimme. Er setzte sich neuen Einflüssen aus. Sind diese auf den fünf Stücken von Another World zu hören?

“I need another world / This one’s nearly gone“, erklingt seine Stimme gleich zu Beginn im Titelstück, untermalt von sanftem Klavier und schräger Flöte. Das Lied klingt reduziert und vertraut. Auch das folgende Shake The Devil ist skizzenhaft – und bricht doch mit den Erwartungen: Nach einer minutenlangen Einleitung spielt ein Saxofon den Blues, ein aufgeräumtes Schlagzeug gibt den Takt an. Und plötzlich klingt Antony Hegarty fast enthusiastisch und kraftvoll. Aus seinen Worten sprechen Tatkraft und – kaum zu glauben – Hoffnung. Gospel und Rhythm’n’Blues erklingen. Doch wer seine Stimme hört, vergisst, dass man Musik bisweilen nach Genres sortiert.

Im Gegensatz zu I Am A Bird Now erhält Hegarty auf Another World eine gleichmäßige Spannung. Es gibt keine furiose Epiphanie, keinen Ausbruch. Manches klingt unfertig, nicht alle Stücke sind überzeugend. Another World klingt also wie genau das Zuckerli, das es sein soll: Es erinnert die Musikwelt an den großen Künstler Hegarty und bereitet sie auf sein drittes Album vor, das Anfang 2009 erscheint.

Und letztlich ist man ja um jeden Ton froh, den Antony Hegarty in die Welt schickt. Vielleicht ist er doch nicht der letzte Mensch auf Erden.

„Another World“ von Antony & The Johnsons ist auf CD und LP bei Rough Trade/Indigo erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
The Cure: „4:13 Dream“ (Geffen/Universal)
Tindersticks: „I“ (This Way Up 1993)
Brian Wilson: „That Lucky Old Sun“ (Capitol/EMI 2008)
Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (Caribou 1977/Sony BMG 2008)
„Monkey – Journey To The West“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Zäh wie Bitumen

Vielleicht hätten The Cure auf ihr 13. Album verzichten sollen. Außer großer Zahlensymbolik hat es nicht viel zu bieten.

Der dunkle Zauber warf seinen Schatten voraus: Ende vergangenen Jahres verkündeten The Cure, dreißig neue Lieder aufgenommen zu haben. Am 13. September 2008 solle das 13. Album der Band erscheinen. Vier Monate im Voraus begann die Gruppe damit, jeweils eine Single mit zwei neuen Stücken zu veröffentlichen. Die Lieder – angefangen mit The Only One im Mai – erschienen jeweils am Monatsdreizehnten.

Selbst als die Veröffentlichung des Albums um sechs Wochen verschoben wurde, folgten The Cure einem Notfallplan, der die Symbolik der 13 aufrechterhielt: Sie veröffentlichten ein Minialbum mit fünf Remixen der Singles. Vier mal zwei plus fünf? Genau, 13. Das Album heißt – für alle, die es ganz explizit wollen – 4:13 Dream, es sind 13 Stücke drauf. Wozu diese überbetonte Symbolik? Sind die Lieder so schwach?

4:13 Dream ist ein zerrissenes Album. The Cure wildern in ihrer eigenen Vergangenheit. Underneath The Stars ist aus dem selben Garn gewebt wie der düstere Klangteppich Disintegration, nur ein bisschen ausgewaschen. The Only One und The Perfect Boy sind fröhliche Poplieder, wie die Band sie Mitte der Achtziger sang. Sirensong erinnert an Wish und Sleep When I’m Dead hätte auf Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me nicht gestört, Freakshow ist ähnlich exzentrisch wie viele Stücke auf dem schlechten Wild Mood Swings.

Nur: Die zitierten Werke waren stark innerhalb der stimmungsvollen Dramaturgie der jeweiligen Alben. 4:13 Dream hingegen klingt wie ein Gemischtwarenladen.

Die Zerrissenheit wäre vielleicht sogar unerheblich – oder zumindest weniger auffällig – wenn die Lieder nicht so belanglos wären. Stücke wie It’s Over und Switch mühen sich redlich, nach The Cure zu klingen, haben melodiös aber kaum etwas zu bieten.

Auf früheren Alben ist es der Band so oft gelungen, der Schwere eine betörend leichte Melodie entgegenzusetzen, da durchbrach ein Kieksen Robert Smiths weinerlichen Tonfall. Nun hört man, wie The Cure versuchen, Schwermut und Schmunzeln in die Waage zu bringen – und wie es immer wieder misslingt. Vor allem, wenn Porl Thompson eine Schippe grobes Gitarrenkorn auflegt, ist die Einfallslosigkeit frappant!

Besser sind die Lieder, in denen die Band behutsam zu Werke geht. In The Only One etwa. Es überragt alle anderen Stücke und ist das einzig richtig gute. Zwei, drei andere Lieder sind immerhin in Ordnung. Größere Inseln im aufgewühlten Meer des Gitarrenkreischens gibt es leider nicht.

Manches Stück – etwa Sleep When I’m Dead – wäre wohl gar nicht so unerträglich, wenn das Album ordentlich produziert wäre. 4:13 Dream klingt furchtbar breiig – wie schon die letzten drei Alben der Band. Vor allem dem Bass fehlt der pointierte Plopp, zäh wie Bitumen breitet sich sein dumpfes Grollen über allem aus.

Vielleicht sind die Ohren des Herrn Smith einfach schlecht geworden über die Jahre? Er ist ja auch schon beinahe 50 und ließ seine Trommelfelle an unzähligen Abenden vom eigenen Krach durchwalken. Es heißt, er betrachte die Band als seinen Besitz, er habe auch auch diesmal an den Reglern gedreht, gemeinsam mit dem Hitparadenfüller Keith Uddin.

Im Volksmund ist die 13 das „Dutzend des Teufels“, in vielen Hochhäusern gibt es keinen 13. Stock. In Flugzeugen folgt Reihe 14 auf Reihe 12, selbst die Angst vor der 13 hat einen Namen: Triskaidekaphobie. Vielleicht hätten auch The Cure auf ihr 13. Album verzichten sollen? Noch vor seinem 50. Geburtstag am 21. April 2009 solle das 14. erscheinen, kündigte Robert Smith bereits an.

„4:13 Dream“ von The Cure ist auf CD und LP bei Geffen/Universal erschienen.

Hier geht’s zur klingenden Diskografie aller bisherigen Alben von The Cure »

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Tindersticks: „I“ (This Way Up 1993)
Brian Wilson: „That Lucky Old Sun“ (Capitol/EMI 2008)
Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (Caribou 1977/Sony BMG 2008)
Leila: „Blood, Looms, And Blooms“ (Warp/Rough Trade 2008)
„Monkey – Journey To The West“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Whiskey zu Wasser

Über die Jahre (44): Das Debütalbum der Tindersticks bewies es im Jahr 1993 ein für allemal: Die unglücklichen Menschen schreiben die aufregendsten Lieder

Im Sommer 1992 packen die erfolglosen Musiker Stuart Staples und David Boulter ihre Habseligkeiten in einen Ford Transit und verlassen Nottingham. Sie steuern die M1 hinunter nach London. Mit einigen alten und einigen neuen Freunden mieten sie ein Haus im Stadtteil Kilburn, in der Küche richten sie ein Studio ein.

Nach der Arbeit und an Feiertagen schreiben sie Lieder und spielen sie in ein altes Aufnahmegerät. Zwei Stücke pressen sie auf eine Single und veröffentlichen sie unter dem Namen Tindersticks. Kurz darauf mieten sie ein Studio und nehmen 23 Stücke auf, das winzige Label This Way Up zahlt die Rechnung. Das Debütalbum der Tindersticks erscheint dort im Herbst 1993. Eine dürre Frau im rotwallenden Kleid ziert die Hülle, sie tanzt.

Die unglücklichen Menschen schreiben die besten Lieder. Die Tindersticks scheinen damals sehr unglücklich gewesen zu sein. Wie schwere Regentropfen auf Kopfsteinpflaster plumpsen die Klaviertöne in eine kuschelige Orgeldecke, verwunschene Klöppeleien auf dem Vibrafon wirbeln wie aufgeschlagene Daunen durch den Raum. Der Schlagzeuger kämpft gegen den Sekundenschlaf, der Gitarrist hat vergessen, sein Instrument zu stimmen. Über all das legt sich die Stimme von Stuart Staples. Doch von vorn:

Mit Nectar beginnt die Platte, das lullt sich ins Ohr. Bis der Sänger erklingt, verheißt das Stück Fröhlichkeit, die Gitarre jauchzt, die Schellen hüpfen. Nach – Moment – elf Sekunden erhebt Stuart Staples seine Stimme, oder besser: er versenkt sie. So tief, so zart, so unsicher klingt er. Er lässt sich nass regnen, die Daunen kleben an ihm. Nur im Refrain reißen die Streicher nach oben aus. Das folgende Tyed schleppt sich, steigert sich, vereint schräge Streicher und schrille Trompeten in schließlich überraschender Harmonie, steigt immer weiter an, fällt plötzlich ab und endet in einem See aus Klang.

Tyed ist ein Spiegel der ganzen Platte. „Turn my whiskey into water“, singt Staples und schenkt großzügig von beidem ein, Whiskey und Wasser. Die Tindersticks wägen nicht ab, immer wollen sie alles zur selben Zeit: Tempo und Langsamkeit, Geduld, Behutsamkeit und aufreibende Hektik, Harmonie und schräge Töne, ja, Harmonie aus schrägen Tönen. Sie orchestrieren das Chaos. Auf die schwermütige Grundierung tragen sie mit euphorischem Pinselstrich tausend Farben auf, sie wirbeln im Affekt.

In den seltenen Momenten der Ruhe wartet der Hörer ungeduldig auf den nächsten Ausbruch. Stuart Staples erzählt derweil von einem Dutzend gescheiterter Beziehungen, immer wieder von Neuem klagt er sein Leid: „Was there once something so pure that left me whole and precious? But now, broken, wondering. Everything I crave I become, everything I left forgotten, everything I love I become. Cos that’s what happens when you reach the bottom.“ Puh.

Das Album folgt einer genialen Dramaturgie. Nach einer Stunde kulminiert es in Her. Einem enervierenden Gitarrengedaddel folgt ein zweieinhalbminütiger Vulkanausbruch. Alles klagt, die Stimme, die Instrumente, und doch ist da eine Kraft, die Pompeji glatt ein zweites Mal verschütten könnte.

Die Tragik eines ganzen Lebens strahlt hier in einem einzigen Lied. Ein Zittern, dann greift Stuart Staples tief in die Textkiste des Existenzialisten: „Scared of my shadow, afraid of myself. Never thought I could be so shallow, resort to playing a man.“ Mariachi-Bläser verlegen das Drama nach Guadalajara, eine atonal schrillende Gitarre zerrt die Geschichte zurück nach England.

Ein kurzes Durchatmen, dann bäumt die Band sich wieder auf. Drunk Tank entfesselt einen Sturm, erst jetzt sind wir über den Berg. Ein ganzes Orchester vermag man zu hören, es schallt von überall. Was soll nun noch kommen? Die gelungene Abwicklung: Paco De Renaldo’s Dream ist chaotisch, zu monotonen Folgen des Klaviers erzählt Stuart Staples einen Traum, zum ersten Mal mit sicherer Stimme. Und The Not Knowing ist der Epilog, verträumte Oboen und Klarinetten lösen die Spannung. „The not knowing is easy“, singt Staples.

So prätentiös es klingen mag: Dieser Platte muss man Raum schaffen, ihre ganze Größe entfaltet sie bei einem Glas Rotwein im Kerzenschein. Schön waren die Tindersticks auch später noch, auch euphorisch, traurig und kraftvoll. Aber nie wieder klang das alles so zusammen wie auf dieser ersten Platte, der mit der dürren Tänzerin.

Das unbetitelte Debütalbum der Tindersticks ist im Jahr 1993 auf CD und Doppel-LP bei This Way Up erschienen und im Jahr 2004 auf Doppel-CD bei Island/Universal wiederveröffentlicht worden – erweitert um zwölf der in der WG-Küche entstandenen Demoaufnahmen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(43) The Sisters Of Mercy: „First And Last And Always“ (1985)
(42) Wareika Hill Sounds: „s/t“ (2007)
(41) Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (1977)
(40) Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA/Sony 1981)
(39) GAS: „Nah und Fern“ (Kompakt/Rough Trade 2008)

Eine vollständige Liste der bisher in dieser Rubrik besprochenen Platten finden Sie hier.

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Endlich wieder Sauerstoff im Hirn

Vordergründig handelt „That Lucky Old Sun“ von Los Angeles, in Wirklichkeit aber von Brian Wilson. Zu den beschwingten Tönen seiner frühen Surf-Hymnen verarbeitet der ehemalige Beach Boy seine Enttäuschungen

Brian Wilson hatte eine ganze Menge zu verarbeiten, immer wieder knabberte er in den vergangenen zehn Jahren an den Themen seiner Vergangenheit. So brachte er das mit den Beach Boys im Jahr 1966 eingespielte Meisterwerk Pet Sounds auf die Bühne. Und vollendete das im Jahr 1967 unter traumatischen Umständen abgebrochene Konzeptalbum Smile. Auch sein neues Album That Lucky Old Sun legt die Spur in die Sechziger, zu den unbeschwerten Surf-Hymnen der Beach Boys in der Zeit vor Pet Sounds.

That Lucky Old Sun belebt den kalifornischen Traum. Die Lieder handeln von der gleißenden Sonne, den endlosen Stränden, vom Surfen, schnellen Autos und schönen Mädchen. Das Wilson diese Erzählungen fortsetzt, ist erstaunlich. Schließlich lebte – abgesehen von Dennis Wilson – keiner der Beach Boys in der Welt, von der sie erzählten. Die Brüder und Vettern waren arme Hinterwäldler aus einer dysfunktionalen Familie. Und der Traum war purer Eskapismus, eine offensichtliche Hollywood-Konfektion, die das musikalische Genie Wilson in den schönsten Farben ausmalte.

That Lucky Old Sun ist ein Konzeptalbum über Los Angeles. Kurze Erzählungen über die Stadt verbinden die Stücke. Brian Wilson hat sie mit Van Dyke Parks geschrieben, der stand ihm schon bei Smile zur Seite. Schon immer braucht Wilson einen Helfer, jemanden, der seine Gedanken in die richtigen Worte packt. Diese kurzen Geschichten vermitteln immerhin eine Ahnung der Kehrseite des kalifornischen Traums. Dem Ständchen an das Surfer Girl, das er bereits vor 45 Jahren besang, lässt er Zweideutiges folgen: „Venice Beach is poppin‘ / Like live shrimp dropped on a hot wok / Hucksters, hustlers and hawkers / Set up their boardwalk shops / Home for all the homeless, hopeless / Well heeled and deranged / Still nothing here seems out of place or strange.“

Um die Erzählungen herum komponierte Brian Wilson sonnige Lieder, die er gemeinsam mit seinem Keyboarder Scott Bennett betextete. In Morning Beat besingt Wilson den Rhythmus der Stadt in einer Suite aus pumpender Orgel, röhrendem Saxofon, Kastagnetten und Harmoniegesängen. Auch Good Kind Of Love klingt unbeschwert, Wilson spielt eine muntere Melodie auf seinem Piano, im Hintergrund wirbeln Streicher. Fort mit den Lastern, her mit der Melodie! Sorglos pflanzt er simplen Popliedern harmonische Raffinesse ein, das verleiht seinen eingängigen Melodien Langlebigkeit. Wie damals bei den Beach Boys: Man mag ihnen immer und immer wieder zuhören.

In der zweiten Hälfte der Platte wird offensichtlich, dass That Lucky Old Sun auch als Autobiografie Brian Wilsons verstanden werden muss. Und als Versuch der Befreiung von den Geistern, die ihn trieben. In Oxygen To The Brain beklagt er „I cried a million tears / I wasted a lot of years / Life was so dead, life was so dead.“ Im albernen Refrain schließlich jubiliert er, nun endlich gelange wieder Sauerstoff in sein Hirn. Deutlicher könnte der Hinweis auf die Jahre der Depression nach dem Abbruch der Arbeiten zu Smile nicht sein.

Midnight’s Another Day nimmt Bezug auf das Wirrwarr aus Drogen und Ambitionen, das die Beach Boys seit den Aufnahmen zu Pet Sounds begleitete. Wilson berichtet, wie er sich damals immer weiter in seine eigene Welt zurückgezogen hatte: „Swept away in a brainstorm / Chapters missing, pages torn / Waited too long to feel the warmth / I had to chase the sun.“ Es ist das einzige Stück, das direkt an die nachdenkliche Stimmung von Pet Sounds anknüpft. Sein Gesang klingt zerbrechlich, die Harmonie-Gesänge umschmeicheln seine Stimme.

Southern California fasst schließlich die himmlischen Harmonien und Träume noch einmal zusammen: „I had this dream / Singin‘ with my brothers / In harmony, supporting each other // Love songs, pretty girls – didn’t want it to end / Tried to slow down the motion, so it could move us again.“ Spätestens hier wird klar, dass es in That Lucky Old Sun vor allem um eines geht: Brian Wilson hat die kalifornische Sonne wieder gefunden. Er singt nicht vom Strand, sondern von seinem Traum des Strandes. Er verarbeitet seine Vergangenheit in wohlgeformten Harmonien. Schön, dass es ihm besser geht.

„That Lucky Old Sun“ von Brian Wilson ist auf CD und LP bei Capitol/EMI erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (Caribou 1977/Sony BMG 2008)
Leila: „Blood, Looms, And Blooms“ (Warp/Rough Trade 2008)
„Monkey – Journey To The West“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)
The Dodos: „Visiter“ (Wichita/Cooperative/Universal 2008)
Primal Scream: „Beautiful Future“ (B-Unique/Warner 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Ein Engel fällt vom Surfbrett

Über die Jahre (41): Dennis Wilson spielte Schlagzeug bei den Beach Boys. Ende der Siebziger löste er sich mit dem Solo-Album „Pacific Ocean Blue“ aus dem Schatten seines genialen Bruders Brian

Dennis Wilson erzählte seinem Bruder Brian oft vom Strand, wenn sie gemeinsam in ihrem Zimmer saßen. Brian hörte gut zu und schrieb seiner Band kleine Lieder über Wellen, Autorennen zum Hamburgerstand und Mädchen im Bikini. Die Brüder spielten bei den Beach Boys, ohne Dennis‘ Erzählungen hätten deren Miniatur-Symphonien wohl von etwas anderem gehandelt. Er könne nicht verstehen, weshalb nicht jeder am Ozean leben wolle, sagte Dennis Wilson einmal. Wenn sein Bruder sang „Catch a wave and you’re sitting on top of the world“, dann wusste nur Dennis Wilson, was gemeint war. Er war der einzige Beach Boy, der surfen konnte. Ohne ihn wären die Strandjungs einfache Jungs geblieben.

Dennis Wilsons Schlagzeugspiel prägte den Klang der Band, als Sänger blieb er im Hintergrund. Während die glockenhellen Stimmen seiner Brüder Brian und Carl sich in komplexe Harmonien verschränkten, brummte Dennis kaum vernehmbar. Er fiel auch sonst aus der Reihe: Verkörperte der Rest der Band das amerikanische Ideal netter Jungs, trat Dennis als unangepasster Surfertyp mit Herz auf. Er war das Sexsymbol der Beach Boys. Ende der sechziger Jahre schrieb er der Band seine ersten Lieder. Gegen das Genie seines Bruders Brian konnte er nicht ankommen, dennoch waren Dennis‘ gefühlvolle Stücke Forever und Little Bird sehr beliebt. Als die Beach Boys im konventionellen Oldie-Karussell endeten, ragten einzig seine Lieder heraus.

Brian Wilson verabschiedete sich langsam aus der Realität, und auch Dennis kämpfte mit dem südkalifornischen Irrsinn: Seine Stimme ruinierte er mit Alkohol, er häufte Spielschulden an und quartierte Charles Mansons Clique bei sich ein. Während mancher Konzerte der Beach Boys rannte er nackt über die Bühne. In dieser Zeit begann er, die Lieder seines Solo-Albums zu schreiben. Ideen trug er zuhauf mit sich herum, Schmerz und Verzweiflung sowieso. Im Jahr 1977 nahm Dennis Wilson sie mit einigen der besten Studiomusiker der Westküste auf.

Pacific Ocean Blue ist eine Platte nackter Emotionen, sie hat nichts gemein mit den harmlosen Strandspielen der Beach Boys. Das Meer ist Wilson nicht mehr bloße Kulisse. Der Ozean trägt den Surfer nicht, er verschlingt ihn. Wilsons Sehnsucht, in den Wellen zu versinken, schwingt in den Stücken mit. Schon mit dem ersten Lied River Song lässt Wilson die Wellen über sich zusammenschlagen. Majestätische Gospelchöre, ein donnernder Klavierlauf, orchestrale Synthesizer: Sündhaft überladen schraubt sich die genialische Studiomucke ineinander. Nur Dennis Wilsons raue Stimme stellt sich dem kalifornischen Breitwandklang der Siebziger entgegen. Am Ende singt er „You have got to run away“ – weder schwingen sich Engelschöre auf, noch packt ihn die rettende Hand des Bruders beim Schopf. Auf Pacific Ocean Blue ist Dennis Wilson mit seiner vom Alkohol und der puren Lebenslust geschundenen Stimme ganz allein. Wie eine verrostete Boje ragt diese Stimme aus den Fluten von Klavieren, Streichern und Bläsern.

Das Morbide durchweht diese Platte, es berührt selbst strahlende Liebeslieder wie You And I und Rainbows. Und Wilson versammelt Bruchstücke: Kaum ein Stück ist zu Ende komponiert, immer wieder fließen neue Ideen ein, immer wieder bricht er eine Melodie ab, um einem weiteren Einfall Platz zu machen. Man scheint dem Engel bei seinem Fall zuzusehen. Dann erhebt sich eine Ballade wie Thoughts Of You mit solch friedvoller Klarheit, dass man glaubt, der alte Surfer packe es noch.

Doch bald kriecht über den Dünen die Dunkelheit heran. Der Hamburgerstand ist längst geschlossen, die Mädchen sind nach Hause gegangen. Wilson weint ihnen nach: „Farewell / You take the high road / I’ll take the low“, singt er. Er ist der bärtige Streuner, der es nicht geschafft hat. Er lungert die Nacht über am Strand herum, getrieben von der Sehnsucht, einfach in der blauen Tiefe zu verschwinden.

Wilson kämpft um jeden großen Moment, legt seine Traurigkeit dar und schreckt vorm Kitsch nicht zurück. Diese Hingabe macht Pacific Ocean Blue zu einem Meisterwerk. Der Erfolg blieb ihm versagt. Sein nächstes Album Bambu sollte noch deutlicher von der Selbstzerstörung zeugen. Die Platte konnte nicht fertig gestellt werden, denn im Dezember 1983 ertrank er beim Tauchen in einer Bucht bei Los Angeles. Das Meer hatte ihn wieder.

„Pacific Ocean Blue“ von Dennis Wilson ist im Jahr 1977 bei Caribou erschienen. Im Jahr 2008 wurde das Album zusammen mit den unfertigen Aufnahmen zu „Bambu“ als Doppel-CD bei Sony BMG wiederveröffentlicht.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(40) Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA/Sony 1981)
(39) GAS: „Nah und Fern“ (Kompakt/Rough Trade 2008)
(38) Liquid Liquid: „Slip In And Out Of Phenomenon“ (2008)
(37) Nick Drake: „Fruit Tree“ (1979)
(36) The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (1965)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Im Walzertakt durchs Mondgedöns

Die in London lebende Iranerin Leila Arab schert sich nicht um Moden. Ihr Album „Blood, Looms And Blooms“ ist ein surrealer Ritt durch den Märchenwald.

Leila

Es zischt und kracht in Leila Arabs Laboratorium. In Reagenzgläsern sind die Zutaten ihres musikalischen Gebräus, stehen in einem alten Holzkasten an der Wand und sind miteinander verkabelt. Wie eine Klang-Alchemistin geht sie zu Werke, detailverliebt mischt sie eine Prise von diesem und jenem hinein.

Im Jahr 1998 hängte sie ihre Beschäftigung als Keyboarderin bei Björk und Galliano an den Nagel. Fortan nahm sie als Leila eigene Platten auf. Die große Zeit des TripHop war schon ein Weilchen vorbei, Disco-House dominierte die Tanzböden. Doch Leila scherte sich nicht um Moden: Sie veröffentlichte ein Album voller sperriger Miniaturen, die psychedelische Musik auf Like Weather konnte man durchaus TripHop nennen.

Nach ihrem zweiten Album Courtesy Of Choice war Funkstille. Die Trauer um ihre kurz nacheinander verstorbenen Eltern lähmte Leilas Kreativiät sieben Jahre lang. Ab und an arbeitete sie noch als Mischerin für Björk und als DJane, doch erst im vergangenen Jahr konnte sie wieder Musik aufnehmen. Ihr drittes Album Blood, Looms And Blooms erscheint nun.

Auf der Hülle inszeniert sich Leila als entschlossenes, kleines Mädchen und geht mit dem Bonanza-Fahrrad auf Mondfahrt. Durch einen verwunschenen Märchenwald saust sie, dort wuchern Elektronenröhren und anderes Gedöns. So surreal geht es auch musikalisch zu.

In dem Stück Little Acorns klingt das nach verspieltem Dancehall-Pop mit Kinderstimmen. Oder, höre Carplos, nach Filmmusik der frühen Achtziger, nach den bedrückenden Kompositionen John Carpenters. Seaming, eine Sängerin aus Manchester, hüpft in The Exotics durch die Oktaven, als gelte es Yma Sumac die Referenz zu erweisen, der großen Dame der Exotica.

Leila selbst singt nicht, sie lässt singen. Neben dem ehemaligen Sänger der Ska-Band The Specials Terry Hall tritt Martina Topley-Bird ans Mikrofon. Und auch Leilas Schwester kommt zu Wort: Roya Arab singt Daisies, Cats And Spacemen zu einer Habanera.

Da sind Walzer, südamerikanisch anmutende Klavierstücke, Synthesizer singen wie Delfine. Blood, Looms And Blooms klingt trotz seiner erstaunlichen Ideenvielfalt nicht überfrachtet. Gibt es etwas Schöneres als Musik, die überrascht? Zugänglicher ist Leilas Musik geworden, Tanzhits sucht man noch immer vergebens. Und über die fade Interpretation des Klassikers Norwegian Wood kann man milde hinwegsehen.

Der Vorwurf, dies klinge alles ein wenig überholt und biete musikalisch nicht viel Neues, wird an der selbstbewussten Komponistin abprallen. In ihrer Wundertüte sitzt der Entdeckergeist – und das kleine Mädchen auf seinem altmodischen Fahrrad winkt uns vom Mond zu.

„Blood, Looms And Blooms“ von Leila ist als CD und Doppel-LP bei Warp/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
„Monkey – Journey To The West“ (XL Recordings/Beggars Banquet 2008)
The Dodos: „Visiter“ (Wichita/Cooperative/Universal 2008)
Primal Scream: „Beautiful Future“ (B-Unique/Warner 2008)
Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA 1981)
Martina Topley-Bird: „The Blue God“ (Independiente/Rough Trade 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Verstecken Sie Miss Saigon!

Früher war Damon Albarn Sänger der Band Blur. Heute macht er, was er will. Sein letzter Streich ist die chinesische Oper „Monkey – Journey To The West“, die doch ganz nach Pop klingt.

Monkey Journey To The West

Vier goldenen Regeln sollte der Popstar folgen: Lass, erstens, die Finger von der Weltmusik. Nimm, zweitens, kein Soloalbum auf, es sei denn, du kannst es groß vermarkten. Gründe, drittens, niemals eine Supergruppe. Und bleib, viertens, um Himmels Willen bei deinen Leisten.

In seinem ersten Leben war Damon Albarn Sänger der Band Blur, ein Popstar also. In seinem zweiten Leben bricht er nun die Regeln. Er wagt Ausflüge in die musikalische Ferne, nahm etwa in Mali und Nigeria auf – nie trat er als Gutmensch auf, nie klang das Ergebnis betulich oder gar kolonialistisch. Er zog sich während einer Tour mit Blur ins Hotelzimmer zurück und veröffentlichte hernach Democrazy: Zwei Dutzend glasknochiger Liedfragmente, nachzuhören nur auf Schallplatte. Er gründete mit drei namhaften Musikern die Gruppe The Good, The Bad & The Queen. Statt mit Streit und Skandalen erfreute sie die Öffentlichkeit mit einem fabelhaft gelassenen Album.

Nun bricht er auch die vierte Regel, er wechselt das Fach. Gemeinsam mit dem Zeichner Jamie Hewlett – mit dem er bereits die virtuelle Band Gorillaz ersann – und dem chinesischen Regisseur Chen Shi-Zheng schuf er eine Oper, Monkey – Journey To The West. In den vergangenen zwölf Monaten bestaunten beinahe 100.000 Menschen das Ergebnis in Manchester, Paris und London. Rund einhundert Artisten turnten über die Bühne, begleitet von Hewletts Zeichentrickfilmen. Die Geschichte stammt aus dem 16. Jahrhundert, gesungen wird auf Mandarin. Nun erscheinen 22 der Stücke des Spektakels auf einer CD, die man im Laden zwischen Blur, Gorillaz und Mali Music in der Pop-Abteilung finden wird.

Schon spannend, wie der Kontext die Wahrnehmung verändert. Der Münchner Folk-Musiker Andi Stäbler alias G.Rag etwa nahm gerade mit den Landlergschwistern ein ganzes Album mit Polkas, Landlern und Wirtshausklassikern auf, ungeschliffen aber doch ganz und gar volkstümlich. Das Album erscheint bei dem Indielabel Gutfeeling und wird meist wohlwollend rezensiert, es dürfte auch in dem ein oder anderen des Volkstümlichen unverdächtigen Haushalt laut erklingen.

Oder Alexander Marcus: Seine Mischung aus minimalem Techno und geistlosem Schlager ist dem musikalischen Ausfluss der Flippers nicht fern, dennoch sitzen seine Anhänger nicht in Altersheimen und auf Ohrensesseln, sondern im Hörsaal und auf Designersofas. Bei den Indie-Festivals des Sommers jubelten ihm Massen schräggescheitelter Jugendlicher zu. Die Plattenfirma und seine Stilberater verkaufen Marcus als Indie-Star. So schlucken nun viele die bittere Pille Schlager, ohne mit der Wimper zu zucken. Oder Madlib: Auf mehreren Platen durchmischte der respektierte HipHop-Produzent Klangfetzen aus Bollywood-Filmen mit seinen flirrenden Rhythmen und breiten Basstrommeln. Damit füttern selbst Menschen ihre Autolautsprecher, denen der Anblick von Shahrukh Khan Unwohlsein bereitet.

Und Monkey? Albarn fröhnt einer ganz erstaunlichen Art der Opulenz. Die Gesten sind groß, wie sich das für eine Oper gehört, aber sie erklingen aus analogen Synthesizern, Schlagzeugcomputern und den Ondes Martenot. Oft füllen die überkandidelten Spielhöllen-Klänge der Gorillaz die Zwischenräume. Die meisten Lieder sind kürzer als zwei Minuten, das hält den Überschwang sowieso in Grenzen. Und, das ist entscheidend, Albarn meint seinen Ausflug in die Oper nicht ironisch. Er komponierte die Musik nach einer volkstümlichen chinesischen pentatonischen Skala, und doch trägt jedes Stück seine Handschrift – das gelang ihm bislang bei jedem Projekt. Die Schwere ist seine Sache nicht, überall schwingt eine leichtfüßige Melancholie mit. Auch ohne Bilder klingt Monkey – Journey To The West an vielen Stellen wie ein Popalbum.

Zu welchen Gelegenheiten man so eine Platte hört? Keine Ahnung. Aber man kann sie immerhin neben der Stereoanlage liegen lassen, wenn Freunde kommen. Versuchen Sie das mal mit der CD von Miss Saigon!

„Monkey – Journey To The West“ ist als CD bei XL Recordings/Beggars Banquet erschienen. Eine unfassbar teure Vinyl-Ausgabe ist erhältlich bei The Vinyl Factory

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
The Dodos: „Visiter“ (Wichita/Cooperative/Universal 2008)
Primal Scream: „Beautiful Future“ (B-Unique/Warner 2008)
Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA 1981)
Martina Topley-Bird: „The Blue God“ (Independiente/Rough Trade 2008)
Carla Bruni: „Comme Si De Rien N’Etait“ (Ministry of Sound/Edel 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

New York umarmt die Welt

The Dodos finden eine Balance zwischen Monotonie und Poplied, zwischen Rhythmus und Hymnus. Ihr neues Album „Visiter“ erinnert an das Animal Collective.

The Dodos Visiter

Eine gezupfte akustische Gitarre und ein Banjo umtanzen einander, der Sänger fügt in weichem Timbre eine hymnische Melodie hinzu. Dann haut jemand abrupt in die Saiten, und der Schlagzeuger spielt einen tribalistischen Rhythmus. Das Stück Walking zeigt exemplarisch, wie die Musik der Dodos klingt.

Früher waren The Dodos nur ein Dodo Bird, das Solo-Projekt des Liedermachers Meric Long. Doch schon bald wurde Long die Konzentration auf den einfachen Song mit den autobiografischen Themen zu eng. Also begann er, mit Wiederholungen zu arbeiten. Sein Gitarrenspiel wurde minimalistisch, im Hintergrund liefen Bandschlaufen. Long beschäftigte sich mit westafrikanischen Rhythmen. In dem ehemaligen Metal-Trommler Logan Kroeber fand er schließlich einen Partner, der sowohl brutale Attacken beherrscht wie auch filigrane Perkussionsfiguren.

Dem Reiz der hypnotischen Monotonie sind schon so einige verfallen. Auf ihrem neuen Album Visiter kombinieren The Dodos den Gleichklang mit dem Gespür für die Liedstruktur. Die Introspektion des Sängers kippt von einem Moment auf den nächsten in einen mitreißenden Groove. An anderen Stellen entwickelt sich aus energetischem Gitarrengeschrammel eine beschwingte Melodie. Das erinnert ein wenig an das Animal Collective.

Man kann sich gut vorstellen, wie Long und Kroeber im Konzert davongetragen werden von den monoton hämmernden Elementen ihrer Musik. In anderen Liedern dominieren delikat gezupfte, zirkuläre Gitarrenthemen. In Eyelids ist der Gesang weich und harmonisch, auf Winter klingt er sonor rezitierend, The Season endet mit indianischen Stammesgesängen. Doch Long vertraut nicht allein auf die Wandlungsfähigkeit seiner Stimme, um das Ich-Ich-Ich des Jungen mit der Gitarre hinter sich zu lassen: Es gibt auch einen weiblichen Gegenpart, gesungen von Laura Gibson.

Es ist deutlich spürbar, wie Long und Kroeber ihre Klangwelt ständig erweitern. Auf Jodi verfallen sie in eine psychedelisch rockende Instrumentierung. Das klingt, als wollten sie wenigstens einmal die musikalische Geschichte ihrer Heimatstadt San Francisco erwähnen. Sonst orientieren sie sich eher am New Yorker Minimalismus und addieren hin und wieder ein bisschen Blues und Country. Auf diesem Weg entwickeln The Dodos eine Musik, die die ganze Welt umarmt.

»Visiter« von The Dodos ist als CD und Doppel-LP bei Wichita/Cooperative erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Primal Scream: »Beautiful Future« (B-Unique/Warner 2008)
Klaus Nomi: »Nomi« (RCA 1981)
Spiritualized: »Songs In A&E« (Spaceman/Cooperative/Universal 2008)
Martina Topley-Bird: »The Blue God« (Independiente/Rough Trade 2008)
Carla Bruni: »Comme Si De Rien N’Etait« (Ministry of Sound/Edel 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Da kommt nichts mehr

Bei Primal Scream aus Glasgow wusste man nie, was das nächste Album bringen mochte. Auch mit »Beautiful Future« ist das so, denn solche Ödnis war nun wirklich nicht zu erwarten

Primal Scream Beautiful Future

Es gab eine Zeit, da war es ein besonderes Markenzeichen von Primal Scream, nicht allzu schnell auf den Punkt zu kommen. Denken wir etwa an Burning Wheel, das erste Stück des Albums Vanishing Point: Da hört man zuerst Tabla und eine Sitar, dann einen Windhauch. Eine Basslinie setzt ein, dann ein Blues-Riff, und das Keyboard speit Doors-Psychedelia. Viel später erst kommt ein klassischer Rave-Beat hinzu – und Bobby Gillespie beginnt zu singen. Erst in diesem Moment fängt das Album wirklich an.

Elf Jahre ist das her, heute klingt das ein bisschen anders. Beautiful Future, das Titelstück des neuen Albums von Primal Scream, hat schon nach zwei Sekunden alles über sich verraten. Das Lied ist herrlich simpel, man kann mitsingen, mitklatschen, mittanzen. »Oh, Oh, Beautiful Future«, trällert Gillespie, »Oh, Oh, Beautiful Future«.

Dennoch, Primal Scream wagen wieder einmal das Unerwartete. Von jeher ist das ihre Methode: Immer sprang die Band hin und her zwischen House, Rave, Funk und Blues. Mit Give Out But Don’t Give Up servierten sie Mitte der Neunziger eine Portion scheppernden Retro-Rocks, verquirlten den Klang von Marshall-Türmen mit trötenden Flohmarkt-Keyboards, fusionierten somnambule Tanzrhythmen und wuchtige Blues-Riffs, streiften Dub, Ambient und Trip-Hop. Auf den folgenden Alben dominierten mal introvertierte Elektronika (etwa auf dem bereits angesprochenen Vanishing Point), mal Kreischen und Poltern (etwa auf XTRMTR und Evil Heat). Und nun das: Beautiful Future. Album Nummer neun ist in vielen Momenten purer Pop.

Der Sänger Gillespie hat gemeinsam mit Andrew Innes, Gary Mounfield, Martin Duffy und Darrin Mooney ein Album aufgenommen, auf dem nun tatsächlich das Klavier und die Marimbas zu hören sind, mit denen Abba einst Dancing Queen und SOS einspielten. Unbedarft klingen Primal Scream, gut verdaulich, an manchen Stellen auch ganz schön belanglos. Can’t Go Back etwa erinnert zwar ein wenig an New Order, ist aber gegen die Vorbilder reinster Kaugummi-Pop mit allenfalls durchschnittlichem Refrain. Uptown dagegen mischt originell den Streicher-Soul der Siebziger mit strammen Tanzrhythmen. Dazu nuschelt Gillespie zurückgelehnt.

Doch oft reicht die Aura des Sängers nicht aus, um die Ödnis der Kompositionen zu beleben. Ganz und gar misslungen ist etwa The Glory Of Love, kaum besser das kraftlose Suicide Bomb. Schon nach wenigen Sekunden ahnt man, was da noch kommt: nichts mehr. Im Souterrain der Kreativität zuckt der Zombie Man zu großspurigem Südstaaten-Rock. Man kann es mitgrölen: »Everybody Say: Hey, Hey, Zombie Man! Hey, Hey, Zombie Man!« Oje, Bobby-Man.

Beautiful Future ist langweilig und unentschieden. Zwar klingt es in manchen Momenten frisch, gerade dann, wenn die Band mal nicht das lärmende Rock-Pathos bemüht, sondern sich traut, ihren Pop aufzupolieren. Doch meistens tönt es wie die zusammengemurkste Schnittmenge aus allem, was die Band in den vergangenen zwanzig Jahren veröffentlicht hat. »Popmusik hat nichts mit Originalität zu tun,« erkannte Bobby Gillespie bereits im Jahr 1994. Das trifft bedauerlicherweise auch auf die meisten seiner neuen Lieder zu.

»Beautiful Future« von Primal Scream ist als CD bei B-Unique/Warner erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Klaus Nomi: »Nomi« (RCA 1981)
Spiritualized: »Songs In A&E« (Spaceman/Cooperative/Universal 2008)
Martina Topley-Bird: »The Blue God« (Independiente/Rough Trade 2008)
Carla Bruni: »Comme Si De Rien N’Etait« (Ministry of Sound/Edel 2008)
Sigur Rós: »Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust« (EMI 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik