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Khaki ist das neue Bunt

Mit afrikanischen Melodien bringen Vampire Weekend aus New York den Indiepop auf Trab. Ihr Debütalbum ist ein tropischer Früchtekorb.

Vampire Weekend

Oh, eine neue Jungsgruppe aus New York: nicht schon wieder.

Oh, eine neue Jungsgruppe aus New York: ganz außerordentlich!

Ja, der Ton macht die Musik, und die Musik macht den Ton. In diesem Fall macht’s der Ton des „Oh“, wie in dem Lied A-Punk.

Bisher klang das Wort aus dem Mund eines Indierockers nach schmerzhafter Langweile. Ezra Koenig, der Sänger von Vampire Weekend, lässt es nach Kochbananen, Yams und Ananas schmecken. Die Melancholie des Winters ist geschmolzen in tropischer Sonne, vorbei ist die Zeit der beröhrten Baumwollschalträger. Jetzt sind Polohemden und Khaki-Shorts angesagt.

Vampire Weekend langweilten sich im prätentiösen Korsett des Indierock. Mit Experimentierfreude und Offenheit gegenüber allen Klangwelten gingen sie ans Werk und schufen ein beglückendes Debütalbum. Ihre Lieder vereinen Ska, Afrobeat und Highlife mit den Mitteln poppiger und klassischer Komposition. Gitarren dürfen wieder unverzerrt in Terzen schallen, Orgel und Cembalo schütteln Bach aus der kleinen Taste, Streicher flirren am mangofarbenen Horizont, und das Schlagwerk schöpft aus der Lostrommel: Triolen auf Viertel auf Synkopen, Rassel auf Tomtom auf Conga.

All das klingt so bunt wie die in Cape Cod Kwassa Kwassa besungenen Benetton-Pullover. Oder wie ein afrikanisches Festtagsgewand. Die vier Absolventen der Columbia University haben sich umgehört und auf dem schwarzen Kontinent die Melodien gefunden, die ihnen in ihrem Entwurf von interessanter Popmusik fehlten. Das haben schon viele vor ihnen getan – man denke an Paul Simons Graceland, an Damon Albarn oder an A.J. Holmes, den selbst ernannten King Of The New Electric Hi-Life. Das mag man als Exotismus abtun, als billiges Unterscheidungsmerkmal im Kampf ums Musikerdasein. Aber es ist doch niemandem vorzuwerfen, er bringe die ermattete westliche Popwelt ein bisschen auf Trab.

Ezra Koenig schreibt Texte, wie sie von einem graduierten Literaturstudenten zu erwarten sind: voller Metaphern, gesellschaftskritischer Beobachtungen und rätselhafter Referenzen. Allein mit ihrer Analyse ließe sich viel Zeit verbringen, einige Journalisten führen sie irre. Wenn Koenig von einem gewissen Walcott singt, könnte man annehmen, er meine den Literaturnobelpreisträger. Mitnichten, den Walcott in seinem Lied hat er sich einfach ausgedacht. Er ist eine Figur aus einem Film, den Koenig früher einmal machen wollte, und der sollte Vampire Weekend heißen.

Aus dem Streifen wurde nichts. Dafür ging es schnell voran mit der Musik. Die junge Band schloss im vergangenen Jahr einen Vertrag mit XL Recordings, der Plattenfirma, die auch die White Stripes, Devendra Banhart, M.I.A. und Thom Yorke vertritt. Dann wurden die ersten Kritiker auf sie aufmerksam, und nun sollen Vampire Weekend die Pop-Hoffnung 2008 sein. Vampire Year müssten sie heißen.

Der Rummel schert sie wenig. Im Interview sagt der Schlagzeuger Christopher Tomson (welch klangvoller Nachname für einen Trommler!): „Wir konzentrieren uns auf unsere Hälfte der Gleichung. Wir machen die Lieder, mit denen wir uns wohl fühlen. Die andere Hälfte ist die Reaktion der Leute.“ Das hört sich ganz lässig an, zurückgelehnt und bedacht. Ebenso wirkt Ezra Koenig, wenn er von den Musiken Afrikas und Indiens spricht und wie sie von westlichen Künstlern adaptiert werden. Auf den kulturellen Kontext komme es an. Mit anderen Worten: Die Musik macht den Ton.

Ezra Koenig und Christopher Tomson sprechen über adrette Kleidung, Exotismus und Langeweile im Indierock. Lesen Sie hier das Interview »

Das Debütalbum von Vampire Weekend ist bei XL Recordings/Beggars Banquet erschienen.

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Herz bleibt stumm

Hot Chips neues Album „Made In The Dark“ wird überall gepriesen. Sollte diese Musik wirklich richtungsweisend sein, erwartet uns nicht viel Freude.

Hot Chip

Diese Band stehe für die neue, digitalisierte Bohème, sagt der Tagesspiegel.

Diese Band sitze äußerst erfolgreich zwischen den Stühlen, sagt die FAZ.

Diese Band klinge cool wie sonst nichts, sagt der Musikexpress.

Diese Band sei eine Band völlig neuen Typs, sagt die Spex.

Dieses Album sei die Blaupause für elektronische Popmusik 2008, sagt die Intro.

Dieses Album werde eines der besten dieses Jahres sein, sagt die Welt.

Dieses Album sei das Album der Stunde, sagt DIE ZEIT.

Und was sagt das Herz? Nichts. Es bleibt stumm. Unberührt.

Als im Jahr 2006 Hot Chips Platte The Warning erschien, sang und jubilierte es, war erfüllt von Melodien, pochte im Rhythmus. Jetzt mag es sich nicht regen.

An seiner Statt erwacht der Geist und fragt: Was ist passiert? Was ist anders an Made In The Dark? Er legt den Finger in die Rille und horcht.

Elektronik mischt sich mit Elementen aus Rock, Soul, Folk und Rhythm’n’Blues – es ist für jeden was dabei. Hot Chip zitieren sich durch die Popgeschichte. Der Geist hat seine Freude, all diese feinsinnigen Referenzen zu ordnen. Aber etwas reizt die Nerven: Immer immer wieder wieder wieder wiederhohohoholen sich die Phrararararasen.

Rhythmen und Harmoniefolgen drehen sich in engen Zirkeln, das liegt in der Natur der Popmusik. Melodien jedoch schlagen für gewöhnlich größere Bögen, als Alexis Taylor sie mit seinem sanften Tenor intoniert. Hot Chip verwenden die Stimme als weiteres Instrument in einem kleinteiligen Tanzmusikgefüge. Was auf dem Vorgängeralbum mit einer ironischen Warnung begann („Over and over and over and over: The smell of repetition really is on you“), klingt nun erschöpft und einfallslos. Offenbar haben die liebenswerten Tonschlangen, die sich einst durch Hits wie Colours und And I Was A Boy From School wanden, zwischenzeitlich ein Lineal verschluckt.

Auf Made In The Dark legt sich die Monotonie des Gesangs über farbenfrohes Gerassel. Hin und wieder fügen sich Schlagzeug, Gitarren und Synthesizer zu einem Stampfen. Dann wollen sich Füße und Beine freilich bewegen, der Geist ist d’accord. Aber das Herz bekommt lediglich schlichte Balladen vorgesetzt, so das Titelstück Made In The Dark oder Whistle For Will. Musikalisch fad. Da zündet kein Funke. Wie den Melodien fehlt auch den Stücken im Ganzen ein klingender Bogen. Hot Chip kleben abenteuerliche Versatzstücke aneinander – Schlafzimmerproduktion der leichtfertigsten Art.

Es reicht, Finger von der Rille. Warum sprechen alle über diese Band und diese Platte?

Die Vermutung liegt nahe, dass die Musikbranche ihre Hebel angesetzt hat, um eine recht verbindliche Londoner Jungsgruppe zum nächsten großen Ding zu stilisieren: Schaut her, Hot Chip schreiben ihre Musik daheim, spielen mit den Stilen, tragen große Brillen, Bärte und hässliche Pullover, sind nebenher DJs und haben ein Auge für Design! Solch eine Band muss doch aufregend klingen – dies verbreiten die PR-Agenten, und die vereinigte Presse glaubt es ihnen.

Oder kratzt diese Platte an der Eitelkeit der Journalisten? Es hat den Anschein, als wollten sie wiedergutmachen, dass sie dem herausragenden Vorgängeralbum The Warning nicht die angemessene Aufmerksamkeit haben zukommen lassen. So ergötzen sie sich jetzt am mittelmäßigen Nachfolger. Wenn so viele vermeintliche Meinungsführer in ein blasses Echo einfallen, ist zwangsläufig ein neuer Trend ausgerufen.

Obwohl – Trend? Popmusik bringt im besten Fall Herz, Geist und Körper in Balance. Sollte diese Platte richtungsweisend sein, erwartet uns nicht viel Freude.

Im Interview mit dem ZUENDER erzählt der Sänger Alexis Taylor, mit welcher Musik er aufwuchs »

„Made In The Dark“ von Hot Chip ist als CD und LP erschienen bei EMI.

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Einfach ehrlich schön

Die Gruppe Slut aus Ingolstadt lässt Sägen und Trompeten dröhnen. Ihr Album „StillNo1“ gleitet vom Kitsch in die Kapitalismuskritik und läuft zügellos geradeaus.

Slut

Slut kommen aus Ingolstadt, bayrische Kleinstadt, 120.000 Einwohner, Hochburg der CSU. Das Provinzielle wird in der deutschen Rockmusik gern thematisiert. Erst kürzlich sangen Die Türen eine ironische Hymne auf die „Indiestadt“ Münster und auf die Fluchtgedanken, die einen dort umtreiben („Ich will in die große Stadt / Ich hab die kleine satt“).

Slut sind für die Aufnahmen ihrer neuen Platte vom bayrischen Weilheim nach Berlin gezogen und haben dort ein wundervolles Album produziert. StillNo1 heißt es. Der Sänger Christian Neuberger sagt: „Bei der Produktion herrschte große Zügellosigkeit.“ Noch vor einem Jahr hatte die Band die Dreigroschenoper von Kurt Weill und Bertolt Brecht für das Ingolstädter Schauspielhaus vertont – minimalistisch, sparsam instrumentiert.

Auf StillNo1 aber dröhnen die singenden Sägen, breiten Gitarren, Trompeten, Xylophone und Synthesizer. Ein neues Spielfeld habe man sich da geschaffen, schreibt Neuberger über die Platte. Man habe kein Konzept für das neue Album gehabt, außer den Wunsch, den Minimalismus über Bord zu werfen. Das ist gelungen.

Über der Musik schweben Neubergers Texte ohne Ironie: „If I had a heart / I would award it / If I had a soul / it was cold“, heißt es in einem Lied, das vom Verlernen der Liebe handelt. Das ist alles einfach und geradeaus. In dem Stück Ariel übt Neuberger sanfte Kapitalismuskritik: „We’re tought to think economic / if we don’t do it for money it’s like we don’t do it for all“. Es gibt Liebeslieder am Rande des Kitschs wie Failed on you und Wednesday. Und hin und wieder werden die Großen grob zitiert: Tommorow will be mine erinnert an die Beatles, Come On an Isaac Hayes.

Was anderswo störend wäre, passt zu Slut. Der Hörer sucht gar nicht nach einem ironischen Bruch oder besonderen Kniffen. Die Platte ist ehrlich und voller Begeisterung für die Musik. Das ist schön.

Beim Auftritt im ausverkauften Hamburger Knust stand Christian Neuberger am Mikrofon, die Gitarre umgeschnallt, und sang seine Lieder mit der Begeisterung eines 14-Jährigen und den Gesten einer Operetten-Diva. Gegen Ende des Auftritts spielten Slut eines ihrer ersten Stücke. Eine Rocknummer, wie gemacht für die Provinz, in der sich die Jugend an Busstationen trifft, um von der Welt zu träumen und Händchen zu halten.

Auf der Homepage der Band steht, was sich Slut vorgenommen haben: Don’t talk, just play. Auch das ist schön.

„StillNo1“ von Slut ist als CD und LP bei Virgin/EMI erschienen.

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Planetarium, Spätvorstellung

Clare & The Reasons laden des Nachts in die Sternwarte: Sphärische Klagen und poppige Seufzer funkeln auf ihrem ersten Album „The Movie“.

Claire and the Reasons The Movie

Ein Mädchen geht von einer Party nach Hause. Dort hat es einen jungen Mann kennengelernt, der schon früher weg musste. Er hat gesagt, er würde sie vielleicht mal anrufen, aber das kennt sie schon. The same old story. Vielleicht mochte er ihre Stimme nicht, vielleicht hätte sie doch lieber ein anderes Parfüm auflegen sollen. Das Wörtchen vielleicht kann einen ziemlich nachdenklich machen, wenn man nachts um halb zwei nach Hause geht.

Clare Muldaur, die Tochter des Folk-Gitarristen Geoff Muldaur, fängt solch melancholische Schwebezustände ein und bleibt dabei stets in träumerischer Gelassenheit verwurzelt. Ihr Album The Movie trägt mediterrane Züge dank der betörenden Arrangements des französischen Violinisten Olivier Manchon. Er hat mit Muldaur am Bostoner Berklee College of Music studiert und leitet ein kleines Kammerorchester.

The Movie ist eine Spätvorstellung. Der Soundtrack setzt sich aus Nocturnen zusammen: Love Can Be A Crime (mit Van Dyke Parks am Piano) und Alphabet City darf man als moderne Torchsongs verstehen, als Klagen über unerwiderte Liebe. Cook For You balanciert zwischen neoklassischem Walzer und poppigen Seufzern. Die sphärische Planetenode Pluton erinnert von fern an die Worte des großen amerikanischen Komponisten Johnny Mercer (Moon River): Beim Schreiben pflege er sich auf sein Sofa zu legen und die Augen zu schließen, „um erst einmal in Einklang mit dem Universum zu kommen“. Clare Muldaurs Musik klingt bisweilen gar wie von einem anderen Stern, auch das ist sehr reizvoll an diesem außergewöhnlichen Album.

Und das Mädchen? Sie ist einen kleinen Umweg durch die stillen Straßen gegangen; das macht man manchmal, wenn man nachdenken muss. Inzwischen ist es nach halb vier, und als sie die Tür aufschließt, steht ihre Mitbewohnerin vor ihr. Wie soll man schon schlafen, wenn andauernd das Telefon klingelt? Das erste Mal um kurz nach zwölf, und danach ungefähr jede halbe Stunde wieder. Im Schwebezustand ist eben alles möglich. Genauso klingt The Movie.

„The Movie“ von Clare & The Reasons ist bei Frog Stand/Cargo erschienen.

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Furt mit den Klagen

Über die Jahre (32): Naked Lunch aus Österreich wollten im Jahr 2007 die Schwermut besiegen. Auf „This Atom Heart Of Ours“ ließen sie das Schöne und das Triste harmonisch klingen – ohne dem Kitsch zu verfallen.

Naked Lunch This Atom Heart Of Ours

Anfang vergangenen Jahres erschien This Atom Heart Of Ours, das fünfte Album der Klagenfurter Band Naked Lunch. Produziert wurde es – wie das düstere Songs For The Exhausted zuvor – von Olaf Opal, er arbeitete auch mit The Notwist zusammen. This Atom Heart Of Ours ist kein Abgesang, sondern ein Neuanfang, die Band klingt nun zuversichtlich. Filigran feilen die drei Musiker an der Verbindung von Gitarren und leiser Elektronik, das brüchige Timbre des Sängers Oliver Welter lässt keinen Kitsch zu.

Welter schreibt die Stücke an der Gitarre. Mittlerweile hat er einen eigenen Ton gefunden. „Wir haben eine Geschmackspolizei in der Band, die immer die Sirenen anwirft, wenn einer von uns auch nur von einem einzigen Klang Bauchweh bekommt“, erklärt er.

Über seine Stücke sagt er: „Zentraler Gedanke ist meist die eigene Hölle“. Gemeinsam mit Herwig Zamernik und Stefan Deisenberger malt er diese Hölle auf This Atom Heart Of Ours in leuchtenden Farben aus. Im Titelstück überraschen Naked Lunch mit versöhnlichen Zeilen: „The bells they were ringing with a beautiful sound. A new day rising, a way that we found.“ Die Stimme klingt weltverloren, die Gitarre traurig. Und dennoch: Schwermut will besiegt werden auf diesem Album.

Sie lässt sich mit Schönheit zwingen, oder besser: durchdringen. Das Schöne und das Triste klingen zusammen. Wie der englischen Band The Good, The Bad & The Queen gelingt es Naked Lunch, ein Gefühl zu musikalisieren – das Traurige im Glück und das Glück in der Traurigkeit. Zerbrechlich klingen sie, verloren. In My Country Girl singt Welter „I don’t like where I live, but I love to live with you“, das ist eine Absage an die Heimat Kärnten und im selben Moment eine rührende Liebeserklärung.

This Atom Heart Of Ours ist ein verspieltes und zugleich staubtrockenes Album. Die Band orientiert sich weniger an The Notwist als zuvor, stattdessen jubilieren Chöre und Orgeln, ganz ohne spirituelles Pathos. Dann und wann wehen Störgeräusche hinein, knackt und kracht die Elektronik. Man fühlt sich erinnert an die frühen Jahre der Rockband. Kurz darauf umfangen einen die Harmonien wieder und man träumt weiter. Ganz am Ende dann, in In The End, heißt es: „My arms will hold you in the end, you will forgive me in the end, my love will find you in the end“. In Zukunft wird Liebe sein, wird Freiheit sein, doch bis dahin, so ahnen wir auch beim Blick auf die Hülle, ist es ein steiniger Weg.

„This Atom Heart Of Ours“ von Naked Lunch ist im Jahr 2007 als CD und LP bei Louisville Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(31) Neil Young: „Dead Man“ (1996)
(30) The Exploited: „Troops Of Tomorrow“ (1982)
(29) Low: „Christmas“ (1999)
(28) Nena: „Nena“ (1983)
(27) Curtis Mayfield: „Back To The World“ (1973)
(26) Codeine: „The White Birch“ (1994)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

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Zum Freudentag zehn Pflaumen

Die Plattenfirma Thrill Jockey aus Chicago wird 15 Jahre alt. Zum Geburtstag gibt es „Plum“, ein Pappkistchen mit zehn Vinyl-Singles. Die Künstler des Labels spielen sich darauf gegenseitig nach.

Thrill Jockey Plum

Da stockt das Hören. Zwanzig Stücke auf zehn Singles, das heißt: alle drei bis fünf Minuten aufspringen, die Nadel abnehmen, das Vinyl umdrehen oder wechseln, die Nadel wieder auflegen und das Scheibchen in Bewegung bringen. Plum nennt das Label Thrill Jockey ein Pappkistchen mit zehn Singles, aufgenommen zum Fünfzehnjährigen, limitiert auf 2.000 Stück. Die Künstler der Plattenfirma spielen sich gegenseitig nach. Plum gibt es nicht auf CD, die zwanzig Stücke sollen für alle Zeiten exklusiv bleiben. Beim Label kostet der Spaß 35 US-Dollar plus Porto und Zoll, in Deutschland bekommt man das Paket für rund 45 Euro.

Wer singt nun hier? Nur wenige Künstler tragen einen großen Namen. Der Kiste ist kaum Information zu entnehmen, es gibt kein erläuterndes Büchlein, auf den Plattenhüllen sind nur die Namen der Beteiligten verzeichnet. So trifft der Hörer lauter Unbekannte, fühlt sich ein bisschen blind. Namen und Pflaumen tropfen, irgendwann horcht er einfach und fragt sich gar nicht mehr, ob er all diese Leute kennen müsste.

Eine Angela Desveaux macht den Anfang. Sie singt ein sprödes Country-Liedchen, das Original stammt von der Band Abouretum. Two Moons schleppt sich, die Slidegitarre klagt ein langes Solo. Ein nettes Stück, aber ein mitreißender Beginn ist das nicht.

Auf der Rückseite singt John Parish mit einer Partnerin Vampiring Again von Califone. Marta Collica heißt die Dame. Die beiden sanften Stimmen passen gut zusammen, das Stück klingt charmant und etwas ländlich. Die Gitarren steigern sich, am Ende geht es hier richtig laut zu.

Aufstehen, Platte wechseln.

Auf jeder Single ist eine andere Pflaumensorte abgebildet, ihre Blätter, ihre Frucht und ihre Kerne. Die zweite Single ziert eine rot leuchtende Pflaume, ob es hier etwas feuriger zugeht? Nun kommen die auf der ersten Single Nachgespielten zum Zug. Arbouretum singen Bus Stop von Thalia Zedek, ein schunkelndes Rocklied mit schrammeligen Gitarren. Feuriger ist das, ja.

Eine der ersten Bands des Alternative Country war Freakwater aus Kentucky. In den vergangenen zwölf Jahren veröffentlichte das Duo sechs Alben bei Thrill Jockey, auf Plum werden sie gleich dreimal nachgespielt. Den ersten Versuch unternehmen Califone, sie tragen auf der Rückseite Jewel vor, mehrstimmig, akustisch, blechern.

Aufstehen, Platte wechseln.

Und wieder Califone. The Sea & Cake aus Chicago spielen deren Spider’s House in ganz untypischem Klang. Die Blechbläser tönen, sie zerwirbeln die für Califone so typische glatte Oberfläche. Im Jahr 1995 war Thrill Jockey von New York nach Chicago umgezogen, wegen der Steuern und der Miete, heißt es. Das Label hat den Klang Chicagos geprägt, Ende der Neunziger erblühte hier der sogenannte Post-Rock. Bands wie Tortoise und The Sea & Cake brachen die üblichen Rock-Strukturen auf und fügten ihm ein paar Bluenotes hinzu. Viele Jazzkapellen versuchten sich nun als Rocker.

Auf der Rückseite der dritten Single sind The Zincs zu hören. Jim Elkington, der Gitarrist der Band Sophia, hat zuhause mithilfe eines Schlagzeugcomputers, eines Keyboards und einer Gitarre Howe Gelbs Blue Marble Girl aufgenommen. Welch reizvolle Kargheit. Sie erinnert an die Schlafzimmerlieder der Band Casiotone For The Painfully Alone.

Aufstehen, Platte wechseln.

Bei aller Liebe zur Gestaltung, diese Zusammenstellung anzuhören ist reichlich umständlich. Hätte man nicht eine CD beilegen können? Die könnte man dann anhören, und die Plaumenkiste machte sich gut im Plattenschrank.

Es folgt die gemeine Hauspflaume. Vorn singen Tortoise das Lied Fallslake von Nobukazu Takemura. Die Stimme ist verzerrt, ein bisschen wie bei Daft Punk. Der Rest klingt sehr bekannt, ein flirrendes Schlagzeug, eine leicht übersteuerte Orgel, ein lebendiger Bass. Das Stück wäre auch instrumental ganz wunderbar.

Nach kurzer Unterbrechung ist die Gruppe Pullman zu vernehmen, das Zweitprojekt von Tortoises Douglas McCombs. In ihren Händen beginnt Three In The Morning zu Schweben. Keyboards breiten eine Fläche aus, der Bass tut darauf vorsichtige Schritte, die Gitarre spielt ein Solo in Zeitlupe, ihre Töne zersägen den Raum. Von dem verschwurbelten Jazz des Chicago Underground Quartet ist kaum etwas übrig.

Das Konzept von Plum hat auch sein Gutes. Three In The Morning möchte nachhallen und darf das. In den dreißig Sekunden bis Thalia Zedek auf der fünften Single Flat Hand anstimmt, kann es wirken und sich setzen.

Also, Pause. Dann die Platte wechseln.

Auch Thalia Zedeks Beitrag ist im Original von Freakwater, wieder wird mehrstimmig gesungen. Die Country-Klänge halten sich zurück. Post-Rock und Country waren in den vergangenen Jahren die musikalischen Pole des Labels, auch in der Pflaumenwelt liegen sie weit auseinander. Und das obwohl die personellen Verzweigungen bei Thrill Jockey zahlreich sind.

Eleventh Dream Day bespielen die Rückseite. Douglas McCombs steht am Bass, Janet Beveridge Bean von Freakwater singt im Hintergrund und spielt einen simplen Rhythmus auf dem Schlagzeug. Die Band macht aus der behutsamen Ballade I Like The Name Alice von Sue Garner und Rick Brown ein dröhnendes Rockstück. Douglas McCombs spielte auch beim Original mit.

Aufstehen, Platte wechseln.

Single Nummer sieben, und wieder Freakwater. Diesmal nimmt Bobby Conn sie auseinander. Sein Washed In The Blood ist eine ausgelassene Tanznummer, die Fiddle ist nur noch als Sample im Refrain zu vernehmen. Wenn derart Neues entsteht, macht Plum am meisten Spaß.

Mutig gehen auch Adult auf der Rückseite zu Werke. Ihr Underwater Wave Game – ursprünglich von Pit Er Pat gesungen – ist verdrehter Elektrorock, überkandidelt instrumentiert und kieksend gesungen.

Aufstehen, Platte wechseln.

Karibische Klänge fließen aus dem Lautsprecher. Pit Er Pat aus Chicago tragen nun, unterstützt von sanften Bläsern und einer leiernden Gitarre, Flew Out Of My Window von The Lonesome Organist vor. Das Stück hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel, damals war es eine klaustrophobische Nummer, von Jeremy J. Jacobsen auf Gitarre, Xylofon und singender Säge eingespielt. Er jodelte ein bisschen dazu, Pit Er Pat belassen es beim Instrumentalen.

Sue Garner und Rick Brown nahmen sich ein Stück der abgedrehten Japanerinnen OOIOO vor. Es gelingt ihnen, das wilde Getrommel, Gepfeife und Geschrei von UMO noch zu überbieten. Sie verändern nicht viel, allein sie legen eine Schippe drauf. Die Trommeln hallen tief, der Bass grunzt. Sue Garner schnarrt eine Mischung aus Englisch, Japanisch und Fantastisch ins Mikrofon, im Hintergrund quietscht eine Blockflöte.

Hinterher braucht der Hörer eine längere Pause, zwei Minuten mindestens. Dann: Aufstehen, Platte wechseln.

David Byrne macht offensichtlich gern mit bei schrägen Projekten. Kürzlich trug er zu David Shrigleys Worried Noodles bei, nun singt er Thrill Jockey das Geburtstagsständchen. Vor fünf Jahren hatte er hier mit Musikern der Bands Belle & Sebastian und Mogwai einen Soundtrack veröffentlicht. Nun arrangiert er Ex-Guru von den Fiery Furnaces ein bisschen um. Außer der Stimme verändert er nicht viel, ein bisschen schade ist das.

Directions In Music spielen auf der Rückseite Jeff Parkers Toy Boat. In den letzten fünf Jahren hatte Parker zwei luftige Jazz-Alben bei Thrill Jockey veröffentlicht. Hier klingt es nach Tortoise, rockig und jazzig, deren Bundy K. Brown spielt mit. Directions In Music holen den Bass nach vorne und verleihen Toy Boat Schwere.

Aufstehen, Platte wechseln.

Nun dürfen die bereits vielgeehrten Freakwater selbst ran, ihre Version von Passengers der Zincs ist noch spröder als das Original. Catherine Irwin und Janet Beveridge Bean singen zweistimmig und begleiten sich an Gitarre und Mandoline. Es rauscht und knackt, das Stück könnte auch in den zwanziger Jahren in den Appalachen entstanden sein. Gackern da Hühner im Hintergrund? Die Stimmen der beiden Frauen passen ganz herrlich nicht zusammen. Das Lied ist viel zu kurz, am besten hört man es gleich zweimal.

Rund 80 Künstler und Bands haben in den vergangenen fünfzehn Jahren bei Thrill Jockey Platten veröffentlicht, immerhin ein Viertel darf hier gratulieren. Der nächste ist Archer Prewitt, Gitarrist von The Sea & Cake. Er impft The National Trusts Mrs. Turner den Gospel ein. Minutenlang singt er im Chor vom Nice girl, gooo-hoood Girl, Trompete und Saxofon wetteifern, ein bisschen geklatscht wird auch.

Aufstehen, Platte wechseln.

Die zehnte Single. Wieder ist die Verbindung direkt, Mouse On Mars mischen The Sea & Cakes Middlenight neu zusammen, das ist ein bisschen zu anstrengend. Auf der Rückseite ist Howe Gelb zu hören, er schließt den Kreis. Boxers ist ein Stück von John Parish, ihn hörten wir auf der ersten Single.

Das Knacksen der Auslaufrille hallt noch ein paar Minuten durch die Lautsprecher. Jetzt braucht der Hörer erstmal ein bisschen Ruhe.

„Plum“ ist auf Vinyl bei Thrill Jockey erschienen.

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Opulenz zum Quadrat

Konstantin Gropper alias Get Well Soon hat in Mannheim Popmusikdesign studiert. Sein erstes Album ist trotzdem gut, bunt und schwelgerisch.

Rest Now Weary Head You Will Get Well Soon

Einst hatte Mannheim Goethe, Schiller und Mozart. Heute sind Jule Neigel, Joy Flemming und Xavier Naidoo geblieben. Hier fließt der Neckar in den Rhein, von der Nachbarstadt Ludwigshafen aus stinkt die BASF herüber. Die Innenstadt ist quadratisch angelegt, man wohnt in H7, Q4 oder L9.

In Mannheim kann man seit vier Jahren Musikbusiness und Popmusikdesign studieren. An der Popakademie Baden-Württemberg lehren Heinz Rudolf Kunze, der ehemalige Chef von Universal Music, Tim Renner, sowie Mitglieder der Söhne Mannheims und der Fantastischen Vier. Den großen Durchbruch hat noch keiner der Akademiker geschafft. Ist das so schlimm? Es gibt wahrlich genug Popmusik mit Design.

Konstantin Gropper ist Mitte 20 und hat kürzlich das Studium in Mannheim abgeschlossen. Ihm wünscht man den großen Erfolg. Unter dem Namen Get Well Soon hat er sein Debütalbum Rest Now, Weary Head! aufgenommen. Ein Musterstudent kann er nicht gewesen sein: Was hier zu hören ist, klingt wenig quadratisch, nicht glatt und schon gar nicht konstruiert. Die Pressemitteilung zur Platte sagt nichts über einen Bachelor-Abschluss. Hingegen raunt sie von seiner oberschwäbischen Herkunft und seinem Umzug nach Berlin, von seiner frühen Ausbildung an klassischer Gitarre und Cello.

Groppers Album lässt sich leicht ins aktuelle Popgeschehen einordnen. Die traurigen Trompeten Beiruts ertönen hier (You/Aurora/You/Seaside), der schwere Folk von Bright Eyes dort (Christmas In Adventure Parks). Wie seine Kollegen nimmt Konstantin Gropper die Lieder meist allein auf und holt sich nur für Auftritte Hilfe. Auch er trägt den Scheitel streng. Er kleidet die getragenen Melodien in opulente Gewänder aus britischem Pop. So mischt sich Leichtigkeit unter Schwermut, das Überkandidelte verschwimmt in Tränen.

Seine Kompositionen sind klar, doch nicht berechnend. Immer wieder schlägt Gropper Haken, tauscht die Mittel des Pop gegen die der klassischen Musik. Das Album beginnt mit dem Prelude und endet 60 Minuten später mit der Coda.

Und wie beim klassischen Orchester klingen auf der Platte derart viele Instrumente und Stimmen, dass es acht Leute braucht, solch ein Dröhnen auf die Bühne zu bringen. Glockenspiel, Banjo, Akkordeon, Trompete, Geige, Klavier, Gitarre, Bass und Schlagzeug – aus den Lautsprechern quillt eine wahre Lust am pastösen Farbspiel. Manchmal kippt die Opulenz in den Kitsch, Help To Prevent Forest-Fires ist weniger elegisch als schmierig, Witches! Witches! Rest Now In The Fire geht unter in süßlichen Chören und jubilierenden Streichern. Der hineingeschaukelte Walzer ist eine Strapaze.

Den Erstsemesterkurs „Texten in deutscher Sprache“ bei Herrn Naidoo hat Gropper offenbar geschwänzt, er singt Englisch, ein gutes dazu. Er erzählt davon, dass man in Alaska keine Kühlschränke brauche und davon, dass das Leben sowieso keine Zukunft habe. Alles ohne erzwungene Reime. Aus Titeln wie I Sold My Hands For Food So Please Feed Me und Ticktack! Goes My Automatic Heart sprüht ein feiner Humor.

Gerade dieses Ticktack! Goes My Automatic Heart fällt durch seine Kargheit auf. Gropper singt zur Gitarre, begleitet von seinem eigenen „Oohh-oohh-oohh-oohh“ und elektronischem Zirpen. Ebenso Born Slippy Nuxx, die Coverversion des Techno-Hits von Underworld aus dem Jahr 1996. Der verschleppte Rhythmus und das sanft gestrichene Cello müssen keine Tanzfläche füllen.

Konstantin Gropper mag Stanley Kubricks Werke, das kann man auf seiner Internetseite nachlesen. Ein bisschen so wie dessen Filmkunst ist auch Rest Now, Weary Head!. Bunt und schwelgerisch, ein Genuss, den man am besten fassen kann, wenn man den Kopf abschaltet und sich berauschen lässt.

„Rest Now, Weary Head!“ von Get Well Soon ist als LP und CD bei City Slang erschienen.

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Fest in Bienenwachs

Über die Jahre (29): Weihnachtsplatten sind unerträglich? Diese nicht. Vor acht Jahren versüßten Low unserem Autor zum ersten Mal die Adventszeit, seitdem immer wieder.

Low Christmas

Das Schlimmste an Weihnachten ist die Musik! Mal ehrlich: Weihnachtsplatten sind das Gaukelwerk abgehalfterter Popstars. Die schnelle Mark mit der eigenen Einfallslosigkeit und dem Wärmebedürfnis der Fans zu verdienen, ist so abstoßend wie zynisch.

Es gibt wenige Ausnahmen. Zwischen den grellen Lämpchen von Wham und Chris Rea, Céline Dion und André Rieu funkelt verhalten ein warmes Bienenwachskerzenlicht: Christmas von der Gruppe Low, einem Trio aus Duluth, Minnesota. Angeführt vom Mormonenpaar Alan Sparhawk und Mimi Parker machen sie andächtige Musik, die ohne Kitsch auskommt. Lange galten sie als langsamste Band der Welt. Low spielen in Minimalbesetzung, zu dritt stehen sie aufgereiht vor einem roten Vorhang: rechts der Bass von Zak Sally, links die Gitarre von Alan Sparhawk und in der Mitte Mimi Parker mit Mikrofon und etwas Schlagwerk. Ist das Pop? Ist das Rock? Oder etwa Folk? Egal.

Töne stellen sie in den Raum, breiten sie aus, lassen sie verhallen. Darüber schwebt ein Gesang, der das Herz erwärmt. Alan Sparhawk und Mimi Parker harmonieren hervorragend. Wenn sie zusammen ins Mikrofon hauchen, entstehen Momente der Magie. Die Welt bleibt einen Augenblick stehen, man kann durchatmen und Geschehenes betrachten.

Im Jahr 1999 haben Low dieses Album aufgenommen, es befinden sich acht Weihnachtslieder darauf. Sie haben die CD im Eigenverlag veröffentlicht – eigentlich nur für einen kleine Fangemeinde. Seither wird es immer wieder aufgelegt. Christmas verbindet weihnachtlichen Frohsinn mit Melancholie und Düsterkeit. Low spielen darauf einige klassische Weihnachtslieder wie Little Drummer Boy und Silent Night in sehr ruhigen Versionen. Ihr Blue Christmas ist White Christmas für Trauerklöße. Das Stück haben schon Elvis, Céline Dion und der Punkrocker Billy Idol gesungen, bei Low leuchtet es wie der Polarstern: „You’ll be doing alright with your christmas of white“. Aus Mimi Parkers Stimme klingt eine Spur abgründigen Humors. Dazu gibt es eigene Stücke der Band zu hören.

Christmas ist eine ungewöhnlich kunstvolle Platte. Im Gesang herrscht Harmonie, in der Musik tauchen immer wieder Dissonanzen auf. Sparsam streut Zak Sally seine dumpfen Töne ein. Low sind moderne religiöse Künstler, sie machen religiöse Kunst modern. Zur Hintergrundbeschallung beim Auspacken der Geschenke ist diese Platte zu schade.

„Christmas“ von Low ist erstmals im Jahr 1999 bei Chairkicker’s Music/Rough Trade erschienen.

Der Tonträger geht nun in den Festtagsurlaub und legt am 2. Januar die nächste Platte auf.

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40 Pfund für anderthalb Kilo

Die Geschichte des neuen Albums der britischen Band Radiohead dürfte bekannt sein. Aber wie klingt „In Rainbows“ eigentlich?

Radiohead In Rainbows

„Das Vertriebsgedöns war interessanter als das Album selbst“, schreibt die Spex in ihrer Jahresliste und schiebt Radioheads In Rainbows auf den letzten Platz. Den Wirbel auch musikferner Medien verantwortet wohl am wenigsten die Band: Sie hatte Anfang Oktober auf ihrer Website das Erscheinen ihres siebten Albums beinahe heimlich angekündigt. Zwei Monate lang konnte man es zu einem selbstbestimmten Preis herunterladen. Die Geschichte kennt mittlerweile jeder.

Das Geschrei über Radioheads vermeintliche Revolutionierung des Popgeschäfts wurde kürzlich abgelöst vom Vorwurf der Heuchelei und der PR-Trickserei. Das eine ist so absurd wie das andere. Seit einigen Wochen haben sie einen neuen Plattenvertrag, zwischen den Jahren erscheint In Rainbows nun auch auf traditionelle Weise. Seit dem 11. Dezember kann man das Album auch nicht mehr legal kostenfrei herunterladen. Das ist gut so. Die Qualität der MP3-Dateien war schlecht, eine Hülle für die daraus gebrannte CD musste man selbst entwerfen.

Dieser Tage wurden die sogenannten Discboxen ausgeliefert, die man seit Oktober parallel zur digitalen Version erstehen konnte. Das kleine Bild über diesem Text kann nicht wiedergeben, welchen Wälzer Radiohead nun denen ins Haus lieferten, die 40 britische Pfund auf den Tresen ihres Internetsupermarkts gelegt hatten. Ein dickwandiger Schuber, darin ein Buch in Schallplattengröße. Vorne und hinten stecken schwere Vinylscheiben. Sie sind auf 45 Umdrehungen abzuspielen, einen besseren Klang gibt es nicht. In der Mitte ist ein Textheft eingeklebt, daneben befinden sich zwei CDs. Auf der ersten ist das reguläre Album, auf der zweiten acht weitere Stücke, es heißt sie blieben exklusiv in dieser Box erhältlich. Ein kunstvolles Fotoheft in Großformat liegt auch bei, all das wiegt knappe anderthalb Kilo.

Thom Yorke hatte in einem Interview gesagt, die Stimmung von In Rainbows knüpfe an ihr zehn Jahre altes Album OK Computer an. Diesen soufflierten Zusammenhang hörten viele Rezensenten in die Musik, doch so eindeutig ist das nicht. Klangliche Bezüge finden sich zu OK Computer ebenso wie zu den elektronischeren Alben Kid A und Amnesiac sowie zu ihrem letzten Album aus dem Jahr 2003, Hail To The Thief. Allein das rockige Gebretzel ihres ersten Albums Pablo Honey sparen sie – beinahe – aus.

15 Step eröffnet das Album und legt einen flirrenden Rhythmus vor. Es ist schwer zu entscheiden, ob hier ein Schlagzeugcomputer hämmert oder ein überaus präziser Phil Selway. Darüber liegt eines dieser typischen zarten Gitarrenmuster, darunter ein drängender Bass. Es folgt das ruhelose Bodysnatchers: „I have no idea what I am talking about / I am trapped in this body and can’t get out“ jault Thom Yorke. Und später „I have no idea what you are talking about / Your mouth moves only with someone’s hand up your ass“. Ohne Textheft versteht man kein Wort, auch, da die Gitarren so röhren. Keine Angst, In Rainbows ist kein Rockalbum. In der Folge wird es ruhiger und komplexer.

Wierd Fishes/Arpeggi, Reckoner und das abschließende Videotape kommen behutsam daher, früher oder später galoppiert ein schräger Rhythmus durch die Muße oder wird eine Schaufel Lärm aufgelegt. Wirkliche Ruhe strahlen nur Nude und Faust Arp aus.

Am erstaunlichsten ist All I Need. Nicht nur der Titel des Stücks erinnert an die französische Band Air. Eine Weltraumorgel spielt die immergleichen sechs Töne, das Schlagzeug klingt schleppend. In der Liedmitte setzt ein Glockenspiel ein und hebt die Melodie in säuselige Höhen, am Ende verliert sich alles im Scheppern des Beckens. Die Lautstärke der Instrumente ist perfekt aufeinander abgestimmt, kein Ton stört, keiner fehlt. Überhaupt, klanglich ist In Rainbows ebenso überwältigend wie musikalisch.

Die Bonus-CD macht dort weiter, wo das Album aufgehört hat. Die kurze Spielerei MK 1 übernimmt die Klaviermelodie von Videotape und auch die anderen Stücke klingen weder anders noch schlechter als die zehn zuvor gehörten. Allenfalls etwas karger. Last Flower und 4 Minute Warning sind grazil und herzzerreißend, alleine Bangers & Mash ist ein bisschen zu simpel rumpelig geraten. Schiebt man die CD in den Computer kann man sich rund 120 Fotos und Zeichnungen der Band anschauen.

Vergessen wir das Gejammer der Musikindustrie und das Rauschen im Blätterwald. Ob mit oder ohne Plattenvertrag, von der schreibenden Zunft geliebt oder nicht: In Rainbows ist eigenständig und ergreifend, einfach fantastisch.

„In Rainbows“ von Radiohead erscheint am 28.12 als LP und CD bei XL Recordings/Beggars Banquet. Der freie Download ist nicht mehr möglich, Restexamplare der sogenannten Discbox sind solange der Vorrat reicht auf der Website der Band erhältlich.

Wer „In Rainbows“ über die Website erstanden hat und die Bestätigungsmail an amplive@onesevensevensix.com weiterleitet, bekommt Mitte Januar die Download-CD „Rainydayz“ geschenkt. Darauf befinden sich Remixe von einigen Stücken des Albums. Ob sich das lohnt, kann man hier entscheiden.

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So will ich auch sein!

Über die Jahre (28): Im Jahr 1983 erschien das erste Album von Nena. Unsere Autorin war damals neun Jahre alt und entdeckte durch die Sängerin ihre Liebe zur Musik.

Nena 1983

Im Jahr 1982 war Nena 22 Jahre alt, ich war neun. Plötzlich wirbelte sie durch den Fernseher, ich wollte sein wie sie. Im Textilunterricht lernten wir gerade das Handarbeiten. Ich häkelte zwei Schweißbänder aus rotem und aus gelbem Baumwollgarn und bestickte sie mit vier Buchstaben: NENA. Das Rote trug ich am rechten Arm, Tag und Nacht, auch in der Badewanne. Ich hatte es so zusammengenäht, dass es sich nicht mehr abnehmen ließ. Das Gelbe, ich trug es am linken Handgelenk, hatte einen Druckknopf.

Als Fünftklässlerin wurde ich wegen der Bänder beinahe von einer jungen Frau verkloppt. Sie fragte, ob ich Nena-Fan sei. Ich gab frech zurück: „Nee, wie kommst du denn darauf?“ Sie trat auf meinen neuen weißen Turnschuhen herum und spuckte mir ins Gesicht. Es war nicht Nenas Schuld, ich hatte einfach Pech. Nenas Debütalbum wurde im Jahr 1983 meine erste Langspielplatte, zuvor besaß ich nur eine Maxi-Single von Trio.

Nena hatte ihren bürgerlichen Namen – Gabriele Susanne Kerner – gegen einen Spitznamen getauscht, sie sah toll aus und war selbstbewusst. So wollte ich auch sein! Ich tanzte in meinem Zimmer, hüpfte und sang laut ihre Lieder. Zu Indianer führte ich einen Indianertanz auf, 99 Luftballons war ein schönes Lied gegen den Krieg, fand ich. Nena sang lässig und auf Deutsch, sie wirkte frisch und zuversichtlich. Heute würde ich sagen: Sie war authentisch.

Meine Eltern riefen mich, wenn Nena in einer Talkshow auftrat. Wenn sie sprach, leierte und kicherte sie, das war mir peinlich. Ich sammelte eifrig Zeitungsartikel und Bilder, meine Schulfreundinnen brachten mir Poster aus der Bravo mit – die meine Eltern mir niemals kauften – und ich klebte alles in große Malblöcke. „Nena und andere Musikgruppen“ hatte ich darauf geschrieben, sie lagern jetzt auf dem Dachboden.

Mit Nena endete meine Kindheit, sie weckte den Teenager in mir. Ihr Erfolg löste meine Liebe zur Musik aus – auch wenn mich ihre Lieder heute lediglich aus Nostalgie lächeln lassen. Vielleicht habe ich deshalb immer mal wieder verfolgt, wie es mit ihr weiterging. Als sie nach dem Tod ihres ersten Kindes gesunde Zwillinge bekam, freute ich mich für sie. Und als sie neulich im Laden vom Titel der Zeitschrift emotion strahlte, nahm ich das Heft mit zur Kasse.

„Nena“ von Nena ist im Jahr 1983 bei CBS erschienen und heute bei Sony BMG erhältlich.

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(26) Codeine: „The White Birch“ (1994)
(25) The Smiths: „The Queen Is Dead“ (1986)
(24) Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (1980)
(23) Sister Sledge: „We Are Family“ (1979)

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