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Die Zauberkraft schwindet

Einst sangen sie heimeligen Märchenpop. Jetzt knüpfen JaKönigJa aus Hamburg eine verflixte Seilschaft mit der weiten Welt und verirren sich in ihr.

JaKönigJa Seilschaft der Verflixten

JaKönigJa, welch passender Name für eine Hamburger Band, deren Stücke schon immer so klangen, als seien sie aus einem Märchenbuch entschlüpft. Fütter’ die Katze, Rotkohl, Sommerkleid und Aus unserem Winterhaus hießen die melancholischen Lieder, die Jakobus Siebels und Ebba Durstewitz in den späten neunziger Jahren bekannt machten: „Was ich am allerliebsten mag an diesem hellen Sonnentag – das ist mit dir ganz weit heraus aus unserm alten Winterhaus“, sangen sie damals.

Zuletzt war 2005 das Album Ebba erschienen, jetzt sind sie wieder da, ganz überraschend. Von der Intimität des Kammermusikalischen, den Chansons und Pop-Skizzen haben sich JaKönigJa auch auf Die Seilschaft der Verflixten nicht losgesagt. Und dennoch merkt man dem von Mense Reents fein produzierten Album an, dass die Band heute anders klingen will: nicht mehr nach innen gekehrt. Nicht mehr nach Winterhaus und Rotkohl, sondern nach Ferne und Weite. Nach dem nächsten Meer und noch mehr: Jazz, Dub, Elektronica, Latin, Easy Listening, Psychedelisches, Noise, Space-Pop, Vaudeville – ihre Musik greift jetzt in alle Richtungen.

Leider franst die Musik durch diese Vielfalt aus, anstatt sich zu verdichten. Sie klingt ratlos und unbestimmt. Ebba Durstewitz’ Stimme – noch immer die einer Märchenerzählerin, so klar und rein, dass es schmerzt – bleibt die einzige Konstante auf einem Album, das nur wenig mehr ist als die Summe seiner vielen Einzelteile.

Man kann die Versponnenheit dieses Albums schätzen, die mal sonnige, dann verdüsterte Atmosphäre, die an Bands wie The Sea And Cake, Stereolab oder auch die High Llamas erinnert. Man mag das Feingeistige goutieren, die vielen Instrumente, die JaKönigJa auf diesem Album versammeln. Man mag etwas an dem Mut finden, wie sie unbefangen über die Grenzen zu kapriziösem Kitsch und Pathos flanieren. Man kann es ganz einfach lieben, wie opulent diese komplex arrangierte Platte schillert.

Doch sonderbar: So verwunschen, so verträumt, wie diese Musik klingt, so schnell entschwindet sie in die hinteren Ecken des Gedächtnisses. Ihre Zauberkraft ist nicht von Dauer: Mit Zeilen wie „Man könnte es auch anders sehen. Doch davon mal ganz abgesehen, kann man nicht alles anders sehen. Es ist bloß schwer einzugestehen” lässt sich keine Seilschaft, kein Bund fürs Leben schmieden.

„Die Seilschaft der Verflixten“ von JaKönigJa ist erschienen bei Buback Tonträger.

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Der Rüpel und die blasse Frau

Die Schauspielerin Scarlett Johansson möchte Tom Waits’ bräsigem Zirkusjazz einen Schuss Avantgarde injizieren – und scheitert. Jedem Stück auf „Anywhere I Lay My Head“ hört man ihr Bemühen an, etwas Besonderes aufzunehmen.

Scarlett Johansson Anywhere I Lay My Head

Man hatte es geahnt. Spätestens seit dieser grandiosen Szene in Sofia Coppolas Film Lost In Translation. Lässig schmachtet Scarlett Johansson da Brass In Pocket von den Pretenders ins Mikrofon. Das war Karaoke, doch wusste man: Die wird mal eine Platte machen.

Die Schauspielerin ließ sich Zeit mit ihrer zweiten Karriere, denn sie meinte es ernst. Das unkaputtbare Summertime sang sie für einen guten Zweck ein und galt als Favoritin für die Hauptrolle in Andrew Lloyd Webbers Musical The Sound Of Music. Ihre selbstbewussten Auftritte mit den Indierockern The Jesus and Mary Chain gaben Grund zur Hoffnung, sie könne erfolgreich das Fach wechseln. Nur wenigen gelingt das.

Jetzt hat sie es tatsächlich gewagt. Die Johansson hat eine ganze Platte gemacht, Anywhere I Lay My Head. Als Produzenten verpflichtete sie David Siget. Das beweist Geschmack, Siget ist nebenbei Musiker der Rockband TV On The Radio. Macht diese Frau denn alles richtig?

Dann ein erster Wehmutstropfen: Scarlett Johansson spielte keine eigenen Lieder ein, sondern ausschließlich von Tom Waits komponierte. Dass ausgerechnet der Leitwolf der verbeulten Tramps und Strauchdiebe für Johanssons Debüt herhalten muss, ist zunächst überraschend. Der grantelnde Rüpel und die blasse Frau – kann das gut gehen? Leider geht es nicht gut.

Was hätte man alles aus Johanssons Stimme herausholen können! In den guten Momenten erinnert ihre düstere Färbung an Nico. Doch die guten Momente sind selten, denn Anywhere I Lay My Head ist ein Lehrstück verschwenderischer Produktionskunst. Sitek webt Johanssons Gesang in einen Teppich aus Gitarrenrückkopplungen, Saxofonexzessen, Spieluhrmelodien und hallenden Keyboards. Früher sprach man angesichts solcher Textur anerkennend vom Wall Of Sound,
hier klingt sie prätentiös. An dieser massiven Klangwand ist die Stimme nur eine Farbe von vielen, sie geht im Allerlei der Effekte unter.

Scarlett Johansson möchte Tom Waits’ bräsigem Zirkusjazz einen Schuss verhuschter Avantgarde injizieren, aber sie scheitert. Jedem Stück hört man das Bemühen der Schauspielerin an, ja kein normales Pop-Album zu machen. Allerorten raunt es einem zu: Das hier will etwas Besonderes sein. Ununterbrochen purzeln Klangspielereien und exzentrische Geräusche aus den Lautsprechern, halten Grillengezirpe und Vogelstimmen als romantische Ornamente her.

Die zärtliche Glockenspiel-Melodie von I Wish I Was In New Orleans ertrinkt in Hall. Dabei hätte Johanssons Gesang ausgereicht, dem Stück Sehnsucht zu verleihen. Geradezu komisch ist der pompöse Einstieg des Instrumentalstücks Fawn, die Arrangements wirken, als hätte sich Bruce Springsteens Saxofonist Clarence Clemons im Bayreuther Orchestergraben verirrt. Als reichte das nicht aus, erklimmen Sitek und Johansson den Gipfel der erzwungenen Stilhuberei gemeinsam mit David Bowie, bei Falling Down und Fannin Street tritt er als Duettpartner auf. In der Kulissenhaftigkeit des Albums scheint auch er sich nicht wohlzufühlen, Orgelfluten schlagen über seiner Stimme zusammen.

Streckenweise erlahmt das Album vollkommen, schleppen sich die Stücke vorüber. Die schläfrige Melancholie, die der Titel verspricht, verkommt zur ermüdenden Geste. I Don’t Want To Grow Up ist einer von wenigen guten Momenten: Die Keyboards klingen nach Always On My Mind von den Pet Shop Boys, langsam wächst eine gelungene New-Wave-Hymne heran. Bald zieht wieder schweres Geräuschgewitter auf, zu viel Pop war dem Produzenten offenbar nicht geheuer.

Auf der Albumhülle ist Scarlett Johansson als blasse Leiche zu sehen, aufgebahrt im künstlichen Grün. Die Kamera beobachtet sie durch ein Astloch. Im Märchen käme der Prinz und errettete die Pop-Prinzessin. Auf Anywhere I Lay My Head versinkt sie in hundertjährigem Schlaf.

„Anywhere I Lay My Head“ von Scarlett Johansson ist erschienen bei Warner Music.

Lesen Sie hier, was Diedrich Diederichsen über Scarlett Johanssons Musikversuch schreibt »

Viele Schauspieler haben Musik gemacht. Manchen ist es gut gelungen, manchen nicht. Hören und sehen Sie selbst. Eine Bildergalerie »

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Ins Absurde erhoben

Bislang wurden The Notwist von Album zu Album besser. Mit ihrer sechsten Platte „The Devil, You + Me“ reißt die Serie ab, die Feuilletons loben sie trotzdem.

Notwist, Devil You And Me

Über The Notwist möchte man wohlwollend schreiben. Und wie einfach ließe sich in die Elogen einstimmen, zu denen die Feuilletons in den vergangenen Wochen anhoben, ließe sich wortreich beschreiben, wie überaus glaubwürdig und integer sich die Band im korrupten Musikgeschäft bewegt, ließe sich ausführen, wie die oberbayerische Gruppe seit Mitte der Neunziger ein überzeugendes Werk nach dem anderen ersinnt, sich ein ums andere Mal neu erfindet, und ließe sich schließlich schlussfolgern, auch die neue Platte The Devil, You + Me müsse ein Meisterwerk sein.

Allein, so wahr alles vorher Gesagte sein mag, ein Meisterwerk ist The Devil, You + Me leider nicht.

Bisher schien jede Notwist-Platte der letzte Schluss dessen zu sein, was derzeit im eigenen Tonuniversum möglich war. Mehr noch, zumindest eine Weile lang klang jedes Album seit 12 wie das Großartigste, was Musiker auf Instrumenten anstellen können. Mit einigen Jahren Abstand veränderten die Platten ihren Charakter, erwiesen sich doch nur als sinnvolle Fortschreibung des vorherigen Albums. Nicht weniger gut, aber viel weniger endgültig. Was folgte, drängte die Grenzen des Universums jedes Mal noch ein bisschen weiter zurück.

Anfang der Neunziger nahmen The Notwist zwei beinharte Rockplatten auf. Hört man The Notwist und Nook heute, so erahnt man Vieles von dem, was längst als typisch gilt. Zwischen Bergmassiven aus Gitarre und dem Gewitter der Basstrommel schweben schon diese gepressten Melodien, diese ungewöhnlichen Harmonien, diese sanfte Stimme. Freilich war damals nicht zu erahnen, wohin die Reise gehen sollte. Die Punk-Bands Bad Religion und Therapy? nahmen The Notwist mit auf Tour.

Überhaupt, Markus Achers Stimme. Akrobatisch ist sie nicht, allenfalls schafft sie kleine Bodenturnereien. Hier ein beschaulicher Hüpfer, dort eine elegante Rolle. Achers Stimme ist das Imperfekte im Orchester der Perfektion. Wo sonst jeder Klick sitzt und jeder Streicher um die Hierarchien weiß, ist sie der Puls, das Organische. Das hat sich bis heute nicht geändert. Das Orchester wurde über die Jahre immer präziser, sein Englisch nicht. Wozu auch.

Jeder musikalische Schritt der Band erschien letztlich logisch: Mitte der Neunziger veröffentlichten sie 12, erstmals steuerte Martin Gretschmann alias Console elektronische Klänge bei. Sie umschwirrten die Gitarrenmonumente, vermochten ihre Oberfläche aber kaum anzukratzen. Gretschmann wurde festes Mitglied der Gruppe. Auf Shrink im Jahr 1998 klangen die Gitarren weniger massiv, die Elektronik trat in den Vordergrund. Post-Rock wurde die Musik der Band genannt, vielleicht weil die Rockergeste nie ihre war – der Eklektizismus um so mehr. Solch eine Mischung aus Gitarren und Elektronik war damals unerhört. Shrink brachte den Durchbruch, Day 7 und Chemicals waren kleine Erfolge. The Notwist fuhren nun mit den Orgeldudlern von Stereolab auf Tour.

Seit Shrink wurden die Pausen zwischen den Alben lang, ebenso die Veröffentlichungsliste assoziierter Projekte – Console, Lali Puna, Tied + Tickled Trio, MS John Soda und einige mehr. Erst im Jahr 2002 erschien Neon Golden, eine wahrhaft umwerfende Platte. Aus Post-Rock war nun Diskurs-Pop geworden, Musik, die in immer neue Kontexte einsortiert wurde, über die man nie genug wusste, und die am Ende bis ins Absurde überhöht wurde. Jörg Adolphs Dokumentarfilm über die Entstehung der Platte, On/Off The Record, führte das vor Augen. Man sieht: Die Journalisten stellen anbiedernd umständliche Fragen, die Musiker schauen und schweigen. Ganz so als verstünden sie gar nicht, weshalb man über Musik noch reden müsse. Mit den zehn Stücken auf Neon Golden war doch alles gesagt.

Wie macht man eine neue Platte, wenn alles gesagt ist? Wenn die Erwartungshaltung in den Himmel gewachsen ist? Geht man weiter vorwärts? Mal wieder rückwärts? Oder macht man einfach Neon Golden, Teil 2? The Notwist wussten es offenbar auch nicht so genau. So ist The Devil, You + Me von allem ein bisschen. Die leicht rumpeligen Stücke Good Lies und Alphabet erweisen Shrink die Referenz, Gravity wiederum hätte gut zu Neon Golden gepasst.

Das Vorwärts jedoch wird zum Problem. Denn das ins Studio geladene zwanzigköpfige Orchester vermag der Unternehmung keine Spannung zu verleihen. Im Gegenteil, die recht spärlich eingestreuten Filmmusikklänge sind fast alle überflüssig. Sie versenken die feine Elektronika der Single Where In This World im Kleister. Die Streicher in Hands On Us erinnern an die Tindersticks – die wissen schon, weshalb auf ihren Platten weder Schlagzeugcomputer noch Elektronikrauschen zu hören sind. Hier nun kippt die Düsternis ins Melodramatische.

Es vergeht eine halbe Ewigkeit, bis das Genie der Band endlich aufblitzt. Stück Nummer 6, Gravity, lebt von dem Gegensatz zwischen dem flirrend vertrackten Schlagzeug und den ruhig vorgetragenen Worten – und dem, woran es den meisten anderen Stücken fehlt: einer brillanten Melodie. Hier bringt die Band es klanglich auf den Punkt, hier bekommt sie – welch passenden Titel trägt das Stück – die Füße an den Boden. Danach heben The Notwist wieder ab und landen erst bei Boneless wieder. Da ist das Album beinahe vorbei. „Old gravity won’t get me“, singt Acher einmal, das klingt programmatisch.

Diese Träne muss hier nun vergossen werden: Neon Golden hörte man immer wieder etwas Neues an, die Lieder übten eine Anziehungskraft aus. Monatelang fesselte das Album den Hörer. The Devil, You + Me ist im Vergleich dazu kraftlos. Auch beim dreißigsten Durchlauf noch klingen viele Melodien flach, dümpeln Lieder wie Sleep und Hands On Us ziellos vor sich hin.

Nun: Wie macht man also eine neue Platte, wenn alles gesagt ist? The Devil, You + Me klingt, als wüssten auch The Notwist keine Antwort.

„The Devil, You + Me“ von The Notwist ist als CD und LP erschienen bei City Slang.

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Puls im Glanzanzug

Yeasayer aus Brooklyn rufen zum Zirkeltraining. Zehn Stationen einer anderen musikalischen Welt sind zu durchstehen, ein bisschen Sport muss schließlich sein.

Yeasayer All Hour Cymbals

Erste Station:

Gospel-Klatschen. Die Band macht es vor und wir beeilen uns mitzukommen. Dabei ist alles so entspannt. Ein leichtes Klagen, ein weiches Wünschen, warum sollte der Sonnenschein nicht auch uns begrüßen. Und dann passiert es.

Zweite Station.

Wir dürfen unsere Saiteninstrumente auspacken. Das Mädchen mit der Ukulele legt los, wird bald vom Banjo übertönt, gemeinsam erklimmen wir den Gipfel. „Wait For The Summer“, singen wir und warten. Dann wechselt das Tempo und der innere Puls schlägt leichter, schneller, passt sich dem Fluss des Gesangs und des schwingenden Tambourins an und einer nach dem anderen geht einfach, wenn es ihm passt zur

Dritten Station.

Wir haben unsere Raumanzüge mitgebracht, heben aber nicht ab. 2080 ist so weit weg, wir bleiben in der Gegenwart. Der Basslauf und ein gerades Schlagzeug nehmen uns mit auf einen Ritt, bis uns irgendwann doch noch die Schwärze der Popmelancholie umfängt.

Vierte Station.

Nach einem kollektiven Niesanfall sind wir froh, die glänzenden Anzüge noch nicht ausgezogen zu haben. Eifrig machen wir uns an die Arbeit und jonglieren mit Reagenzgläsern und Akkordeons, wir entdecken das Heilmittel und nehmen es nicht.

Fünfte Station.

Ein kurzes „Ah“ bringt uns in die kalifornische Gospelgemeinde Beach Valley. Aus einer Riesen-Zymbal und feinem afrikanischen Sand müssen wir eine indianische Moschee bauen, das ist uns ein Leichtes. Als wir fast fertig sind, schlendert ein Bluesgitarrist um die Ecke, wir begleiten ihn auf Mamas Juwelen.

Sechste Station.

Eine Übung für unser Inneres. Wie schnell vergeht der Ärger, wenn man zuhört. Welch ein erhabener Moment.

Siebte Station.

In mongolischen Fellen stapfen wir durch den Frost, beschwören das Monster der Rock-Steppe und wagen einen Abstecher ins Okkulte. Wie bei 1, 2 oder 3 hüpfen wir von einem Fass auf das nächste und wundern uns, dass am Ende alle Antworten richtig sind.

Achte Station.

Wir sind erleichtert, dass jetzt moderate Waikiki-Hüftschwünge angesagt sind. Wir drehen uns so lange im Kreis, bis uns schwindelig wird, und stolpern zur

Neunten Station.

Im Erdreich ist es dunkel, wir bauen uns eine Wurm-Pyramide.

Zehnte Station.

Wir entfliehen der Düsternis und landen in der roten Höhle. Wir sammeln die umherliegenden Instrumente ein, klettern aus unseren von Sand und Lehm beschmutzten Raumanzügen und suchen Holz für ein Lagerfeuer. Und weil da ein Wald ist, wird es ein großes Feuer. Und weil das nicht reicht, tanzen wir. Und weil das auch noch nicht genug ist, sind wir einfach froh, zu sein, wo wir sind.

Auf dem Heimweg freuen wir uns, wie großartig doch ein bisschen Sport sein kann.

„All Hour Cymbals“ von Yeasayer ist bei We Are Free/Cargo Records erschienen.

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Lass das Jammern, Eule!

Nach zehnjähriger Pause kehren Portishead mit „Third“ zurück. Leicht könnte man die reizvollen Stücke lieben, käme einem nicht Beth Gibbons’ selbstmitleidiger Gesang immer wieder in die Quere.

Portishead Third

In schwierigen Situationen lernt man viel über seine Freunde. Gute Freunde geben Rat, wenn es einem schlecht geht. Sie zeigen Auswege. Schlechte Freunde tun so, als seien sie gute Freunde. Sie bestätigen den Leidenden in seiner Malaise und wenden sich ab, wenn man selbst einen Ausweg findet. Schlechte Freunde suchen den Mitleidenden.

Diese CD ist ein schlechter Freund.

Das Drama des begabten Kindes – es geht in eine neue Runde. Meine Damen und vor allem Herren: Es darf gejammert werden, nach Herzenslust. Portishead sind zurück, Third heißt ihr erstes Werk nach einer zehnjährigen Pause. Beth Gibbons eulenhafte Stimme bedient wieder die Phantasie vom traurigen Clown. Schon im zweiten Lied Hunter jault sie „If I should fall, would you hold me?“ Weiße Pferde tragen sie hinfort. Das ganze Album ist voll von solch armseliger Prosa. „Empty in our hearts, crying out in silence“ – die Dichtung ist kitschig, wie ein Harlekin auf dem Sofa. Billige Helferfantasien werden animiert, Gibbons schminkt die Wasserleiche. Der Hörer möchte sie trösten oder sich mit ihr im Unglück suhlen. Was ist so schön daran? Was macht den Wirbel um die Band Portishead aus?

Zugegeben, sie wissen, wie man ein Album produziert. Die Klänge sind eigenartig, die Rhythmen trocken. Die Musik ist dynamisch und spannend, sie umgibt eine Aura. So originell wie behauptet wird, ist das alles nicht. Für das Stück We Carry On sollten sie Geld an die Silver Apples überweisen. Deren Stücke You And I und Oscillations aus den späten Sechzigern werden hier einfach kopiert. Gut kopiert immerhin. So verführt das Flimmern und Brummen der Synthesizer immer wieder zum Hinhören. Beth Gibbons Stimme liegt transzendent darüber, ihr Selbstmitleid macht alles kaputt. Frei von Selbstironie und vollkommen humorlos postuliert sie die Gebote der Düsternis.

Brrrr.

Wenn alle Ideen in eine Richtung gehen, wird’s langweilig. Hier ist kein Bruch, keine Hoffnung. Alles kreist um sich selbst. Beschwingter Reggae ist gewiss keine Alternative, aber beim Hören von Third wünscht man ihnen den Abschied vom Schwindsüchtigen und den Aufbruch zu neuen Themen.

Lesen Sie hier die Rezension von Thomas Groß

„Third“ von Portishead ist als CD und LP bei Island/Universal erschienen.

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Auf der Rückbank Rumpeln

Sechs Ohren zwischen Kisten und Pinseln: Wie wäre es, mit Gnarls Barkley ein neues Leben zu beginnen? Eine Umzugsfantasie

Gnarls Barkley Odd Couple

Parken in zweiter Reihe, Warnblinker an. Die beiden bleiben im Auto. Schnell rauf in die Wohnung. Zwei Kartons, eine Reisetasche. Uff. Wieder runter, Kofferraum auf, Zeug rein, Klappe zu, einsteigen. Zündschlüssel drehen, Musik.

Das lässt sich doch ganz schwungvoll an, irgendwie alt, aber dann auch wieder neu. Solide, knatternd und formschön wie ein VW-Käfer. Soul der Sechziger pufft aus Charity Case, dem ersten Lied auf The Odd Couple. Wir klatschen im Takt und drücken aufs Gas.

Ampel rot. Mein Beifahrer Cee-Lo ist verzweifelt: Wer nur soll seine Seele retten? Nun, da er sie sich aus dem Leib gesungen hat. Von der Rückbank rumpelt stetig das Schlagzeug seines Freundes Danger Mouse.

Orange, Grün, Going On. Danger Mouse packt seine Schere aus und schnippelt ein paar alte Tonbänder zurecht, es scheppert und rauscht. Cee-Lo drängt vorwärts, nimmt an Tempo auf: „Run, run away, run for your life“.

Atemlos kommen wir an. Warnblinker. Die beiden bleiben im Wagen. Kofferraum auf, Kartons und Tasche in die Wohnung. Treppen. Uff. Wieder runter. Zurück. Erzähl mal, Cee-Lo, was machst Du so? Hauptberuflich sei er eine Soul-Maschine. Klar, das hört man! Seine Stimme sei seine Stimme, der Spiegel seines Innenlebens. Und Du da hinten? Sagst Du auch mal was, Danger Mouse? Nö. Er mache lieber Musik. Beats. Sammele Vinyl und jage Tonschnipsel durch den Rechner. Ach, und zusammen seid Ihr The Odd Couple namens Gnarls Barkley? Könne man so sagen, sei aber eigentlich ein Maskenspiel. Gibt’s denn nicht schon genug Kostümclowns im Pop? Whatever.

Stopp. Wieder vor der Wohnung. Hoch. Pinsel, Folien, Klebeband eingepackt. Runter, Auto beladen. Surprise, wir streichen einen neapelgelb-rötlichen Canyonsonnenuntergang ins neue Wohnzimmer. Gleich zieht Danger Mouse die Klanghölzchen aus der Tasche. Cee-Los Gesang schwirrt durch die einsame Steppe, schwermütig, besorgt, suchend nach einer Duett-Partnerin. No Time Soon, die ist nicht so leicht zu finden. Kommt Jungs, nicht Trübsal blasen! Spielt mir etwas Fröhliches. So richtig fröhlich könnten sie es nicht, denn da läge immer ein Schatten auf Cee-Los Herz. Versucht es! Linke Spur, Blitzer beglücken. Von hinten trötet eine Jahrmarktmelodie, oder ist es ein Kinderkeyboard? Blind Mary, singt mein Beifahrer. Er liebe sie, denn er sei im Innern so viel schöner als außen, und sie erkenne das. Aber ich dachte, in Dir sei es so dunkel? Ja, schwarz und schön.

Letzte Fuhre, Sofa holen. Ganz schön schwer, Ihr packt mit an! Wie solle das ins Auto passen? Wird schon, der Mäuserich auf der Rückbank macht sich klein. Oh, die Platten nicht vergessen. Stevie Wonder und Motown-Scheiben liegen oben auf. My Neighbors, murmelt Cee-Lo. Unverkennbar. Ruckzuck in die neue Nachbarschaft gedüst. Klappe auf, Sofa raus, treppauf, links, rechts, abstellen. Nehmt Platz! Ob wir eben ihre Platte auflegen könnten? Sicher. Begännen wir doch mit dem letzten Lied, das passe gerade so gut zum Umzug: „Now the circumstances put soul in me. Oh, I feel better.“ Ein wahrhaft beherzter Neuanfang.

„The Odd Couple“ von Gnarls Barkley ist bei Warner Music erschienen.

Gnarls Barkley sind das seltsamste Paar der Popgeschichte. Sie sampeln alles, was nicht davonläuft. Lesen Sie hier die Analyse von Tobias Rapp »

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Gleich ist Nacht

„Harriet“ heißt die zweite Platte der Berliner Band Taunus. Sie klingt wie die Abenddämmerung eines warmen Tages in der Stadt – und ist viel zu kurz.

Taunus Harriet

Milde erfüllt den Frühsommerabend. Der Landwehrkanal fließt in Zeitlupe Richtung Spree, an beiden Ufern sitzen Menschen unter den Bäumen und saugen die letzten Sonnenstrahlen auf, die ersten durch und durch wärmenden des Jahres. Eben verschwindet die Glut hinter den hohen Altbauten, da treten zwei Musiker auf eine schmale Brücke und spielen den Menschen noch ein paar Lieder zur Nacht.

Zu Anfang fummeln sie kaum hörbar an den Wirbeln ihrer Akustikgitarren herum, als wollten sie ja niemanden stören. Das leise Säuseln der Gespräche nimmt ab, bald verstummt es ganz. Die beiden Musiker greifen nun beherzter zu, zupfen an den Saiten, schicken ein Summen über das träge Wasser. Die Instrumente brummen, als hätten sie den Tag über in der Sonne gelegen. Nun geben sie die Wärme ab und halten die Kühle der Nacht noch ein bisschen fern. Aus dem nahe gelegenen Kaffee mischt sich das Klirren abgeräumter Gläser in die Musik, das klingt freudig.

Beim dritten oder vierten Stück tritt jemand zu den beiden auf die Brücke und seufzt in eine Klarinette, eine einfache Melodie. Auf einem nahen Balkon steht ein anderer, der spielt sie auf dem Vibraphon nach, beinahe erklingt ein Kanon. Zwei muskulöse Männer unterbrechen ihren Umzug und lassen ein altes Klavier am Ufer nieder. Einer der beiden klimpert eine Melodie. Das gute Stück ist völlig verstimmt, die tiefen Töne klingen stumpf, als lägen im Rumpf Stapel lang vergessener Liebesbriefe. Später tritt einer mit Cello hinzu und einer mit Banjo. Ständig passiert etwas, nur nichts Dramatisches. Alles wirkt und klingt, als gehöre es genau so und nicht anders.

Die Dunkelheit hat beinahe alles verschluckt. Die beiden zupfen nun energisch gegen die Nacht an, einer stampft den Rhythmus auf den Boden. Ein Schwarm Enten jagt erschreckt in die Luft. Das dumpfe Flirren ihrer Flügel Schläge und ihr mitteilsames Geschnatter tragen das Lied an ein unerwartetes Ende. Die beiden Musiker spielen immer leiser, verstummen schließlich und für ein, zwei Minuten musiziert das vielstimmige Entenorchester. Man möchte den Tieren ihren passenden Einsatz danken, manch einer lacht in die Stille.

Als sie sich schließlich beruhigt haben, spielt die Band noch ein letztes Stück. Mit dem Verklingen des letzten Tons schickt die Sonne den letzten Strahl des Tages. Dreiunddreißig Minuten lang war Licht, obwohl die Sonne längst untergegangen war. Dreiunddreißig Minuten lang war die Wärme dieses ersten Frühsommertages noch einmal zu hören.

So etwas gibt es nur in Berlin? Nein, nicht einmal dort. Die beiden Musiker heißen Jan Thoben und Jochen Briese, ihre Band nennen sie Taunus. Auf die erdachte Brücke traten nach und nach Wilm Thoben, Michael Thieke, Derek Shirley und F.S. Blumm. Harriet heißt die zweite Platte von Taunus. Sie klingt wie die dreiunddreißig Minuten zwischen Tag und Nacht, zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit am Ende eines warmen Tages in der großen Stadt. Sie wärmt und stimmt uns gelassen – und ist viel zu kurz.

„Harriet“ von Taunus ist bei Ahornfelder erschienen.

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Muschikatzen auf dem Weg zur Hölle

Die B-52’s sind wieder da, 16 Jahre nach ihrem letzten Album erscheint „Funplex“. Erstaunlich, wie mitreißend ihr überkandidelter Pop noch immer klingt.

Funplex B42s

Der New Yorker Club Max’s Kansas City im Dezember 1979: Lydia Lunchs brachiale Punk-Band Teenage Jesus & The Jerks tritt auf. Im Publikum tummeln sich lässige Typen, die meisten tragen schwarze Lederjacken, niemand tanzt.

Und dann dies: Als Vorgruppe betreten zwei schrill gekleidete Frauen mit Bienenkorb-Frisuren und mehrere schwule Männer die Bühne. Ihre Klamotten und Perücken haben sie beim Trödler erstanden, und sie sehen aus, als wären sie mit der Zeitmaschine aus den Fünfzigern gekommen. Die Band nennt sich The B-52’s und schockiert das Publikum mit überkandidelter Party-Musik. Aus ihrer Heimat Athens in Georgia seien sie es gewohnt gewesen, dass die Leute tanzten, erzählte der Sänger Fred Schneider später, in New York habe sich niemand bewegt. „They were enjoying it, but it wasn’t cool to dance. Lord knows, we didn’t look too cool.“

Es kann nicht schaden, daran zu erinnern, dass die Band damals gegen den Strom schwamm. Die B-52’s waren keine bunte, belanglose Pop-Kapelle. Sie waren Exzentriker, ihr Klang eine Mischung aus dem Pop der Sechziger und New Wave. Heute verbindet man ihren Namen vor allem mit den Tanznummern Love Shack und Rock Lobster, mit den sirenenhaften Harmonien Kate Piersons und Cindy Wilsons und den kontrastierenden Anfeuerungen Fred Schneiders. Ricky Wilson, der im Jahr 1985 an den Folgen einer HIV-Infektion starb, spielte seine Gitarre gleichzeitig als Bass. Er entfernte die beiden mittleren Saiten und stimmte die unteren so tief es ging. Den beiden oberen entlockte er einen Surf-Klang, der an die Instrumental-Band The Ventures erinnerte. Ricky Wilsons Schwester Cindy spielte Bongos und ergänzte so das eckige Schlagzeugspiel Keith Stricklands. Pierson und Schneider ließen im Hintergrund die Keyboards quietschen.

Zwischen den Jahren 1980 und 1994 erschienen sechs Alben, danach machte die Gruppe eine lange Pause. Seit einiger Zeit treten sie wieder auf, jetzt erscheint ihr neues Album Funplex. Und all das Beschriebene funktioniert auch dreißig Jahre nach dem Auftritt in New York prächtig. Im ersten Stück Pump klingen die Keyboards wie aus einem fünfzig Jahre alten Science-Fiction-Film. Die beiden Frauen laden zum Sex und zum Tanz, sie ergehen sich in technischen Anspielungen: „Pump it up / give it up / turn up the track“, singen sie, „Hard kiss / love chain“, quakt Fred Schneider dazwischen. Man muss das nicht verstehen, man soll sich hingeben.

Funplex ist sauberer und ausgewogener produziert als auf die recht schroffen frühen Alben. Der Schlagzeuger Strickland spielt nun auch Bass und Gitarre, viele seiner Rhythmen sind elektronisch. Gelegentlich schrammelt er ein bisschen zu verträumt vor sich hin, dann wieder spielt wohltuend kantig. Die Gastschlagzeuger Zachary Alford und Sterling Campbell treten dann wuchtig gegen die Bassfelle.

Mit der Single Funplex benennen die B-52’s, wogegen sich ihre Party-Klänge heute richten. Den „pleasure seeker / shoppin‘ for a new distraction / movin‘ to the muzak / lookin‘ for the real thing“ nehmen sie aufs Korn, den Konsumenten auf der vergeblichen Suche nach dem Authentischen. Die Mall ist ihnen das Museum der Gegenwart, der Ort an dem die Widersprüche der Gesellschaft zu Tage treten. „Faster Pussycat thrill thrill / I’m at the mall on a diet pill“, besingt Fred Schneider Konsum- und Fitnesswahn. Das Stück endet mit den Worten „Misery at the Funplex! / And there’s too much sex! / The world is going to hell / And what is that horrible smell?“ So wie unter der glitzernden Oberfläche der Einkaufswelt Abgründe lauern, geht der allgegenwärtig zur Schau gestellte Sex mit einer puritanischen Moral einher.

Verdrießlich stimmt sie das noch lange nicht. Wenn schon alles zur Hölle geht, sollte man wenigstens Spaß dabei haben. „Keep doin‘ what you’re doin‘ / cause you’re doin it right / keep doin‘ what you’re doin‘ / ‘Cause it’s what I like“ singen sie in Ultraviolet. Und so halten es die B-52’s.

„Funplex“ von den B-52’s ist bei Astralwerks/EMI erschienen.

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Tschuldigung, sagt die Gitarre

Billy Bragg ist das gute Gewissen der englischen Popmusik. Auf seinem neuen Album „Mr. Love & Justice“ klingt er vielseitig wie immer, seine Texte schwärmen von sozialer Gerechtigkeit und der Familie.

Billy Bragg Love & Justice

„This machine kills fascists“ hatte sich der junge Woody Guthrie auf die Gitarre geschrieben. Der Engländer Billy Bragg machte Ende der siebziger Jahre ein trauriges „This guitar says sorry“ daraus. Seine Karriere als politischer Folksänger hatte gerade begonnen, er betrachtete Guthrie als das linke Gewissen Amerikas. In den achtziger Jahren sympathisierte Bragg mit Neil Kinnocks Labour Party, gründete die linke Aktivistengruppe Red Wedge, und streikte mit den Minenarbeitern. Später gab er sein rotes Parteibuch zurück und rief – frei nach Antonio Gramsci – den „Sozialismus des Herzens“ aus. Derweil schrieb er unzählige Stücke auf der E-Gitarre, aus ihnen klang seine Wertschätzung für Bob Dylan, The Clash und eben Woody Guthrie. Bald war Bragg selbst zum guten Gewissen der englischen Popmusik geworden.

Seit seinem letzten Album England, Half English aus dem Jahr 2002 war es still geworden um Bragg, dafür wurde er von jungen Musikern wiederentdeckt: Hard-Fi und Jamie T etwa spielten Lieder wie Levi Stubbs‘ Tears und A New England nach. Nun – im Alter von 50 Jahren – ist auch Billy Bragg wieder da: Mr. Love & Justice heißt das mit seiner Begleitband The Blokes eingespielte neue Werk.

Nur wenig hat sich verändert. Das erste Stück I Keep Faith, ist typisch Bragg’scher Soul-Pop, I Almost Killed You mit einer Mundharmonika verzierter Folk-Minimalismus, M For Me dann perlender Barjazz. Dazu gesellen sich Country-Rumpeleien, Gospel-Chöre und Orgeln. Manchmal jault die E-Gitarre verzerrt, zumeist obsiegen die Akustische und die Harmonie. Bragg hat die Themen seines neuen Albums so beschrieben: „Es deckt gewissermaßen meine beiden größten Leidenschaften ab: die Liebe zur sozialen Gerechtigkeit und die Liebe zu Frau und Familie.“

Im Titelstück fragt er ebenjenen Herrn der Liebe und Gerechtigkeit, was man in Krisenzeiten wie diesen nur tun könne. Er fragt sich selbst – und verweigert die Auskunft. So eindringlich Bragg seit drei Dekaden Missstände beklagt, einfache Antworten hat er schon länger keine mehr.

Bragg war der Sänger der Minenarbeiter, der Sänger der Gewerkschaften, der Maggie Thatcher ins Fegefeuer wünschte. Er war der Mann, der aus Wut und Leidenschaft betörenden Folk und Pop machte. Die Wut ist beinahe verschwunden, vom Politischen wechselt Bragg heute gerne ins Private – er weiß, dass beides zusammengehört. Geblieben ist er ein leidenschaftlicher Liedermacher mit einem unverwechselbaren Timbre. Mr. Love & Justice ist nicht sein bestes Album, doch es ist sehr gut, weil es so vielseitig ist. Braggs Gitarre sagt bis heute „Es tut mir leid“, doch sie kennt noch ganz andere Tonarten.

„Mr. Love & Justice“ von Billy Bragg ist bei Cooking Vinyl erschienen.

Der Sänger von Sonne, See und SozialismusBilly Bragg im großen ZEIT-Interview »

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Brustschwimmen kann sie schon

Die 19-jährige Adele aus London begeistert alle mit ihrem ruhigen Soul. Ihr Material ist herausragend, nur die Produzenten haben zu tief in die Trickkiste gegriffen.

Adele 19

Der alternative Radiosender Motor FM bewirbt seine Musikauswahl mit dem Spruch: „Höre es, bevor es der Mainstream entdeckt.“ Da fragt man sich unweigerlich: Was ist denn so schlimm daran, sich vom breiten, musikalischen Strom umspülen zu lassen? Was treibt diejenigen, die ihm vorausschwimmen müssen?

Es sind die feinen Unterschiede, die eine Gesellschaft strukturieren. Der distinguierte Geschmack des einen teilt ihn von den massenkulturellen Vorlieben des anderen. Es gibt aber auch immer wieder Momente, in denen sich beide einig sind. Momente, in denen Musik aus der Subkultur nach oben dringt und ein unerwartet großes Publikum erreicht, weil sie den Nerv der Zeit trifft. Es sind Momente, in denen sich die Popkultur erneuert und sich die Hörgewohnheiten der Massen verändern.

Aus dem britischen Untergrund krochen 2006 DJ Dangermouse und Cee-Lo Green hervor, sie nannten sich Gnarls Barkley und gaben dem Soul vergangener Jahrzehnte ein zeitgenössisches Gesicht. Die kommerziellen Radiostationen waren hocherfreut ob der frischen Klänge. Diesen Stil griffen Mark Ronson und seine Amy Winehouse auf, drehten noch ein bisschen mehr retrospektiven Seelenschmerz und Straßenglaubwürdigkeit hinein, und fertig war das Wunder: Das Album Back To Black brachte die Durchschnittshörer und die Trendsetter zusammen und setzte neue Maßstäbe.

Der weiße Soul war zurück. Er verband das Vergangene mit modernen Produktionsstilen, zerraspelte alte Hammondorgeln und schmutziges Schlagwerk und heftete elektronische Spielereien an die Schnittstellen.

Dieser Tage nimmt der weiße, der Northern Soul eine weitere Stufe auf dem Weg in die Konzertarenen. Die 19-jährige Adele Adkins aus London hat gerade ihr erstes Album veröffentlicht und schon jetzt alle auf ihrer Seite: die europäischen Radiostationen, die wählerischen Musikexperten und das große Publikum. Wer sie hört, mag sie.

Adeles Lieder sind schlicht und ergreifend. Ruhigen Popsongs fügt sie mit ihrer mal sanften, mal brüchigen Soulstimme das Besondere hinzu. Am schönsten klingt sie ganz allein mit Gitarre oder Klavier – ohne das Balladenorchester, das ihre Kaminzimmermusik zur kitschigen Schmonzette aufbläst. Adeles Material ist herausragend, nur ihre Produzenten haben zu tief in die Trickkiste gegriffen, so als trauten sie dem jungen Talent nicht.

Eg White, der bereits mit Joss Stone, Take That und James Blunt gearbeitet hat, ist verantwortlich für drei typische Popstücke auf dem Album. Die erste Single Chasing Pavements ist solch ein Lied, das White mit Streichern und Trommelwirbeln zwar radiotauglich gemacht aber auch kaputtproduziert hat. Adele hat Kleinodien geschrieben, die zu häufig von Ornamenten erdrückt werden. Auch Mark Ronson durfte einmal Hand anlegen – Cold Shoulder schwimmt im Fahrwasser von Amy Winehouse, setzt aber kein Segel.

Abseits der übergroßen Gesten auf Adeles Album 19 sind wenige zauberhafte Stücke geblieben: Daydreamer und Hometown Glory hallen dafür umso länger nach.

Ja, es gibt Momente in denen sich das Kleine und das Große zu neuer Qualität vermischen. Dieses Album allerdings wird die Hörgewohnheiten der Massen nicht verändern, denn es bleibt beim Altbekannten. Es hat die ballaststoffreichen Balladen für den Rundfunk und die feinen Stücke für daheim. Adele Adkins ist zu wünschen, dass man sie auf der zweiten Platte mit Kurven und Kanten gewinnen lässt. Sie hat gezeigt, dass sie im großen Strom brustschwimmen kann. Nun warten wir auf Schmetterlingsstil.

„19“ von Adele ist bei XL Recordings/Beggars Banquet erschienen.

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