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Galaktischer Pierrot

Über die Jahre (40): Klaus Nomi aus Essen wurde in New York berühmt. Als gepuderter Poptenor an David Bowies Seite sprang er drei Jahre lang durch die Clubs, bis zu seinem tragischen Ende am 6. August 1983.

Androgyn und android. Sein Gesicht schminkte er weiß, die Lippen schwarz. Ein Roboter mit onduliertem Haar. Klaus Nomis tragische Ruhmesgeschichte dauerte nur wenige Jahre. Vor 25 Jahren starb der deutsche Kontratenor, einsam und verarmt.

Eines der ersten berühmten Aidsopfer, so wird er oft genannt. Bekannt war er in Deutschland kaum, dieser Sänger, der sich anzog, als sei er aus Oskar Schlemmers mechanischem Ballett gesprungen. In New York war das anders. Selbst Rockmusiker erstarrten, wenn er auftrat. Punks begannen zu weinen. Das erzählt man sich immer noch.

Er war plötzlich da.

David Bowie hatte ihn entdeckt. Ähnlich wie Nomi war er gegen Ende der siebziger Jahre im Futurismus hängen geblieben. Bowie sah ihn in einem New Yorker Club: Mit hartem deutschen Akzent sang Nomi von der Kraft der Liebe, der Apokalypse, in Falsett – gekleidet wie Andy Warhols Version der Königin der Nacht. Wie von einem fremden Stern.

Doch er kam bloß aus Immenstadt, einem bayrischen Dorf, zwischen Kempten und Alpsee gelegen. Da hieß er Klaus Sperber. In Essen wuchs er auf. Als er zwölf war, griff seine Mutter versehentlich in seine Karriere ein. Sperber hatte sich eine Elvis-Presley-Platte gekauft. Seine Mutter schleppte ihn zurück zum Geschäft und tauschte das Album um. In eines von Maria Callas. Elvis und Callas, Pop und Oper. Der junge Klaus wollte beides und auf die Bühne. Statistenrollen in Essen, Gesangsausbildung in Berlin – dann kam er an die Deutsche Oper, als Platzanweiser und Fahrstuhlwärter. Singen mochte ihn in Deutschland niemand hören.

In New York erging es ihm zunächst ähnlich. Jedes Theater lehnte ihn ab. So wandte er sich einem Beruf zu, der ähnlich zuckrige Kunstwerke hervor bringt: Er jobbte als Konditor – bis Bowie kam. Es war die Zeit des New Wave, Sperber wurde zu Nomi und trat in der Samstagabendsendung Saturday Night Live auf. In Frischhaltefolie verpackt sang er mit Bowie zusammen. So wurde er berühmt. Rock, Oper, Disco – Nomi ein Anagramm von „Omni“, „alles in einem“. Ein galaktischer Pierrot! Mechanisch sein Tanz, sein Gesang manchmal schauderhaft. In die New Yorker Clubs passte er perfekt.

Die erste Single erschien 1980: Keys Of Life. Das erste Album Nomi folgte, sein zweites und letztes hieß Simple Man. Nomi sang Marlene Dietrichs Falling in Love Again, Henry Purcells Cold Song, er vermischte schrille Arien mit dem Keyboard getriebenen New Wave. Weltraumoper – selten passte dieser Begriff besser. Der deutschen Presse galt er lange als Kuriosität. Thomas Gottschalk lud ihn 1982 ein, in seine Sendung Na sowas.

Ein Jahr später kam die Krankheit. Das Aids-Virus hatte noch keinen Namen, da lag Nomi im Hospital und starb. Mit nur 39 Jahren. Seine Bewunderer kamen nicht ins Krankenhaus, sie hatten Angst, sich anzustecken. Vor drei Jahren verfilmte der Regisseur Andrew Horn eine posthume Würdigung: The Nomi Song. Bis dahin wussten wenige, was er hinter all dem Plastik und Puder verbarg: einen einsamen Menschen voller Lebensangst und Zweifel.

Das Debütalbum von Klaus Nomi ist im Jahr 1981 bei RCA erschienen und heute als CD über Sony BMG erhältlich.

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Streicher in der Notaufnahme

Auf dem neuen Album seiner Band Spiritualized spielt Jason Pierce, was er am besten kann: Vom Folk durchwirkte Poplieder, mal karg, mal überschwänglich. Um ein Haar hätte es »Songs In A&E« nie gegeben.

Spiritualized Songs in A&E

Der Tod spielt irgendwann jedem auf. Warum sollte man ihn dazu noch ermuntern? Death Take Your Fiddle fleht Jason Pierce auf seinem neuen Album Songs in A&E. Tod, nimm endlich deine Fiedel. Und spiel sie, damit es bald ein Ende hat! Spiel mir dein Lied. »Play a song for me.« Ein Chor heult zu diesen Zeilen, eine Gitarre streichelt Folk-Noir-Akkorde, ein schweres Schnaufen gibt den Rhythmus vor und treibt das Lied voran.

Jason Pierce veröffentlicht seine Platten unter dem Namen Spiritualized. Sein sechstes Album ist ein Erfahrungsbericht. Eine doppelseitige Lungenentzündung fesselte ihn monatelang ans Bett, um ein Haar wäre er daran gestorben. Hinter A&E verbergen sich nicht etwa zwei Tonarten, sondern Accidents & Emergency – die Notaufnahme. Kanülen aus knallbuntem Plastik, fotografiert vor einer grauen Wand, zieren das Beiheft. Käufer des Albums können es zu einem Poster entfalten. Und das Schnaufen in Death Take Your Fiddle klingt nach einer Beatmungsmaschine – wenn es auch von einem Akkordeon stammt.

Songs in A&E ist das beste Album von Spiritualized seit einer Dekade. Wie auf Ladies & Gentlemen We’re Floating in Space im Jahr 1997 bringt Jason Pierce sein Können auf den Punkt. Sweet Talk etwa ist ein unvergleichliches Stück Gospel-Folk-Psychedelia – so schmerzvoll wie eine Wunde, die immer wieder aufreißt. Und Soul On Fire ist eine wahrlich überwältigende Pop-Ballade mit Streichern, immer wieder gebrochen durch Pierces fragile Stimme. Wenn er singt »Baby, set my soul on fire / I got two little arms to hold on tight / And I wanna take it higher«, dann klingt das nicht nur wie eine Liebeserklärung an einen Menschen, sondern wie eine an das Leben selbst.

Songs in A&E ist ein asketisches Album. Pierce soll es zum großen Teil auf einer achtzig Jahre alten Gibson-Gitarre geschrieben haben, die er bei einem alten Trödler erstanden hat. Der Musiker behauptet, sie habe ihm magische Kräfte verliehen: Die Stücke seien förmlich aus dem Instrument heraus geflossen. Die Gitarre ist vielseitig. Sie tröstet, sie wärmt, immer wieder klingt sie anders. Pierce verbindet stets seine Liebe zum Störgeräusch, zu blitzender Kakophonie mit seinen Fähigkeiten als Komponist.

Goodnight Goodnight, das versöhnliche Schlummerlied am Ende des Albums, zeigt noch einmal, aus wie wenig Stoff Jason Pierce seine Stücke zu weben versteht. Ein langsames Gitarrenzupfen, dazu der Gesang. Und wir dürfen endlich aufatmen. So sanft, so liebend und lebendig singt niemand, den der fiedelnde Tod erwartet.

»Songs In A&E« von Spiritualized ist als CD und Doppel-LP bei Spaceman/Cooperative/Universal erschienen.

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Wunderbar schattenlos

Martina Topley-Bird war die Muse Trickys. Jetzt bringt sie ihr zweites Album heraus und lässt ihn hinter sich. »The Blue God« klingt wie ein Roadmovie und hat weder Anfang noch Ende.

Martina Topley-Bird The Blue God

Geschichte vergessen und die Gegenwart in den Fokus stellen, um die Musik und nicht die Herkunft zu betrachten? Geht in diesem Fall nicht ganz.

Also kurz: Martina Topley-Bird und Tricky, der TripHop-Produzent aus Bristol, waren mal verliebt und schrieben zusammen Mitte der Neunziger einige richtungsweisende Lieder. Dann trennten sie sich und versuchten es als Solisten, Tricky produzierte immerhin noch ein paar Stücke ihres Debüts Quixotic aus dem Jahre 2003. Das machte die Musik nicht schlechter, doch die Muse hatte es schwer, aus dem Schatten zu treten.

Nun erscheint ihr zweites Album, The Blue God. Der Schatten durfte sich ausruhen, denn als Produzent heuerte Dangermouse an. Vom Regen in die Traufe mag man sich denken, ist der Eine von Gnarls Barkley und Produzent von Beck und den Gorillaz doch ein gefragter Hintermann derzeit. Da ist die Gefahr groß, wieder nur als Stimme zur Musik eines anderen zu gelten.

Dem ist nicht so, so viel sei vorweggenommen. Stimme und Stimmung dominieren das Album und werden in die passenden Klänge gebettet, nicht umgekehrt. Das fängt bei Phoenix an, aufgeräumt und doch verträumt klingt das. Und ein bisschen nach dem versuchten Abschied von der Vergangenheit, Martina Topley-Bird singt von Verwandlung und Wiederholung. Die elektronisch verfremdete Zweitstimme ist eine gelungene musikalische Entsprechung.

Sie hält sich nicht lange damit auf, die Carnies sind in der Stadt – die Schausteller. Es gibt hüpfende Basslinien und leicht melancholische Orgelklänge die auch mancher Soul-Diva gut stünden. Solcher Retro-Pop-Klang, der produktionstechnisch an die Sechziger erinnert, zieht sich unterschwellig durch das ganze Album. Doch die Stimmungen und die musikalischen Bandbreite Topley-Birds gehen weit darüber hinaus. Man ist versucht, das eine oder andere Lied einer bestimmten Ära oder einem Stil zuzuordnen. Hört man aber genauer hin, ist man sich plötzlich nicht mehr sicher. Schließlich hört man nur noch Eigenständigkeit. Something To Say etwa zeigt das schön: Anfangs dominiert ein düsteres, eher elektronisches Grundthema, das dann im Refrain aufbricht und durch verzerrte Gitarren an die Surf-Klänge der Beach Boys erinnert.

Passend zum Titel des Albums mag man sich ein Konzert in einer blau schimmernden Unterwassergrotte vorstellen. Und würde sich Julee Cruise dorthin verirren, bei Baby Blue wäre sie bestens aufgehoben. Das anschließende Shangri La nimmt sich Zeit und wirkt wie der Aufstieg. Hübsche Streicher und ein kaputt klingendes Schlagzeug erzeugen eine Spannung, in der sich der hauchig-fragile Gesang wohlfühlt. Hier klingt Martina Topley-Bird nur nach sich selbst, das macht das Stück zu einem der Höhepunkte des Albums.

Die Single Poison ist unspektakulär eingängig, in Razor Tongue gemahnt sie kurz vor Schluss an ihre Vergangenheit in Bristol. »I’ve changed, you’ve changed«, singt sie und »All the shit fades«. Das sind doch mal Ansagen, an wen auch immer. Das letzte Stück Yesterday schließlich lässt es mit zusammengeschnittenen Klängen und wagemutiger Melancholie fulminant schimmern. An den Kanten des Stücks sind unausgetretene musikalische Pfade auszumachen, denen man gerne folgen möchte.

The Blue God ist wie ein Roadmovie. Das Album hat weder Anfang noch Ende, unterwegs passieren wunderbare Dinge. Sucht man im Internet nach Blue God, findet man tatsächlich eine mythische Figur, die in walisischer Hexentradition die Verkörperung von Jugend und Erotik ist. Oder einfach Vishnu, der im göttlichen Blau der Wolke erstrahlt und sein Leben dem Schutz der Menschen und der Zerstörung des Bösen widmet. Wie schön.

»The Blue God« von Martina Topley-Bird ist bei Independiente/Rough Trade erschienen.

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Was Carla B. alles mit der Hand macht

Chansons mit Geschmacksgarantie, wie man sie bei der Fußpflege hört: Madame Sarkozys neues Album kommt direkt von der Schule für höhere Töchter.

Carla Bruni Comme Si De Rien N’Etait

Sie haben eine Tochter, die später eine Führungsposition in Ihrem Familienunternehmen besetzen soll? Und Sie suchen ein Privatinstitut, das für traditionelle Werte steht, Ihre Tochter mit den gesellschaftlichen Anforderungen vertraut macht, ihr die nötige Parkettsicherheit verleiht und sie auch im musisch-kreativen Bereich fördert? Dann sollten Sie vielleicht gelegentlich mit jemandem reden, der sich mit solchen Dingen auskennt. Mit Carla Bruni etwa – Carla Bruni-Sarkozy, soviel Zeit muss ein.

Allerdings soll sie Schimon Peres unlängst beim Staatsbankett im Elysée-Palast angemessen greisenwitzig verraten haben, dass sie bei Fototerminen statt »Cheese« lieber »Sex« sagt. Oh la la, ein Top-Aufreger für Schwer-Verklemmte, der Bunte und Gala wochenlang in freudige Erregung versetzte – ähnlich wie der graue Mantel mit Lackledergürtel, den Madame Sarkozy kürzlich beim Empfang auf Windsor Castle trug.

Und es kommt noch schlimmer: Auf ihrem gerade erschienenen Album Comme Si De Rien N’était erklimmt Carla Bruni neue, ungeahnte Höhen der Libertinage: Sie singt von dreißig Liebhabern in vierzig nymphomanen Lebensjahren und der wilden Brunst mit ihrem omnipotenten Ehemann (»gefährlicher als kolumbianischer Schnee«), dem französischen Staatspräsidenten und Robocop, der vor nicht allzu langer Zeit angekündigt hat, seinen »Hochdruckreiniger« demnächst auch gegen die ungewaschenen Massen der Pariser Banlieues einzusetzen.

Erfreulicherweise bleiben dies Brunis einzige Ausrutscher auf einem Album, über dem vierzehn Lieder lang die stirnrunzelnde Frage schwebt, warum solch Vorstadt-Gesindel eigentlich nie ein Schweizer Internat besucht hat.

Schließlich geht es auch mit Stil und Niveau. Nach Quelqu’un m’a dit (2002), einer marktgerecht austarierten Kollaboration mit dem Gitarristen Louis Bertignac, und No Promises (2007), der geschmackvollen Vertonung diverser Lyrik von W.H. Auden bis Emily Dickinson, ist Comme Si De Rien N’était ein Triumph neoliberaler Lyzeumserziehung: stets zurückhaltend, nie störend, durchweg dezent, soigniert und kultiviert. Hinter dem rauchigen Timbre steht immer die Gouvernante: Hände aus den Taschen. Und jetzt mach einen Knicks!

Selten hat der diskrete Charme der Bourgeoisie so perfekten Ausdruck gefunden: Aus jedem einzelnen Chanson spricht jene Souveränität, mit der exklusive Eheanbahnungsinstitute für gewöhnlich die Qualitäten künftiger Industriellengattinnen anpreisen. Der intime, handgemachte Charakter der Lieder fügt sich makellos zur erlesenen Schlichtheit des maßgeschneiderten Hosenanzugs, in dem die Bruni auf dem Cover an einem stillen Weiher entlang flaniert.

Comme Si De Rien N’était bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit auf dem Parkett des gehobenen Anspruchs, zwischen den sanft verdrucksten Schlagern einer Françoise Hardy und Milva singt Bert Brecht. Jenen Platten, die hinter dem weißen Ledersofa stehen, auf dem sich die junge Dame im kleinen Schwarzen gerade fragt, wo sie diese sinnlich-warmen Klänge schon mal gehört hat. In Carl-Friedrichs Landhaus in der Provence? Beim Souper im Tour d’Argent? Als sie den Blick nach unten richtet, fällt es ihr wieder ein. Ja, natürlich. Es könnte bei der Pediküre gewesen sein.


Carla Bruni bringt Frankreich in Wallung. Lesen Sie hier den Kommentar von Thomas Groß »

»Comme Si De Rien N’Etait« von Carla Bruni ist bei Ministry of Sound/Edel erschienen.

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Bittersüßes vom Tröster

Ron Sexsmith ist ein Liedermacher mit Hang zum großen Poplied, auch sein neues Album »Exit Strategy Of The Soul« schwelgt in uneitler Eleganz. Solche Platten passen immer: Morgens zum Kaffee, abends zum Rotwein, bei Wolkenbruch wie an Hundstagen.

Exit Strategy Of The Soul Ron Sexsmith

Es gibt sie noch diese Alben, die man tagelang, wochenlang hört. Die im CD-Spieler oder unter der Nadel jammern und um Erlösung flehen: »Bitte nicht noch einmal. Spiel doch mal was anderes!« Doch man kann nicht anders und hört sie wieder. Und wieder. Und wieder. Das war bei jeder der bislang zehn Platten des Kanadiers Ron Sexsmith so. Man konnte sie morgens zum Kaffee hören und abends zum Rotwein, bei Wolkenbruch wie an Hundstagen. Sie funktionierten als Seelentröster und Balsam für die Zipperlein des Alltags.

Ron Sexsmith wurde im Jahr 1964 in Toronto geboren, seit seinem Album Cobblestone Runaway ist er auch in Deutschland bekannt. Vor allem die Freunde der klassischen Liedermacher-Kunst schätzen ihn, die sich gerne im Bittersüßen einigeln und doch Sexsmiths Drang zum großen Pop schätzen. Seine Musik ist etwas für Anhänger von Lambchop, hier perlt die Akustikgitarre, jubeln Streicher, dort klebt süßer Soul-Honig zwischen den Tasten.

Schon auf seinem letzten Album Time Being war das so. Ein bezauberndes Lied zwischen Folk, Country, Soul und Pop folgte dem anderen, alle erhaben und uneitel. Und alle klangen unterschiedlich. „Ich höre sein Album schon ein ganzes Jahr lang, aber es könnten problemlos auch die nächsten zwanzig Jahre sein“, lobte Elvis Costello einmal die Musik Sexsmith’. Und genau das macht ihren Zauber aus. Hat man sie einmal gehört, mag man nicht mehr ohne sie sein.

Auch auf seinem neuen Album Exit Strategy Of The Soul entwickelt Sexsmith seine Stücke vom Klavier aus. Man hört nur einige, sparsam gesetzte Töne, dann ist dieses ganz besondere Gefühl wieder da. Anmutige Schlichtheit und butterweiche Opulenz greifen ineinander, wie man es kennt. Die Stücke sind zeitlos und elegant, manche könnten in den späten Sechzigern entstanden sein und erinnern – auch im Gesang – an Paul McCartney. Fragt man Sexsmith nach den Einflüssen auf seine Musik, dann nennt er gerne zwei andere: Buddy Holly und Ray Davies. Aufführen könnte er auch Elton John, Elvis Costello und Nicolai Dunger. Sexsmith steht ihnen nicht nach.

Nur mit der Opulenz treibt er es an manchen Stellen doch ein wenig zu weit. Er kreuzt seine Kompositionen mit filmmusikalisch anmutendem Orchesterjazz und sämigem Westcoast-Pop, das steht ihnen nicht immer gut zu Gesicht. Und so findet sich auf Exit Strategy Of The Soul bei all seinen hübschen Momenten kein überragendes Stück. Es besitzt nicht die Dichte an potenziellen Lieblingsliedern früherer Alben. Dennoch wird man es tagelang hören. Wochenlang womöglich.

»Exit Strategy Of The Soul« von Ron Sexsmith ist bei Universal Music erschienen.

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Alles Island-Klischees?

Sigur Rós zeigen auf der Hülle ihres neuen Albums ganz ungeniert ihre vier blonden Popos. Sie spielen Musik, die nach Wildbächen, Elfen und freier Liebe klingt. Und manchmal rumpelt es ganz gehörig.

Sigur Ros Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust

Schön ist es im Island von Sigur Rós. Kürzlich luden sie das Publikum mit dem Film Heima ein zu einer Reise über die dünn besiedelte Insel. Die Band spielte ihre getragenen Lieder nicht in großen Hallen sondern in den Häusern der Menschen, auf ihren Weiden, sie traten auf am Fuß eines Gletschers und in einer Ruine.

Vielleicht lag es an den warmen Farben der Bilder, vielleicht an den entspannten Inselbewohnern, dass Heima wirkte wie der heimliche Blick in die Zimmer einer großen Wohngemeinschaft. Isländer lieben nicht die Nation oder den Staat, sie lieben die Natur. Der Film legt nahe, dass das mehr ist als ein Klischee.

Kein Wunder also, dass die Beschreibungen der Musik von Sigur Rós, von Björk und vielen anderen Isländern so leicht abschweifen und die Naturverbundenheit der Lieder ausmalen. Die für mitteleuropäische Ohren unverständliche Sprache und die ungewöhnlichen Schriftzeichen weben das geheimnisvolle Tuch nur dichter.

Ob es ein Spiel mit Stereotypen ist? Von der Hülle des Albums Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust blitzen die vier blonden Popos der Musiker. Natürlich rennen die Jungs von Sigur Rós, weil sie sonst frieren, dort im ewigen Eis Islands. Nur die Leitplanke im Vordergrund stört die Idylle.

Assoziationen an Wildbäche, Elfen, freie Liebe und sphärische Klänge werden wach, das ganze Programm. Doch dann klingt das Album gar nicht wie erwartet. Besonders die ersten beiden Stücke Gobbledigook und Inní Mér Syngur Vitleysingur sind rhythmischer geraten als alle Stücke ihrer bisher vier Langspieler. Beinahe rumpelig geht es zu, alle kloppen gemeinsam auf die Eins. Dann plötzlich bricht der Rhythmus – ist das nun ein Vierviertel- oder ein Dreiviertel-Takt?

Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust ist das erste Album der Band, das außerhalb Islands aufgenommen wurde. Zwei Stücke tragen englische Titel. Ist nun alles anders, ziehen Sigur Rós weg vom Klang Islands zum Klang Englands? Glücklicherweise: Großbritannien interessiert sie nicht mehr als zuvor. Und singen sie da überhaupt englisch? Weder im Lied Festival noch in All Alright ist verständlich, was vorgetragen wird.

Nach den ersten beiden Stücken kommen Sigur Rós ein wenig zur Ruhe. Festival ist eine anfangs typisch sphärische, später kraftvolle Hymne mit viel uuuuhuuuuhuuuu und juuuuhuuuuhuuuu. In dem Stück Við spilum endalaust klingen sie wie Coldplay – und zwar wie Coldplay zu der Zeit, als sie noch nicht nach U2 klangen, U2 aber bereits wie der Papst. (Das ist durchaus ein Lob.) Sigur Rós schwelgen ohne Hall, Kjartan Sveinsson haut eine schnörkellose Melodie in die Tasten, Jón Þór Birgisson schwingt sich im Refrain auf ins Falsett.

Stellenweise klingt das Ganze überladen, kein Wunder, hat doch der Produzent der Platte auch schon im Dienste von U2 und den Smashing Pumpkins Gitarrenschicht um Keyboardschicht auf das Magnetband geschmiert. Wenn der Bass laut brummt, Schlagzeug und Klavier scheppern, die Keyboards säuseln, im Hintergrund eine Gitarre jammert und vier Stimmen die Tonleiter heraufsteigen, braucht es dann auch noch ein Glockenspiel?

Dem Kleister geben sich Sigur Rós zum Glück nur selten hin. Und sie wissen jeweils, dem Dichten mit dem nächsten Stück etwas Karges entgegenzusetzen. Við Spilum Endalaust endet im Fortissimo, das anschließende Festival spendet fünf Minuten Erholung, bevor ein Basslauf einsetzt, dem man stundenlang folgen möchte.

Die zweite Hälfte der Platte klingt wieder ruhiger, getragen und hymnisch, mit viel Klavier und wenig Schlagzeug. Immerhin haben Sigur Rós auch in diesen Stücken an dem Hall gespart, der auf früheren Alben manchmal so störte. Das finale All Alright ist so karg vorgetragen, als sei es ein Schlaflied.

Am Ende steht die Einsicht: Das eigentlich Aufregende an Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust ist die erste Hälfte. Die zweite ist immerhin gewohnt hübsch, entlockt dem Klangkosmos der Band allerdings kaum Neues.

»Með Suð Í Eyrum Við Spilum Endalaust« von Sigur Rós ist als CD bei EMI erschienen.

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Kleiderbürste, kling!

So nah kam F.S. Blumm aus Bremen dem Pop noch nie: Auf „Everybody Loves“ verbindet der Gesang der Schwedin Bobby Baby seine lockeren Gitarrenmuster zu richtigen Liedern.

Everybody Loves Bobby And Blumm

Es gibt Platten, über die möchte man schreiben – aber es ist schon alles geschrieben. Die Musizierenden kleben auf den Magazintiteln, und von Brigitte bis Bravo, von FAZ bis taz tönt einhellige Begeisterung. Meist bleibt rätselhaft, was an dem jeweiligen Popentwurf so besonders sein soll. Eine Behauptung scheint den Schreibern schon als Argument zu reichen. Da kann, da mag man oft nicht mithalten und schweigt.

Es gibt andere Platten, über die schreiben nur Wenige. Die lassen sich nicht als Popsensationen abfeiern, weil die mediale Aufmerksamkeit zu gering ist. Eine Sensation lässt sich schließlich nur ausrufen, wenn (fast) alle einstimmen. Dennoch gleichen sich auch die Abhandlungen über solch unbeachtete Platten. Dominieren im ersten Fall die vermeintlich kräftigen Substantive – Revolution, Sensation, Wunderwerk – so stürzen im zweiten Fall nicht selten Geröllberge von Adjektiven und Spezialwissen auf den Leser ein und nehmen ihm die Lust aufs Hören.

Frank Schültge aus Bremen … weniger sensationell kann ein Satz wohl nicht beginnen. Frank Schültge aus Bremen also streut seit zehn Jahren in kurzen, regelmäßigen Abständen wenig beachtete Töne in die Welt. Meist nennt er sich F.S. Blumm, mit anderen Musikern zusammen auch Kinn. Seine Aufnahmen klingen elektronisch, dabei entstehen sie zumeist akustisch. Diverse Plattenfirmen – viele von ihnen so bescheiden, dass sie sich selbst nie Firma nennen würden – bringen seine Alben und Singles heraus. Manches Magazin schenkt ihm Aufmerksamkeit, die meisten Berichte ergötzen sich an der Schönheit seiner instrumentalen Lieder.

Schön ist seine Musik, oder nicht? Was heißt eigentlich schön? Blumm malt ja keine Bilder*, die man sich an die Wand hängt, die man betrachtet und die aus ihrer Kunstfertigkeit heraus Wohlempfinden spenden. Musik findet man schön, wie man Menschen nett findet. Schöne Musik läuft nebenher und stört niemanden. Blumm musiziert detailreich und behutsam. Seine Musik ist nicht schön, sie braucht Aufmerksamkeit.

In letzter Zeit musiziert er gern mit anderen. Eine Platte nahm er mit dem Trompeter Luca Fadda auf, ein Minialbum mit der Französin Anne Laplantine. Seine Zusammenarbeit mit der Schwedin Bobby Baby alias Ellinor Blixt dokumentiert nun das Album Everybody Loves, erschienen unter dem Namen Bobby & Blumm.

So nah wie hier kam er dem Pop noch nie. Ellinor Blixt besingt die Lieder mit ruhiger Stimme, manchmal singt er ein paar Zeilen mit. Ihre Linien verbinden Blumms lockere Muster zu richtigen Liedern. Meist spielt er Gitarre, mal ein Xylophon und eine Orgel. Viele Geräusche kann man gar nicht zuordnen, dabei hört man immer nur sehr wenige auf einmal. Oft ist einfach nur Stille. Da sei »das Knacksen von Schellack-Platten, das Streicheln von Kleiderbürsten, von Fingerspitzen auf Pergamentpapier, klappernde Kleiderbügel im Nachtzug nach Krakau«, teilt der Pressetext mit. Man muss wirklich ganz genau hinhören.

»Ruhig« und »still« wird diese Musik genannt. Dabei brodelt es unter der sparsam instrumentierten Oberfläche gehörig. Die Lieder stecken voller Wendungen und Brüche. Und, kann Musik überhaupt still sein? »Fragil« und »skizzenhaft« sei sie, als wüssten Bobby & Blumm nicht so genau, wo das alles hinführen solle, als klängen ihre Lieder unfertig – als hätten die beiden sich womöglich keine rechte Mühe gegeben. Dabei ist den Kompositionen wahrlich nichts hinzuzufügen, sind sie gerade so komplex, wie sie eben sein müssen.

Beim letztjährigen Fusion-Festival trat F.S. Blumm in einem riesigen Iglu auf. Kaum erhöht saß er allein in der Mitte des Raumes, mit einer Gitarre, einem Kamm, einer Spieluhr und einem winzigen Effektgerät. Das Effektgerät fütterte er mit Klacken und Bimmeln, es machte einen Rhythmus draus. Über diesem zupfte er dann seine Gitarre. Nach einer Stunde wollten die Menschen mehr hören, erst wiederholte er ein Lied, dann erklärte er, wie das mit dem Effektgerät und den Geräuschen funktioniere. Klang alles ganz einfach.

* Zugegeben, F.S. Blumm malt doch Bilder, genauer: er zeichnet. An die Wand hängen sich seine Werke wohl wenige, und schön kann man sie auch nicht nennen. Aber sehen Sie selbst »

„Everybody Loves“ von Bobby & Blumm ist als CD und LP bei Morr Music erschienen.

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Ist nicht alles Gold

Und wieder hat die Musikpresse einen neuen Liebling: Santogold kommt aus Brooklyn, sie ist schwarz und selbstbewusst. Im allgemeinen Hurra hört man kaum, wie unentschlossen ihr Album klingt

Santogold

Santogold ist in aller Munde. In sämtlichen Feuilletons und Musikmagazinen wird ihr Debütalbum gefeiert. Denn sie feiern gerne, die Musikjournalisten. Fühlen wir auf die Krone: Ist Santo Gold? Oder glänzt es hier nur?

Santi White – so der bürgerliche Name der goldbehangenen schwarzen Künstlerin – schreibt hübsche Refrains. Das Album beginnt mit L.E.S. Artistes, man lässt sich mitreißen von Euphorie und Schwebe, dreht lauter. Später bei I’m A Lady bastelt sie mit einfachen Mitteln noch ein gutes Poplied. Und Santogold hat noch viel mehr vor, kaum eine moderne Spielart populärer Musik bleibt unangetastet. Ihr Album ist eine Werkschau der Vielseitigkeit.

Nur: Heißt vielseitig automatisch gut? Man könnte bemängeln, dass es Santogold an Fokussierung fehlt. Ihr Durcheinander ist zu durcheinander. Aber geht es bei solch hybrider Musik nicht genau um die Uneindeutigkeit von Stilen und Einflüssen? Warum sollte man sich auf nur eine musikalische Ausdrucksform reduzieren?

Das Problem liegt woanders. Santogold baut keine Brücken zwischen den Stilen. Ihrer Musik fehlt es an Herz. So tönt das Drama des Adepten – in zwölf Akten. Es wird gekonnt komponiert, gespielt und ausgeführt. Ein Bekenntnis aber gibt sie nicht ab, alles klingt beliebig und schwammig, seltsam kalt.

Strebsam und gelehrig ist Santi Whites Musik, ständig zerrt sie am Hörer und sagt: »Guck mal, was ich alles kann!« – aber Vielseitigkeit allein macht nicht aufregend. Dem Hören geht der Inhalt ab, Santogold bedient akustische Abziehbilder. Ihre Stimme ist biegsam und passt sich dem Musikstil an. Wenn es sein muss, klingt sie sogar wie Sheryl Crow. Bei HipHop-Stücken verwechselt man sie schnell mit M.I.A., zumal diese auch noch als Gastsängerin auftritt. Bei You’ll Find A Way klingt’s nach Sting und seiner unseligen Polizei. Diese Aufzählung von Referenzen ließe sich fortsetzen.

Aber warum fliegen nun die Musikjournalisten dermaßen auf Santogold? Ihr Phänomen ist soziologischer Natur: Eine schwarze Frau, die angesagt und nach Ghetto aussieht, sich aber auf weiße Rockmusik bezieht. Led Zeppelin und die Talking Heads nennt sie als ihre Einflüsse, das verleiht ihr den Nimbus der Aufgeklärten. Oder wie es die Frankfurter Rundschau ausdrückt: »Ghetto war gestern, hier kommt eine kluge schwarze Frau und macht Crossover-Avantgarde in Form mitreißender Popsongs.« Dabei will Santi White eigentlich Schluss machen mit dem musikalischen Rassismus und ihre Lieder für sich sprechen lassen. Wieso verwehrt man ihr das und sortiert sie ins abgegriffene Muster?

Zuviel des Lorbeers schadet der Künstlerin. Vom nächsten großen Ding kann sie schnell zum nächsten grandiosen Opfer der Erwartungshaltungen werden. Entkrampften sich alle Beteiligten ein bisschen, könnten wir uns auf Santogolds kommende Alben richtig freuen.

Das Debütalbum von Santogold ist als CD und LP bei Lizard King Records/Rough Trade erschienen.

Die Popsensation des Jahres? Lesen Sie hier das große Santogold-Porträt von Frank Sawatzki »

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Aprilscherz auf dünnem Eis

„Narrow Stairs“ heißt das neue Album von Death Cab For Cutie. Im Internet hatte es schon vor der Veröffentlichung für große Verwirrung gesorgt.

Death Cab For Cutie Narrow Stairs

Vor ein paar Monaten verschickte Neil Young seine Single Ordinary People an amerikanische Radiostationen. Das Stück dauert knappe zwanzig Minuten, so etwas hört man im Rundfunk selten. Er wisse das, sagte Neil Young, seine Stücke liefen aber auch dann nicht im Radio, wenn sie nur die üblichen dreieinhalb Minuten dauerten. So habe er eben sein Lieblingsstück genommen.

Was mag die amerikanische Band Death Cab For Cutie geritten haben, als sie es ihm nachtat und das achteinhalbminütige I Will Possess Your Heart als erste Single ihres neuen Albums veröffentlichte. Bei den amerikanischen College-Sendern sind sie seit einigen Jahren beliebt, aber wer sollte nun so etwas spielen? Behäbig wankt ein markantes Bassmuster zwischen Porcupine Tree und Pink Floyd entlang, erst gegen Ende setzt die Stimme ein, den charmanten Refrain singt sie in der ganzen Zeit nur einmal, kurz vor Schluss. (Von einem Re-frain kann also eigentlich keine Rede sein.)

In der Strophe hängt die Stimme dem Bass hinterher, als sei es ein Kanon. I Will Possess Your Heart wiegt schwer. Wer die Band vor drei Jahren mit ihren kleinen Erfolgen Soul Meets Body und I Will Follow You Into The Dark kennenlernte, wird griffige Poplieder suchen und die leichten Melodien vermissen. Sind Death Cab For Cutie zu Prog-Rockern geworden? Würde so auch das neue Album Narrow Stairs klingen?

Im April – acht Wochen vor Veröffentlichung – gelangte es dann auf die Tauschbörsen im Internet. Erste Rezensionen erschienen in Musik-Blogs, die Stimme des Sängers sei zarter als zuvor, die Lieder alle sehr ruhig, hieß es. Es sei erstaunlich viel elektronisches Schlagwerk zu vernehmen, die Melodien überwiegend schwach. Narrow Stairs klang anders als die Single, das war gut. Aber so weichgespült und öde wollte es nun auch kaum einer haben. Viele Kommentatoren zeigten sich enttäuscht, dass Narrow Stairs nicht an die Wärme und Musikalität des letzten Albums Plans anknüpfe, wenige feierten es überschwänglich als einen Schritt nach vorne, ihnen schien die Stimme Benjamin Gibbards Kontinuität genug zu sein.

Nur: diese Stimme gehörte gar nicht Gibbard. Ein Spaßvogel hatte das letzte Album der deutschen Band Velveteen umbenannt, die damals schon bekannte Single daruntergemischt und das Ganze den gierigen Runterladern zum Fraß vorgeworfen als studiofrische Platte der Amerikaner. Der Aprilscherz funktionierte mehrere Wochen lang. Die Stimmen der Sänger ähneln sich, doch wer genau hinhörte, ahnte den Schwindel.

Wer sich nun doppelt verwirren ließ, erst von der Single, dann von Velveteen, den wird das wirkliche Narrow Stairs wiederum verwundern. Denn Death Cab For Cutie klingen weder weichgespült, noch sind sie plötzlich melodieschwach auf der Brust, auch der ausufernde Prog-Rock spielt ansonsten keine Rolle. Zum Glück ist die Band klug genug, gar nicht erst zu versuchen, das erfolgreiche Plans aus dem Jahr 2005 zu wiederholen. Nein, sie gewinnen ihren Klang zurück. Damals waren sie von der kleinen Plattenfirma zur großen gewechselt, das hatte ihre Musik verändert. Die Glätte von Plans umschmeichelte die Hörer, es verhalf der Band vor allem in den USA zu einem großen Publikum. Doch für die Musiker war es ein Irrweg. Oder eine Sackgasse. Mit Narrow Stairs wenden sie, schlendern zurück zur letzten Kreuzung und folgen dem Weg, den sie mit ihren ersten vier Alben beschritten hatten.

Die meisten der zehn Stücke neben I Will Possess Your Heart sind flott und kurz. Cath …, Long Division und No Sunlight leben von scheppernden Gitarren, drängendem Bass und rumpeligem Schlagwerk, kaum eines der Stücke ist länger als vier Minuten. Das ist Rockmusik zum Lieben: große Melodien, laute Instrumente, wenig Schauspiel, kein Schweiß.

Im Mittelteil der Platte wechselt die Band auch mal das Tempo. Talking Bird ist ruhig und langweilig, Grapevine Fires ist ruhig und gar nicht langweilig. Im beschwingten You Can Do Better Than Me winkt Scott Walker um die Ecke. Bevor es pathetisch wird, ziehen Death Cab For Cutie die Notbremse – nach kaum anderthalb Minuten Orgelfreuden im Dreivierteltakt.

Gleich, ob die Instrumente beschwingt klingen oder nicht, Benjamin Gibbard singt düsteres Zeug. In No Sunlight – man ahnt es schon, wenn man den Titel liest – heißt es: „With every year that came to pass more clouds appeared, till the sky went black and there was no sunlight anymore. And it disappeared at the same speed as the idealistic things I believed when the optimist died inside of me.“ Früher war nicht alles besser, aber es sah besser aus. Man veränderte sich ständig und könne nichts dagegen tun, dass das Eis unter den Füßen dünner würde, singt er zu molligen Akkorden. Dann stimmt die Gitarre zwei, drei fröhlichere Akkorde, und an Gibbard singt vom Frühling. Keine gute Jahreszeit für Eisschollen. Hier, ganz am Ende der Platte wird es musikalisch beschaulich, The Ice Is Getting Thinner beschließt Narrow Stairs. Schon bei Led Zeppelin war das letzte Stück einer Platte das ruhigste. Das ist nicht die schlechteste Referenz.

„Narrow Stairs“ von Death Cab For Cutie ist als CD bei Atlantic/Warner Music erschienen, im September soll das Album als LP bei Barsuk veröffentlicht werden.

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Der Sittich profitiert vom Klimawandel

Auf „Machinette“ zettelt Bernadette La Hengst eine Liebesrevolution an. Die euphorischen Texte und ihr Woo-Oh-Oh-Oah sind ansteckend, man möchte mitmachen.

Bernadette La Hengst Machinette

„Ich will ein paradoxes, paranoides, parallele Welt-produzierendes, Liebespaare-kopulierendes Paradies!“ Bernadette La Hengst singt diesen Zungenbrecher so flüssig, dass er nicht peinlich wirkt. Ihre Texte holpern auf dem Papier, sie singt sie elegant geschwungen und verwandelt sie in überraschende Poplieder. Der Refrain von Liebesrevolution geht so: „Ich warte schon, wir starten unsere Liebesrevolution / Das Leben ist mehr als Arbeit und Lohn / Mit unserer Veränderungsinspiration / Mit einer Es-geht-auch-anders-Evolution / Mit unserer Entschleunigungsvibration.“

Schon auf ihren ersten beiden Alben Der beste Augenblick in meinem Leben und La Beat ist es Bernadette La Hengst gelungen, die strapazierten Popthemen Freiheit, Liebe und Revolution mit neuem Leben zu füllen. Geschickt verbindet sie auch auf ihrem neuen Album Machinette bekannte Sinnsprüche mit frischen Wortkombinationen. Das populistische Paradies und Liebesrevolution sind Ohrwürmer, die Wort halten. Man glaubt an dieses paradoxe Paradies und möchte allen Zynismus fahren lassen, um mit Bernadette La Hengst jene Liebesrevolution loszutreten. Wie die frühen Rock’n’Roller hat sie einen Erkennungsruf, er geht in etwa „woo-oh-oh-oah“ und reißt den Hörer mit.

Bernadette La Hengst ist schon lange in der sogenannten Hamburger Schule. Mit Knarf Rellöm – ihn nennt sie „ihren ältesten Freund“ – gründete sie Mitte der Achtziger die Punkgruppe Huah!. Ihr Wechselspiel zwischen Ironie und Kritik beeinflusste die deutschsprachige Rockmusik. Im Jahr 1990 rief Bernadette La Hengst die Riot-Grrrl-Band „Die Braut haut ins Auge“ ins Leben, seit acht Jahren musiziert sie unter ihrem eigenen Namen und jagt von einem befreienden Popentwurf zum nächsten.

Man folgt ihren Verheißungen von der Freiheit, weil sie die Schattenseiten nicht ausspart. Singt sie von Freiheit und Liebe, dann singt sie auch von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. In dem schwingenden Rock’n’Roll-Stück Liebe ist ein Tauschgeschäft heißt es in Anlehnung an den Motown-Klassiker River Deep, Mountain High: „Ich bin durchs weite Meer geschwommen / Und hab den höchsten Berg erklommen / Wegen dem bedingungslosen Grundeinkommen / Namens Liebe.“ In Der grüne Halsbandsittich erzählt sie die Geschichte eines Vogels, der von der Erderwärmung profitiert. Er entwischt aus der überheizten Wohnung in die warme Stadt und verlangt: „Ihr verdient das Geld doch auch mit Emissionenhandel / Also warum soll ich nicht Gewinner sein von eurem Klimawandel.“

Das Zusammenspiel von Gitarren und Elektronik hatte Bernadette La Hengst schon auf ihrem ersten Album perfektioniert, mit Machinette geht sie einen Schritt weiter. Sie leiht sich die Bläser der Schweizer Band Die Aeronauten, sie agieren zwischen Memphis-Soul und Kammerpop, einen Seniorinnenchor lässt sie „Wir sind das Echo Echo Echo unserer Eltern“ singen. Das ist ambitioniert, klingt aber locker und leicht. Geschrammelte Mollakkorde sind ihr Ding nicht. Ihr neuer Schlachtruf lautet „If you don’t know the phunk / You don’t know anything“. Lassen wir uns führen von ihr, in ein „Party-partizipierendes, ein Katechismus negierendes, ein Papa-bezahlt-unser-Grundeinkommen, passioniertes Paradies!“

„Machinette“ von Bernadette La Hengst ist als CD bei Trikont und als LP bei Ritchie Records erschienen.

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