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Pause nach Nummer 7

The Innits aus Berlin gehen geradeaus. Ihr Debüt „Everything Is True“ braucht keine Spielereien und Schlenker. Es scheppert, klingt mitreißend und manchmal ganz wohlig.

The Innits Everything Is True

Welch ein Albumtitel! Everything Is True, alles ist wahr. Keine Spur von postmoderner Beliebigkeit. The Innits aus Berlin hauen fröhlich naiv auf ihre Pauken und Gitarren. Dreizehn Stücke sind auf ihrem Debütalbum, zumeist flott und kurz. Es scheppert und kratzt, als wär die Platte dreißig Jahre alt. Ist sie aber nicht.

Der Schlagzeuger singt. Mek Obaam heißt er, in den vergangenen Jahren stand sein Schemel auf der Bühne, wenn Barbara Morgenstern und Schneider TM auftraten. Ein Soloalbum hat er auch aufgenommen vor ein paar Jahren, darauf trommelte er viel. Nun musiziert er mit Band. Auf Konzerten steht sein Schlagzeug ein bisschen weiter vorne als bei anderen Gruppen.

Anfang des Jahres erschien ihre erste Single bei dem irischen Label Earsugar. Everything Is True erblickt nun via Sunday Service in Hamburg das Licht der Welt. In anderen Kritiken fliegen die Referenzen. Die Punker Hüsker Dü klängen an und der Sixties-Beat, The Smiths spielten auf den Instrumenten von Velvet Underground, heißt es. Und der Harmoniegesang? Beatles, früh. Aber so einfach ist das nicht.

Ja, vieles klingt wirklich alt. Einige der Referenzen sind tatsächlich auszumachen. Die musikalischen Anspielungen und Zitate sind so eng mit den Ideen der Band verwoben, dass es sinnlos ist, jeden Ton auf seinen vermeintlichen Ursprung zurückzuführen. Die Innits imitieren nicht, die Sechziger klingen aus ihren Instrumenten auch nach dem Punk der Siebziger, nach dem Pop der Achtziger und Neunziger, nach allem möglichen eben. Tortured Turkeys On The TV blickt in die Vergangenheit durch die Punk-Brille, als hätte die Beatles The Clash gekannt. Country und Calypso im Titelstück ließen sich nur halb so einfach einbauen, wenn nicht der Alternative Country der Neunziger solche Töne vollkommen unironisch rehabilitiert hätte.

Nach dem siebten Stück sollte man eine kleine Pause einzulegen. Am besten holt man sich einen schwarzen Kaffee und eine Zigarette dazu. Die Lieder danach sind ruhiger und düsterer. In die repetitiven Akkorde von Light And Sound kann man tatsächlich The Velvet Underground hineinhören, wenn man will. Und The Smiths? Da ist eine fabelhafte Melodie, da ist ein kluger Text, aber das sind die einzigen Gemeinsamkeiten mit der Band aus Manchester.

So gut sie sich in der Musikgeschichte auskennen: The Innits schaffen etwas eigenes. Everything Is True geht geradeaus. Da sind keine überflüssigen Spielereien, keine spektakulären Schlenker, stattdessen charmante Melodien, wohlige Klänge, mitreißendes Geschepper. Wem das allein zu öde ist, der mag seine Distinktion aus der Aufzählung der unzähligen ausgemachten Referenzen gewinnen. Wäre schade.

„Everything Is True“ von The Innits ist als LP und CD erschienen bei Sunday Service.

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Im Hals die Kindertröte

Die italienische Band Eveline feiert ihre Helden: Sie zitiert Robert Wyatt oder Radiohead und erzählt aus altem Material neue Geschichten. Gerade ist ihr erstes Album erschienen.

Eveline Happy Birthday

Eveline kommen aus Bologna. Die vier Musiker verraten nur ihre Initialen: L.B. spielt den Bass, L.X. die Gitarren, am Schlagzeug sitzt T.O., und D.M. singt und haut in die Tasten. Die Hülle ihres Debütalbums Happy Birthday, Eveline!!! zieren Familienfotos, in die sie ihre bärtigen Gesichter hineinmontiert haben. Die künstlerische Strategie, sich in existierende Werke einzuschreiben, verfolgen sie auch in ihren Liedern. Sie spielen mit verschiedenen Identitäten, immer wieder schlägt ihr schräger Humor durch.

Die Platte beginnt mit der hüpfenden Melodie eines Klaviers. D.M. und die Gastsängerin Iris tragen dazu jeweils eine Strophe vor. Sie erzählen die Geschichte von P.L.D., „Poor little Dano“. Er versuche, seinen Schöpfer zu lieben, sei dazu aber nicht in der Lage, erläutert D.M. P.L.D. steht in der Tradition der Romanfiguren von Pirandello, Miguel de Unamuno und Flann O’Brien: Charaktere, die sich gegen ihre Schöpfer stellen. Die Figur aus dem zweiten Stück Jefferson Peace Yeppy Ya Ye!!! hat bereits ein Eigenleben entwickelt, erzählt D.M., und wird auf dem zweiten Album der Band im kommenden Jahr wiederkehren. Das Stück ist ruhig, aus blubbernder Elektronik, sphärischen Klängen und zurückgenommenem Gesang entsteht eine Spannung, die nicht aufgelöst wird.

Gilda lebt von einem starken Saxofon. Es erinnert an Post-Punk-Bands wie die Laughing Clowns oder Essential Logic. Turbulente Trommelwirbel verleihen dem kurzen Stück Nervosität. Es folgt ein melancholischer Rocksong, der auch von Jeff Buckley stammen könnte, er trägt den seltsamen Titel Bin Laden And The Romantic Voice Of The Ocean. Wir hören zwei Minuten lang ruhige Gitarren, begleitet von schweren Schlägen und dräuenden Bassläufen. Dann folgt eine rätselhafte Strophe, zum Abschluss nicht minder erratische Elektronik-Klänge. Das ist eine gelungene Übersetzung der Ohnmacht und der Verständnislosigkeit im Angesicht des Ungeheuerlichen. Der Sleepy Song fügt sich nahtlos an, die Elektronikklänge laufen durch, die Gitarren singen Hymnen. The Bends von Radiohead habe Pate gestanden für dieses Stück, erzählt D.M.

Mr. Wyatt In Love trägt seine Referenz bereits im Titel. Es ist Evelines Antwort auf Robert Wyatts Old Europe. Wyatt zelebrierte darin die Zeit, in der amerikanische Musiker Paris bevölkerten. D.M. lädt ihn nun nach Paris ein, zu Rotwein und Jazz. Die naive Hommage vereint jazzige Harmonien mit einer simplen Melodie, Wyatt beherrscht das perfekt. Am Ende versucht sich D.M. an der Sorte Vokalise, die Wyatts Spezialität sind: die Stimme als Trompete. Dass seine Trompete eine Kindertröte ist, macht das Stück rührend.

Auch 11 Years With Jennifer Hartman enthält eine Widmung. Bei Jennifer Hartman Records erschien 1989 Tweez von Slint. Das Stück hat mit Slint wenig zu tun, der Kontrast von Ruhe und Krach im folgenden Livewire umso mehr. Es zitiert deren Klang, eine fragile Klavierfigur steht neben Geschrammel. Die schaumigen Gitarren in Gin.O.Lemon erinnern an die Instrumental-Band Pell Mell, die Ende der Achtziger frühen Post-Rock auf SST veröffentlichte. Im abschließenden Stück Lxwaldocwithme&t. erzählen Eveline von einem imaginären San Pedro, einem Ort, „an dem man guten Wein trinken, Parfüm riechen und entspannen kann“. D.M. erzählt, er habe dieses San Pedro nach dem Ort im Nordwesten Italiens modelliert, aus dem er stamme.

So funktionieren Eveline. Ihre Zitate sind nie bloße Referenzen. Sie begeben sich in die Klänge, Bilder und Geschichten anderer und entwickeln daraus eigene Geschichten. Von ihnen erdachte Charaktere bevölkern die geliehenen Welten und entwickeln ein Eigenleben.

„Happy Birthday, Eveline!!!“ von Eveline ist CD erschienen bei Sopot Records.

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In der Ruhe klingt die Kraft

Gleich drei Alben auf einmal veröffentlicht der Franzose Louis Philippe. Ob auf der Bühne, mit Stuart Moxham oder alleine im Studio, er singt einfache Stücke, denen er durch raffinierte Arrangements Ausdruck verleiht.

Louis Philippe Live

Louis Philippe ist Franzose, er lebt in England. Seit Mitte der Achtziger veröffentlicht er Platten mit fein arrangierten Popsongs. Drei neue Alben erscheinen nun zeitgleich beim Bremer Label Dandyland, eine Live- und zwei Studio-CDs.

Die bei Auftritten in London und Bremen aufgenommene CD heißt schlicht Live. Neben eigenen Stücken spielt er vier exquisit ausgewählte Coverversionen: I Just Wasn’t Made for These Times von den Beach Boys, Nightingales von Prefab Sprout, C’est jolie printemps von Francis Poulenc und den englischen Folk-Song The Captain’s Apprentice, Ralph Vaughan Williams hatte ihn einst für seine Norfolk Rhapsody verwendet. Es sind einfache Stücke, denen Philippe durch raffinierte Arrangements Kraft verleiht.

Als Philippes erste Platten entstanden, setzten auch Bands wie Aztec Camera und Pale Fountains auf die zarte Energie des Popsongs und grenzten sich ab vom testosterongesteuerten Rock. Akustische Gitarren, leichte Stimmen und Streicher bestimmten ihre Musik. Die Kings of Convenience postulierten später Quiet Is the New Loud. Louis Philippe hat nie aufgehört, das zu glauben. Auf seiner Website findet man ein Interview, in dem er sich über Mark E. Smith (The Fall) und die Manic Street Preachers lustig macht. Smith widere ihn an, er hielte ihn für einen ekelhaften Schwindler, sagt er. Die Manic Street Preachers und ihre Rebellenpose fände er lächerlich. Lieder zu schreiben sei Katharsis genug, sie müssten nicht böse sein. Wenn daraus keine neue Form von Schönheit entstehe, könnten sie ihm gestohlen bleiben, sagt er. Er schätze innovative Harmonien und ausgeprägte Strukturen, Schönheit im klassischen Sinne.

Louis Philippe An Unknown Spring

Das hört man auch auf den Studioplatten: An Unknown Spring öffnet ein Füllhorn harmonischer Popsongs. Begleitet wird Philippe – wie schon auf früheren Platten – vom Covent Garden String Quartett. Neu sind die Sängerinnen im Hintergrund, Mitglieder der Band Clientele, Philippe hatte die Streicher auf ihrem letzten Album arrangiert. Die Lieder auf An Unknown Spring erinnern an die High Llamas, Pet Sounds der Beach Boys ist das Vorbild dieser Klänge. Sein langjähriger Begleiter Danny Manners spielt federnde Bässe ein und sorgt für die Erdung der Klangwolken. Im Unterschied zu Philippes frühen Platten klingt An Unknown Spring raffiniert und ist mit luxuriösen Details ausgestattet. Die stetige Verfeinerung seiner Klangideale bringt eine unerwartete Schönheit hervor.

Louis Philippe Stuart Moxham Huddle House

The Huddle House ist eigentlich eine Platte von Stuart Moxham. Seit seiner Zeit bei den Young Marble Giants und The Gist nahm er kaum noch Lieder auf. Louis Philippe ist es gelungen, ihn ins Studio zu locken. Auch Moxham glaubt an die Kraft des einfachen Songs. Moxham und Philippe spielen Gitarre und Bass, bei einigen Stücken sind dezentes Schlagwerk und Keyboard-Tupfer zu hören, das ist alles. Moxhams Lieder sind nicht mehr so karg wie zu Zeiten der Young Marble Giants, er ist ein ausdrucksstarker Sänger. Gelegentlich werden seine Gesangslinien von Louis Philippe gedoppelt, das verleiht dem Klang Fülle. Bekannt sind Moxhams minimalistische Gitarrenfiguren, neu die Verzierungen. Mal schlagen The Byrds durch, mal der Flamenco. The Huddle House ist keine einmalige Platte, wie Colossal Youth der Young Marble Giants es war. Es ist einfach nur eine sehr schöne Platte.

Sowohl „Live“ und „An Unknown Spring“ von Louis Philippe als auch „The Huddle House“ von Louis Philippe und Stuart Moxham sind als CD erschienen bei Dandyland.

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Eins, zwei, Triangel

Ein Liebespaar musiziert: Das Berliner Duo Pupkulies & Rebecca verbindet auf „Beyond The Cage“ warmes analoges Gerät mit stumpfen elektronischen Rhythmen.

Beyond The Cage Rebacca & Pupkulies

Janosch Blaul und Rebecca Gropp leben in Berlin, gemeinsam sind sie Pupkulies & Rebecca. Er musiziert, sie singt. Im vergangenen Jahr erschien ihr Debütalbum The Way We– sie mischten darauf tanzbare Rhythmen mit Pop und HipHop. Am besten passte die Platte in die Schublade „Minimal House“.

Nun ist ihr zweites Album Beyond The Cage draußen, die Schublade ist zu eng geworden. Jedes der elf Stücke gehört in eine eigene Kategorie, denn abgesehen von Rebecca Gropps Stimme gibt es wenige Gemeinsamkeiten. Das erste Lied Windmills ist karger Pop, Save Me eine repetitive House-Nummer. Pepper ist ausgewachsener Soul, Some Gin Elektropop der Marke Peaches. Auch ein Chanson ist dabei, Madeleine. Die Stimme hält das alles zusammen und zerstreut jeden Anflug von Beliebigkeit. Am Ende überwiegt das Tanzbare.

Pupkulies & Rebecca haben ihre Wurzeln im House, oft sind nur kleine Andeutungen geblieben. Les Cages ist House im klassischen Sinn, doch der treibende Rhythmus verschwindet so weit, dass man ihn beinahe überhört. Vorne säuselt ein Keyboard hinter dem gut und gerne Stevie Wonder sitzen könnte. Auch bei Gustav ist der Rhythmus so weit gebändigt, dass man sich auf einer Kraftwerk-Platte wähnte. Wäre da nicht die Stimme.

Jedes Klack, jedes Klong erfüllt nur den Zweck, Rebecca Gropps Worten sanftes Polster zu sein, die Musik umschwärmt ihre Stimme. Sie singt und spricht auf englisch, französisch und deutsch, trägt den Hörer durch das warme Puckern der Instrumente. Beiläufig singt sie mit düsterer Stimme ihre minimalistischen Melodien. Nur wenn sie schweigt, dürfen Xylofone wirbeln und Orgeln sticheln. Die Musik tritt in den Hintergrund. Das ist eigentlich ungerecht, denn einen so flauschigen Teppich muss man erstmal weben. Ohne die kontrapunktierenden Klongs wären auch Gropps Melodien nur halb so viel wert.

Selten wird auf tanzbaren Platten so viel gesungen, selten so detailverliebt musiziert. Die Samples sind wohl gewählt, die elektronischen Spielereien so sparsam, dass sie einem auffallen können. In Windmills ist ein Bandoneon-Sample versteckt, das ruhige Pepper lebt von dem Zusammenspiel des Kontrabasses mit einem Xylofon-Sample aus den Achtzigern. Immer auf die Zwei plingt eine freundliche Triangel. Dazu der gefühlvolle Gesang und ein sanfter Rhythmus – mehr ist das nicht, mehr braucht es nicht. Und welch warme Worte: „Get a little closer to me, your words are just like cinnamon to my soul, warming me up from inside when I am feeling cold.“

Scheinbar unabhängige Teile verbinden sich auf Beyond The Cage symbiotisch: Stimme mit Instrumenten, warmes analoges Gerät mit stumpfen elektronischen Rhythmen. „Elektronisch pulsierende Chansons zum Träumen und Tanzen“, wollten die beiden aufnehmen. Das ist ihnen gelungen.

„Beyond The Cage“ von Pupkulies & Rebecca ist als CD erschienen bei Normoton

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Einfach zu merken: TMTSATHG

Sie kommen aus Nürnberg, und dies ist ihr erstes Album: The Mother The Son And The Holy Ghost. Sie machen Musik nach Art einer Rockband, roh und stellenweise stromlos.

The Mother The Son And The Holy Ghost

In diesem Namen schwingt Bedeutung: The Mother The Son And The Holy Ghost. Wie klingt das wohl, wenn die mütterliche Dreifaltigkeit musiziert? TMTSATHG – einfach zu merken – sind fünf junge Menschen aus Nürnberg, vier Männer und eine Frau. Die dreizehn Lieder ihres Debütalbums sind roh und direkt, nach Art einer Rockband: Gitarre, Schlagzeug, Bass, dazu wird gesungen.

Aber ist das nicht ein akustischer Bass, der da im Hintergrund schrummelt? Dieser offene, freundliche Nachhall, das muss ohne Strom sein. Vor bald drei Jahrzehnten vertrauten die Violent Femmes diesem ungeduldig schnarrenden Instrument, es trieb ihre Lieder voran.

Eine weitere Parallele zu den Violent Femmes: The Mother The Son And The Holy Ghost schreiben einfache Lieder, die sie energisch, manchmal inbrünstig vortragen. Thrill zum Beispiel: Ein paar rauhe Akkorde auf der unverzerrten Gitarre, ein rumpeliges Schlagzeug, mehr braucht es nicht. Und Robin van Velzen singt eine Melodie, die den Red Hot Chili Peppers Millionen einbrächte.

Die Platte wirkt roh. Eine teure Produktion hätte den Hall des Schlagzeugs gedämpft, hätte die Gitarre wärmer gestimmt und manchen Gesangsteil noch einmal aufnehmen lassen. Zum Glück ist das hier nicht geschehen. Dieses Album lebt, es klingt, als sei es von der Bühne herunter eingespielt worden. Und roh, ja, aber weder ungenau noch schludrig.

Auch andere Instrumente sind zu hören, Mundharmonika, Orgel, in manchen Liedern die Stimme von Betty Mugler.

So reduziert die Musik ist, so viele Anspielungen enthält sie. Das 52 Sekunden lange Distortion God scheint ein Tribut an Tom Waits zu sein; das Piano torkelt, das Schlagzeug scheppert, und van Velzen stellt seine Stimme ganz tief. Der The Hammer Song lehnt sich an Bruce Springsteens starke Schulter, die Melodie, die Stimme und sogar der Zungenschlag des Sängers erinnern an die guten Jahre des amerikanischen Rockstars. Das akustische Stück Sun Detective stünde selbst Bob Dylan gut. Und auch Have You Seen Love und das dröhnende Could You Be erinnern an irgendwen, man kommt nur nicht ganz so schnell drauf.

Tulip Sky am Schluss klingt weich und warm. Die Saiten der Gitarre sind gedämpft, irgendwann übernimmt das Klavier die repetitive Melodie. Es klingt, als stünde es in der marmornen Halle einer Villa. Immer weiter entfernt sich das Mikrofon, verlässt den Raum, das Haus.

Das Debütalbum von The Mother The Son And The Holy Ghost ist erschienen bei Schinderwies Productions/Broken Silence.

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Jenseits von Led Zeppelin

Der Blues-Archäologe Robert Plant trifft die Folksängerin Alison Krauss. Einfühlsam erkunden sie die Frühgeschichte der amerikanischen Populärmusik

Robert Plant

Bis ins hohe Alter die alten Hits spielen und bei jedem neuen Song mit dem früheren Ich verglichen werden – das Dasein als Rocklegende kann eine Last sein. Robert Plant hat sich davon befreit, indem er das Legendenmanagement zum Nebenberuf degradierte: Zwar verwaltet er seinen Ruf als Sänger von Led Zeppelin und wird bei deren Wiedervereinigung bald in London auf der Bühne stehen, doch zugleich sucht er Abenteuer, die sich stilistisch weit vom Höhepunkt seiner Karriere Mitte der 1970er Jahre entfernen. Die Rolle des ekstatischen Rock-’n’-Roll-Gottes überlässt er längst den jungen Musikern seiner Begleitband Strange Sensation. Er selbst bleibt, wie nun auf dem mit der Folksängerin Alison Krauss eingespielten Album Raising Sand, bei den leisen Tönen.

Plant und Krauss nehmen sich ältere Stücke vor, zumeist aus den frühen 1960ern, und zerdehnen sie in zarten Duetten. Es handelt sich um melancholische Popmusik in ihrer entspanntesten Form. Spärlich instrumentiert, mit wimmernden Untertönen von Streichinstrumenten und Pedal Steel Guitar, skizziert die Band um den Avantgarde-Gitarristen Marc Ribot einen Nachhall vergangener Träume. Townes Van Zandts Nothin’ erweist sich als perfekte Wahl für Plants Elegie: »Sorrow and solitude / These are the precious things / And the only words that are worth rememberin’«. Im Wabern, das das Eröffnungsstück Rich Woman grundiert, mag man eine Reminiszenz an Led Zeppelins Kashmir erkennen. Doch Plant bleibt sich auf klügere Weise treu: Der Blues, den Led Zeppelin bis an die Genregrenze überdreht hatten, so extrovertiert wie heute die White Stripes, ist auf Raising Sand das Medium einer intensiven Innenschau. Mit großem Einfühlungsvermögen und der gleichen Neugier, die Plant seit vielen Jahren für afrikanische Musik hegt, erweckt er zusammen mit Krauss die Kompositionen aus der Frühgeschichte amerikanischer Populärmusik zum Leben.

„Raising Sand“ von Robert Plant und Alison Krauss ist erschienen bei Rounder Records/Universal.

Dieser Artikel ist der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 8. November 2007 entnommen.

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Drei Seiten einer Oper

Robert Wyatt von Soft Machine denkt in Schallplattenlänge. Kein Akt seiner „Comicopera“ ist länger als 20 Minuten, keiner klingt wie der andere.

Robert Wyatt Comicopera

Robert Wyatt auf einen Stil festzulegen ist unmöglich. Mal spielt er Pop, mal Jazz, mal Folk, meist alles auf einmal. Auch sein neues Album Comicopera lebt vom Facettenreichtum des Musikers, der seit einem Sturz aus dem dritten Stock im Jahr 1973 an den Rollstuhl gefesselt ist. Wie eine wirkliche Oper ist das Album in drei – musikalisch und thematisch allerdings vollkommen unterschiedliche – Akte unterteilt, jeder hat die Länge einer Schallplattenseite. Das sei die zeitliche Einheit, in der er musikalisch denken und planen könne, sagt er. So sei auch seine erste lange Komposition entstanden, Moon In June auf dem dritten Album seiner ehemaligen Band Soft Machine. Länger ginge nicht.

Der erste Akt heißt Lost In Noise, obwohl er recht zugänglich und gar nicht krachig ist. Er beginnt mit Stay Tuned, einem Stück geschrieben von Anja Garbarek. Robert Wyatt ist ein Meister der Coverversion. Er hat die Fähigkeit, fremde Stücke – sei es Biko von Peter Gabriel oder At Last I Am Free von Chic – so zu interpretieren, dass sie wie für ihn geschrieben klingen. In diesem Fall ist das Arrangement üppiger als das des Originals. Er lässt gar eine Sopranistin Vokalisen singen. Mehr Oper gibt es nicht auf diesem Album.

Das Instrument, mit dem Wyatt sich fremde Stücke zu eigen macht, ist seine traurige Stimme. Sie verleiht auch einfachen Stücken Tiefe. Bei A.W.O.L ist das so, es ist eines von vier Stücken, das seine Lebensgefährtin Alfreda Benge für ihn schrieb. Es handelt von einer Frau, die ihren Mann verloren hat. Wyatts Stimme kommuniziert die Einsamkeit und Verlorenheit der Frau so eindringlich, dass man weinen möchte. Gleichzeitig spendet seine Stimme Trost wie kaum eine zweite. Berührend ist auch das autobiografische Stück Just As You Are, eine Auseinandersetzung mit seiner überwundenen Alkohol-Krankheit. Er singt von den Lügen, die er Alfreda Benge in dieser Zeit erzählte, und davon, dass sie sich um das einzige betrogen fühlte, was sie von ihrer Beziehung verlangte, um die intelligente Unterhaltung. Monica Vasconcelos singt in dem Duett Benges Stimme. Das Stück stimmt traurig. Kennt man den biografischen Hintergrund nicht, funktioniert es als einfaches Liebeslied.

Im zweiten Akt The Here And The Now mischt sich das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen. Wir hören Wyatt, den Zweifler. Be Serious – Paul Weller steuert hier eine beschwingte Jazz-Gitarre bei – beneidet die Muslime, Christen, Hindus und Juden um die Sicherheit, die ihnen ihre Religion bietet. „It must be great to be so sure.“ Robert Wyatt ist Atheist.

Manchmal klingt er wie ein Verzweifelnder. Garcia Lorcas Cancion De Julieta ist das zentrale Stück des letzten Aktes Away With The Fairies, es ist ein Jazz-Trauermarsch voller sirrender Streicher und sanft geschlagener Hi-Hats. On The Town Square ist eine Feier des Kollektivismus – eine instrumentale Calypso-Nummer mit Saxofon-Solo.

Ein anderes instrumentales Stück auf dem neuen Album heißt Anachronist. Wyatt trägt diesen Titel schon seit Jahren wie eine Auszeichnung. Er trat der kommunistischen Partei Englands bei, als die kommunistischen Regime in Europa zusammenbrachen, als Geste des Danks. Mit der kubanischen Revolutionshymne Hasta Siempre Commandante erweist er am Ende des Albums Ché Guevara Tribut, er habe seiner Generation Hoffnung gegeben. Das beschwingte Latino-Jazz-Klavier nimmt sich dissonante Freiheiten heraus, die Perkussion torkelt. Die Utopie des Stücks ist ins Wanken geraten, aber es ist alles, was geblieben ist. Es endet mit sehnsuchtsvoll hauchenden Frauenstimmen und einem an Evan Parker erinnernden Solo. Das ist der Klang der Freiheit – oder zumindest der freien Improvisation.

Das bringt uns zu Wyatt, dem Jazz-Musiker. Robert Wyatt war bis zu seinem Unfall Schlagzeuger und Sänger bei Soft Machine, aktiv an den beiden musikalischen Polen der Band, Jazz und Pop. In Mob Rule und Out Of The Blue klingen jazzige Skalen, als seien sie falsch gestimmt. Mob Rule ist skizzenhaft – eine weitere seiner Stärken – Out Of The Blue ein tumultöses, kakophones Meisterwerk. Ein Arrangement aus Stimmsamples, Bläsersätzen und Keyboard-Stichen, überragt von Wyatts ungewöhnlich insistierendem Gesang.

In einem ist Comicopera wie eine richtige Oper: in seiner Emotionalität. Verwirrung und Verzweiflung, Hilflosigkeit und Einsamkeit, aber auch Hoffnung, Sehnsucht, Trost und Freude, es ist alles da.

„Comicopera“ von Robert Wyatt ist als CD und Doppel-LP erschienen bei Domino Records.

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Kanadische Schuhgucker

Young Galaxy aus Montréal vermengen Leichtes und Schweres. Ihr Debütalbum erinnert an den britischen Shoegazer-Pop der frühen neunziger Jahre

Young Galaxy

Zweiundzwanzig Jahre ist es her, da gründeten sich die Stone Roses in Manchester. Nach ein paar erfolglosen Singles erschien im Jahr 1989 ihr Debütalbum. Der Sänger Ian Brown und der Gitarrist John Squire waren eine magische Gemeinschaft. Ihre Musik klang wie das fehlende Stück Popmusik zwischen den Byrds und den Sex Pistols. Das Großmaul Brown sang leichte Melodien, im Hintergrund klang es nach der akustischen Version von Black Sabbath. Das Besondere an den Stone Roses war diese nie ganz greifbare Mischung aus psychedelischer Schwere und sorgloser Fröhlichkeit. Beinahe pausenlos hibbelte der Schellenkranz. „I Wanna Be Adored”, schnarzte Ian Brown, und auch die Königin bekam ihr Fett weg: „Tear me apart and boil my bones, I’ll not rest till she’s lost her throne. My aim is true my message is clear, its curtains for you, Elizabeth my dear.”

Der Vorhang fiel bald, jedoch nicht Elizabeths: Nach einem zweiten Album löste sich die Band Mitte der neunziger Jahre auf.
Viele Nachahmer versuchten, ähnlich magische Momente zu erschaffen. Eine ganze Generation britischer Musiker starrte konzertelang versunken auf den Boden. Shoegazer wurden sie genannt, Schuhgucker. Kurz darauf entfesselten Blur und Oasis den Britpop. Sie hatten von den Stone Roses gelernt.

Auch in Kanada erzählen Musiker die Geschichte des britischen Pop, als sei sie ihre eigene. Young Galaxy kommen aus Vancouver, seit einigen Jahren leben die Musiker in Montréal. Ihr Debütalbum ist reich an ergreifenden Momenten und Wiederklängen. Die Lieder sind ruhig und düster; sie klingen, als hätten sie etwas zu verbergen. Der Bass ist weit nach vorne gemischt, dahinter räkelt sich das sanfte Vibrato einer Orgel. Aus dem Dunkel stechen immer wieder überraschende Gesangslinien hervor, manchmal froh, immer harmonisch.

Auf der Albumhülle führt eine Straße zum Horizont, erst auf den zweiten Blick wird sie zu einem Fluss. Ein leichter Wind bewegt das Wasser. Das Bild ist nicht schön, aber es passt zur Musik. Lazy Religion und Swing Your Heartache fließen langsam heran, werfen im Refrain leichte Wellen und entschwinden dann in der Ferne. „It’s time for you and I to face the signs and realize that living’s a battle. For all the times we cried absorbed the lies and realized life is not a rehearsal“, singt eine Männerstimme. Die Melodie ist nicht annähernd so trist wie der Text. Im Refrain stimmt eine Frauenstimme ein, „C’mon babe, swing your heartache“, jemand prügelt auf den Schellenkranz ein.

Eine weitere Parallele zu den Stone Roses: Ein Duo treibt die Band. Stephen Ramsay spielt Gitarre, Catherine McCandles Klavier, den Platz am Mikrofon teilen sie sich. “Als wir begannen, das Album zu machen, wollten wir den großen kosmischen Klang von Spiritualized mit der emotionalen Resonanz von Fleetwood Mac verheiraten”, erklärt sie. „Es sollte klingen wie warme silberne Flammen, die aus den Lautsprechern schießen“, ergänzt er. Zehn weitere Musiker sind auf dem Album zu hören.

Come And See klingt noch, als habe Ian Brown es geschrieben, die akustische Gitarre bestimmt das Tempo, der Gesang hängt etwas nach. In vielen der flotten Stücke klingen andere Bands an. Outside The City ist eine Reminiszenz an den Post-Punk, die verträumte Solo-Gitarre in Wailing Wall klingt nach The Cure. In Embers erinnert Catherine McCandles Stimme an die von Dolores O’Riordan. An dieser Stelle erschöpft sich der Vergleich zu den Stone Roses: Niemals hätte Ian Brown eine Frau an sein Mikrofon gelassen.

Das unbetitelte Debütalbum von Young Galaxy ist als CD und LP erschienen bei Arts & Crafts

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Und hinten brummen die Männer

Róisín Murphy, die Sängerin von Moloko, legt ein konsequentes Disco-Album vor – ohne Überraschung und zukunftsweisende Idee.

Roisin Murphy Overpowered

Solisten haben es nicht leicht. Sie sind die Marke, das Gesicht, der Name, sie repräsentieren das Produkt, während hinter ihrem Rücken ein Stab von Helfern und Blutsaugern wirbelt. Der Künstler ist das Kunstwerk. Doch die wenigsten berühmten Solisten des Pop sind musikalisch so vielseitig, dass sie den Komponisten, Produzenten und Ausführenden in sich vereinen. Outsourcing ist die Lösung: Die Musik besorgen andere. Der Solist gibt lediglich seinen Körper und seine Stimme. Wen wundert es, wenn solcher Projektmusik Intimität und Wärme fehlen?

Die Irin Róisín Murphy bekam einen Plattenvertrag bei EMI, weil sie die Manager an Robbie Williams erinnerte. So steht es im Heft zu ihrer neuen CD Overpowered – unkommentiert, denn Miss Murphy war über diese Parallelen vermutlich so erstaunt wie der Leser.

Zehn Jahre lang waren sie und ihr Lebenspartner Mark Brydon das Duo Moloko. Ihre intensive Zusammenarbeit endete im Jahr 2003 in dem Album Statues, ein saftiges, ergreifendes Werk zwischen Disco und Weltschmerz.

Da stand sie nun, Róisín Murphy, die extravagante und extravertierte Sängerin, und suchte nach neuen Perspektiven für sich und ihre Stimme. Sie traf den Londoner Elektronikbastler Matthew Herbert und zog sich mit ihm in sein Klanglabor zurück. 2005 kam Ruby Blue heraus, eine Platte, die Murphys markanten Gesangsstil mit Herberts jazziger musique concrète verbindet.

Projekt fertig, auf zum nächsten. Sie wollte ein Disco-House-Album machen und bot sich der Plattenfirma EMI an. Das Geld war da, man verpflichtete die besten Produzenten in Philadelphia, Miami, New York, Las Vegas, Barcelona, London, nahm die besten Musiker, um den alten Phillie-Sound zu rekonstruieren und zu modernisieren. Das ist durchaus gelungen.

Overpowered ist ein konsequenter Tanzbodenfüller, doch es fehlt ihm an Zauber und Neuigkeit. House-Klischees der Siebziger und Achtziger werden ausgebreitet, hier ein Klatschen, dort ein Hecheln, dazu pumpende Synthesizer-Bässe und ganz viel Hall. Ab und zu brummen Männerchöre im Stakkato, wie man es von Timbalands Hitparaden-Pop kennt. Alles ist poliert, eingängig, beingängig – Kylie Minogue und Sophie Ellis Bextor hüpfen nebenan. Gewiss, Disco ist Murphys Konzept. Aber es entbehrt jeder Überraschung.

Dies ist umso enttäuschender, brachte doch Róisín Murphy bisher immer etwas Unerhörtes, Frisches. Ihre Musik war State of the Art, Idee und zukunftsweisende Botschaft. Overpowered drängt nirgendwohin. Es kommt über Damals und Heute nicht hinaus.

Ist das symptomatisch für den Pop-Betrieb? Sind Solisten bei großen Plattenfirmen gezwungen, sich von ihren Idealen zu verabschieden? Was bleibt dann für morgen?

Robbie Williams jedenfalls prophezeit man keine große Zukunft mehr. Sein letztes Album war kein Erfolg, weil er sich die falschen Produzenten ausgesucht hatte. Vielleicht hat Róisín Murphy mehr Glück und findet bald zu alter Form zurück.

„Overpowered“ von Róisín Murphy ist erschienen bei EMI.

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Viereinhalb Minuten gut

Auf seiner Suche nach sich selbst traf Dave Gahan von Depeche Mode seinen Gott. Richtig gute Ideen für neue Lieder hatte der aber offenbar auch nicht.

Dave Gahan Hourglass

Kingdom erschien vor zwei Wochen als erste Single von Dave Gahans neuem Album Hourglass, ein fantastischer Stampfer, der auch seiner Band Depeche Mode gut gestanden hätte. Der Bass drängt, die elektronischen Kollegen fiepsen, schnarren und plärren, ein mutterloses Kreischen verschleppt den pfiffigen Refrain. Dave Gahan singt mit gepresster Stimme einen etwas müden Text, aber den kann man ja ignorieren. „If there’s a kingdom beyond it all, is there a God who loves us all, do we believe in love at all?“

Die Werbemaschine der Platte brüllt seit Anfang August. Jede Woche konnte man sich auf der offiziellen Website und bei Youtube ein neues kurzes Video aus dem Studio anschauen. Man sah Dave Gahan und seinen beiden Musikern dabei zu, wie sie erste Erfahrungen mit einer Videokamera sammelten. Sie grüßten die Fans, spielten mit den Möbeln und der Fernbedienung, machten schlechte Witze und blöde Gesichter. Schnipsel der Stücke Kingdom und Down waren dort zu hören, so zugerichtet, dass kein Raubkopierer irgendetwas damit anfangen konnte. Andere Hörer leider auch nicht.

Nun ist das Album da. In einem Filmchen erläutern Dave Gahan, die Musiker Christian Eigner und Andrew Phillpott und der amerikanische Journalist Ken Scrudato, weshalb es so fabelhaft geworden ist. „Hourglass ist das Album, dass Dave immer machen sollte“, erzählt der wild frisierte Ken Scrudato. „Das Album war immer in ihm, aber es konnte erst jetzt aus ihm heraus.“ Denn „er musste das durchmachen, was er durchmachte um an diesen Punkt zu kommen.“ Vor zehn Jahren war Gahan nach einer Überdosis Heroin einige Minuten lang klinisch tot. „Ich versuchte herauszufinden, wer ich bin“, sagt er. Es sei ein erwachsenes Album, sagen seine Musiker, „die philosophischen Fragen, mit denen sich Dave befasst, sind spezifisch für seinen Pfad zur Erlösung, zum Heil.“

Warum sollte das jemanden interessieren? Beim vielen Nachdenken über sich und die Erlösung traf er seinen Gott. Gute musikalische Ideen liefen ihm selten über den Weg. So wichtig das Album für die Spiritualität des Herrn Gahan sein mag, so belanglos quält es sich am Hörer vorbei. Ein Stück ist richtig gut (man höre oben). Alles andere gelangt nicht einmal in die Nähe schlechterer Lieder von Depeche Mode. Man kann es in zwei Kategorien einteilen, Deeper And Deeper und Use You sind überambitioniertes Gebrezel, die sieben restlichen sind ödes Geschmachte. Die Melodien sind austauschbar, das Gefiepe im Hintergrund kleistert nur Fragmente zusammen. „Meiner Meinung nach ist es die beste Platte, die ich machen konnte“, sagt Dave Gahan.

In dem erwähnten Film über das Album erzählt er auch davon, wie er seiner Band das Stück I Saw Something zum ersten Mal vorsang. Der Schlagzeuger Christian Eigner habe ihn bloß schweigend angeschaut. Was er wohl gedacht hat? Kommt mir irgendwie bekannt vor? 21 Days verzichtet auf eine Melodie. Miracles klingt, als hätten die beiden Musiker Eigner und Phillpott stundenlang betrunken herumgespielt und dem Sänger dann die besten fünf Minuten geschickt, damit er sie betextet. Wahrscheinlich war auch er betrunken: „I don’t believe in miracles, and they happen everyday. I dont believe in Jesus, but im praying anyway“. Halleffekte überziehen die meisten der Stücke, die sich mühevoll auf viereinhalb Minuten strecken. Endless dauert beinahe sechs Minuten. A Little Lie klingt immerhin noch einigermaßen akzeptabel, kommt aber fünfzehn Jahre zu spät. Die Simple Minds haben das Stück schon in x Variationen gesungen.

Wer also braucht Hourglass? Ken Scrudato glaubt es zu wissen: „Menschen werden Hourglass hören und Inspiration finden, die ihnen hilft, die Fragen ihres Lebens zu beantworten. Und ist es nicht genau das, was wir von Musik wollen?“

„Hourglass“ von Dave Gahan ist als CD, als CD mit Bonus-DVD und als Doppel-LP bei EMI erschienen.

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