Lesezeichen
 

Zu Stein gesungen

Auf ihrer neuen Platte White Chalk kommt PJ Harvey ohne verzerrte Gitarren aus. Ihre betörende Stimme klingt nun aus der fünften Dimension zu uns hinüber. Ein Groschenroman.

PJ Harvey White Chalk

Die folgende Geschichte ereignete sich am 17. Oktober 2019 irgendwo südlich des Nordpols. Weshalb das Jahr 2019 in der Vergangenheit liegt? Betrachtet man die Welt in ihren fünf Dimensionen, ergibt das Sinn. Das Jahr 1969 läge dann in ferner Zukunft.

Also weiter. Kapitän Jennings’ Schiff fuhr auf einen Fels und kenterte. „Kapitän“ war nur sein Spitzname, er war ein einfacher Fischer. Aber er war ein guter Fahrer und kannte sich aus in der Gegend.

Jeden Morgen fuhr er mit dem Kutter los. Allein. Über die Jahre hatte er so einiges gefangen, manches verschwieg er seiner Frau lieber. Denn Kapitän Jennings war ein rechter Lump. Gerne legte er in den benachbarten Häfen an, um sich in Hurenhäusern zu vergnügen. An solchen Tagen kaufte er die Fische der Kollegen, um getane Arbeit vorzutäuschen. Außerdem hatte er ein ordentliches Alkoholproblem. Aber das war in seinem Dorf so üblich. Wenn alle das gleiche Problem haben, wird es zur Normalität. Und niemand schaut mehr hin.

Doch was war passiert an jenem 17. Oktober? Entrückte Musik hatte Jennings in fremde Gewässer geführt. Durch den Nebel schallte eine Frauenstimme, blechern und schwindsüchtig. Er vernahm weiche Akkorde eines leicht verstimmten Klaviers. „Dear Darkness. Dear, I’ve been your friend for many years“ – diese Stimme flüsterte und versprach Unheil. Jennings konnte sich ihren Reizen nicht entziehen, wie hypnotisiert steuerte er in sein Verderben. Ächzend barst der Rumpf seines Kutters.

Jennings fand sich in einer Unwelt wieder, ein falscher Kapitän ohne Kutter. Seine Kleidung war durchnässt. Er zitterte und blickte um sich. Er befand sich auf einer winzigen Insel. „Hier könnte man keine zwei Häuser bauen“, dachte Jennings. Das Moos auf dem Gestein war mit Eis überzogen. Der einzige Baum war tot, er trug schon lange keine Blätter mehr. Wenige Meter entfernt lag ein ausgedörrter Schwerenöter, zwei Krähen naschten an ihm. In seinem Blick trug er die Vorahnung eines baldigen Todes. Jennings machte keine Anstalten, dem Siechenden zu helfen. Denn etwas anderes beanspruchte seine Aufmerksamkeit. Es war die Musik. Jennings war gelähmt.

„Der Engel der Vergeltung…“ – der Halbtote keuchte – “Wir sind verloren. Hab acht, schau ihm nicht zu lange in die Augen, denn…“ Zu mehr reichte die Kraft nicht, der Schwerenöter war hin. Jennings verstand gar nichts. Doch wer könnte ihm das in solcher Ausweglosigkeit verdenken? Das Wolkenmeer brodelte. In der Krone des toten Baumes erspähte er eine Frau im weißen Hochzeitskleid. Er wusste jetzt, wessen Stimme ihn benebelt hatte. Und das Rätsel der Augen war ebenfalls gelöst. Er hatte von ihm gehört – der Engel der Vergeltung ist eine Frau. Und sie haut Bilder. Wer zu lange in ihre Augen blickt, erstarrt zu Stein. Und wird später bei Sotheby’s versteigert.

Jennings haderte. Nun bekam er die Quittung für seine Hurereien. Ein Schnaps wäre jetzt gut. Doch hier auf diesem unwirtlichen Eiland gab es nur einen grausamen Engel, dessen Augen Trost spendeten und zur selben Zeit die Höllenpforten öffneten. Der Wind spie Jennings ins Gesicht, und das Kleid der Engelsgestalt flatterte. “Oh God I miss you“, drang es aus ihrem Mund, und ihr Gesicht trug keine Regung. Da gab Jennings nach. Obwohl er wusste, dass dies sein Untergang war, blickte er dem Engel ins Gesicht, es war weiß wie ihr Hochzeitskleid. Mutig ließ er sich in die Wärme seines Blicks fallen – und genoss seinen Tod. Er fühlte, wie er erhärtete. In diesem Augenblick war ihm sein Leben leicht, seine Schuld war nun beglichen. Er war dem Engel ganz nah. Jennings erstarrte.

In ferner Zukunft, am 9. Oktober 1969, wird er gefunden. Ein Forschungsschiff entdeckt acht versteinerte Schwerenöter. Weder ihre Herkunft noch ihre Todesursache können geklärt werden. Die Steinmenschen werden an Museen in aller Welt verkauft.

„White Chalk“ von PJ Harvey ist als CD und LP bei Island Records/Universal erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Gravenhurst: „The Western Lands“ (Warp Records 2007)
The Bravery: „The Sun And The Moon“ (Island Records 2007)
Animal Collective: „Strawberry Jam“ (Domino Records 2007)
Hard-Fi: „Once Upon A Time In The West“ (Warner Music 2007)
The Smiths: „The Queen Is Dead“ (Sire/Warner Music 1986)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Traumberuf: Polizeitaucher

Nick Talbot zeichnet deftige Comics und schreibt ein böses Weblog. Doch wenn er für seine Band Gravenhurst die Gitarre in die Hand nimmt, wird er sanftmütig und rührend.

Gravenhurst The Western Lands

Der Engländer Nick Talbot zeichnet Comics. Im Magazin Ultraskull veröffentlicht er Bildfolgen über männliche Geschlechtsteile, explodierende Köpfe und umherfliegende Gliedmaßen. Sein Spott gilt Konservativen und Polizisten. Die Zeichnungen sind sarkastisch, wirklich komisch ist nur die Geschichte des besserwisserischen Mr. Shellac. Der Leser erfährt, welche Musik die Redaktion – die nur aus Nick Talbot besteht – gern hört, wie man jemanden gleich beim ersten Versuch richtig ersticht und Ähnliches. Nicht ohne Stolz wird auf der Website des Magazins berichtet, The Spectator fände das alles „liederlich“, der Salisbury Review nenne es „infantil“ und The American Conservative empfinde es als „beispielhaft für den moralischen Verfall unserer Zeit“. Vielleicht hat sich die Redaktion das aber auch nur ausgedacht.

Nick Talbot unterhält auch das Weblog The Police Diver’s Notebook. Regelmäßig kommentiert er die Arbeitsmarkt- und Drogenpolitik in Großbritannien, amerikanische Konservative, Bücher und Filme und Entwicklungen im Fall Lady Di. In einem aktuellen Beitrag widmet er sich kenntnisreich den Planungen einer nationalen DNS-Datenbank und der Einführung biometrischer Ausweise. Von Beruf sei er, so steht es in seinem Profil, Polizeitaucher. Sehr witzig.

Denn eigentlich ist er Musiker, unter dem Namen Gravenhurst hat er bislang vier Alben veröffentlicht. In seiner Musik offenbart sich die andere Seite des Nick Talbot. Wenn er die Gitarre in die Hand nimmt, scheint kaum mehr Sarkasmus übrig zu sein. Er singt über das entfremdete Individuum und unmögliche Beziehungen. Auf dem letzten Album hieß es im Song From Under The Arches: „I’ve seen bad things in bad places / What did I learn? Wallow in grime / Tonight we’ll drink the sewers dry / We can’t function outside of these dreams of suicide.“

Die erste Platte von Gravenhurst hieß Internal Travels und erschien im Jahr 2001. Heute ist sie nicht mehr erhältlich, Nick Talbot stört das kaum, er mag sie nicht. Wie auch das zweite Album Flashlight Seasons nahm er es alleine mit der akustischen Gitarre auf. Er sang folkige Lieder mit weicher Stimme, oft erinnerte das an Simon & Garfunkel – ohne Bombast, Streicher und anderen Kleister. Das Elektronik-Label Warp nahm ihn 2004 unter Vertrag und veröffentlichte Flashlight Seasons erneut, ohne Erfolg.

Den brachte erst die Single The Velvet Cell. Drei Monate zuvor hatte Warp Maxïmo Parks Debütalbum veröffentlicht und so auch seinen anderen nichtelektronischen Künstlern Aufmerksamkeit verschafft. MTV platzierte das Video zur Single zwischen Kaugummipop und Gangsta-Rap, eine beklemmende Animation begleitete die Worte „I had always thought the desire to kill was a disease you caught. But it’s dormant in the hearts of everyone, waiting for a spark, an emotion.“ The Velvet Cell und das anschließende Album Fires In Distant Buildings verkauften sich respektabel.

Zum ersten Mal spielte Nick Talbot nicht alle Instrumente selbst, Dave Collingwood steuerte die Schlagzeugklänge bei. Und zum ersten Mal waren elektrische Gitarren zu vernehmen. Statt dreiminütiger Folk-Kleinode schaukelten nun lange, behäbige Rocker. Die Stücke waren komplexer und lauter, Simon & Garfunkel wichen dem progressiven Rock der Siebziger. Am Ende stand eine neunminütige Coverversion des Stücks See My Friends von den Kinks. Die Grundstimmung bei Gravenhurst blieb sinister, aus Nick Talbots Stimme sprach Sanftmut. Seit zwei Jahren spielt er nebenher bei Bronnt Industries Kapital. Sie klängen, als beschalle der englische Poet Wilfred Owen die Tanzfläche eines Kerkers mit Diskomusik, schreibt die Band über sich.

Muss man das alles wissen, um Gravenhursts neue Platte zu mögen? Es hilft, sie zu verstehen. Mit The Western Lands hat Nick Talbot den Klang seiner Band weiter verändert. Von den Siebzigern bewegt er sich nun klanglich zu Anti-Folk und Post-Rock, die erste Single Trust könnte auch von Yo La Tengo sein, der lange Instrumentalteil in She Dances erinnert an The Notwist. Wieder hat er, abgesehen vom Schlagzeug, alle Instrumente selbst eingespielt. Er geht behutsamer zu Werk als auf Fires In Distant Buildings, ohne zur Zerbrechlichkeit der ersten beiden Alben zurückzukehren. Die meisten Stücke sind ruhig, immer mal wieder fahren eine Gitarre oder ein Klavier dazwischen, im furiosen Finale von She Dances sogar beide. The Western Lands klingt warm und kompakt. Seine Kompositionen sind fabelhaft.

Verstreut über die Stücke finden sich kulturelle Bezüge, die zweite Single Hollow Men spielt auf T. S. Eliots The Hollow Men an, das Motto der Platte zitiert er nach Oscar Wilde: „Give a man a mask and he will tell you the truth.“ Der Song Among The Pine klingt nach einer Fortführung des bereits angesprochenen Song From Under The Arches. Und mit Farewell, Farewell covert er diesmal die britischen Folkrocker Fairport Convention.

Die Menschen in seinen Liedern leben in der Welt, die er in seinem Blog täglich kommentiert. Ihnen wurde die Freiheit genommen, wie dem Mädchen in She Dances. „’I need new clothes‘, she thinks, ’new skin; a mind I can bear to live in‘.“ Dass er in seiner Musik dieser Welt ohne Zynismus begegnet, macht das Album berührend.

„The Western Lands“ von Gravenhurst ist als CD und LP bei Warp Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
The Bravery: „The Sun And The Moon“ (Island Records 2007)
Animal Collective: „Strawberry Jam“ (Domino Records 2007)
Hard-Fi: „Once Upon A Time In The West“ (Warner Music 2007)
The Smiths: „The Queen Is Dead“ (Sire/Warner Music 1986)
Regina Spector: „Begin To Hope“ (Warner Music 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

New Order steht ihnen gut

Düstere Lyrik und fröhliche Melodien – The Bravery bedienen sich bei vielen Gruppen der Rockgeschichte, und das macht Spaß. Spätpubertäre Mädchen werden zum neuen Album der amerikanischen Band durch die Indiedisko hüpfen.

Animal Collective Strawberry Jam

Im vergangenen Jahr spielten The Bravery im Vorprogramm von Depeche Mode, das war eine undankbare Aufgabe. Der Klang in der Hamburger Arena war mies, nur ab und an erhoben sich erkennbare Melodiebögen aus dem Gewaber. Nicht einmal ihr erster und bislang einziger Hit Honest Mistake war erkennbar, alles dröhnte und schepperte. Ob es an der Halle lag oder an den mangelnden Fähigkeiten der Musiker, ließ sich nicht entscheiden. Bei Depeche Mode später saß jeder Ton.

Auch auf dem Hurricane Festival in diesem Sommer spielten The Bravery als eine Art Vorband. Zur Mittagszeit schickten sie der grellen Sonne ihre düsteren Töne entgegen. Der Wind zerbürstete manchen Keyboardteppich, sonst klang es gut. Die Musiker beherrschten ihre Instrumente und ihre Kompositionen. Sie spielten viele Stücke, die damals niemand kannte – gute Stücke. Auf dem zweiten Album The Sun And The Moon kann man sie nun hören.

The Bravery klingen nicht neu, nicht originell, nicht gewagt. Tausende Bands machen ähnliche Musik. Die meisten Basslinien sind von New Order geklaut. Die Keyboards gemahnen an diverse Elektronikbands der Achtziger, die Gitarren an den Garagenrock der späten Neunziger. Die Basstrommel im Hintergrund stampft oft arg stupide. Aber: Wenn man keine überbordende Experimentierfreude erwartet, macht die Platte großen Spaß. Die Melodien sind feinsinnig, das Drängende von New Order steht ihnen gut.

Die Bässe sind laut, mal stehen sie alleine, mal gesellen sich flirrende Keyboards hinzu und singende Gitarren. Das rumpelige Believe macht den Anfang. Es folgt This Is Not The End, ein formvollendetes Zitat: Der Sänger Sam Endicott imitiert Julian Casablancas von den Strokes perfekt. Der Tonfall stimmt, die Stimme ist leicht verzerrt, Melodieführung und Liedstruktur sind, na ja, so was von geklaut. Die Gitarre setzt mit einem Clash-Gedengel ein und schwenkt dann hinüber zum lässigen Stil der Strokes. Selbst der Titel des Stücks und Zeilen wie „I am not a scientist, I must believe in more than this“ könnten von den amerikanischen Rockern stammen.

Die Lyrik Sam Endicotts ist wenig lebensfroh. Der Sänger nennt sich einen „hoffnungsvollen Menschenfeind“. Seine besten Tage habe er im Fernsehen gesehen, das Leben beschäme ihn, gestrandet sei er mit einer Hure namens Hoffnung. Er singt: „Jedes deiner Worte ist ein Messer in meinem Ohr, jeder Gedanke in deinem Kopf ist Gift.“ Das Lied Every Word Is A Knife In My Ear schrieb er für seine Ex-Freundin. Die verließ ihn wegen eines anderen und kam nach ein paar Wochen zurück, sie war an einen brutalen Schläger geraten. Kurz darauf verließ sie Sam Endicott erneut wegen desselben Mannes. Wieder kam sie zurück, tat Buße und schwor ewige Treue. Kurze Zeit später heiratete sie – den Schlägertypen. Wie sollte er angesichts solcher Erlebnisse zum Menschenfreund werden?

In Bad Sun pfeifen sich The Bravery einen – im Chor. Darf man das noch, nach Wind Of Change? Sie scheren sich nicht drum. Das Stück ist richtig fröhlich, spätpubertäre Mädchen werden dazu bald durch die Indiedisko hüpfen. Time Won’t Let Me Go klingt nach The Cure, nicht nur dank der Akustikgitarre und der betrüblichen Kiekser. Nach dem Refrain jault die Gitarre eine klagende Tonfolge. Würde die nicht auch Roland Kaiser gut stehen?

Nein, das geht zu weit.

„The Sun And The Moon“ von The Bravery ist als CD und LP bei Islands Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Animal Collective: „Strawberry Jam“ (Domino Records 2007)
Hard-Fi: „Once Upon A Time In The West“ (Warner Music 2007)
The Smiths: „The Queen Is Dead“ (Sire/Warner Music 1986)
Regina Spector: „Begin To Hope“ (Warner Music 2006)
Architecture In Helsinki: „Places Like This“ (V2 Records 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Vierstimmiger Wildwuchs

Das Animal Collective stiftet Verwirrung: Wo kommt dieses Zirpen her? Ist das jetzt schon ein Song oder noch ein Experiment? Und wie klingen zermatschte Erdbeeren?

Animal Collective Strawberry Jam

Auf dem neuen Album des Animal Collective prangen zermatschte Erdbeeren, Strawberry Jam heißt es. Bei Strawberry denkt man im Pop sofort an einen der Klassiker des Psychedelic Pop, Strawberry Fields Forever von den Beatles. Wie die Beatles in ihrer psychedelischen Phase nutzt das Animal Collective die Möglichkeiten und Effekte des Tonstudios. Anders als die Beatles sind sie nicht auf der Suche nach dem perfekt geformten Pop-Song, sie brechen lieber die Strukturen auf, durch Klangexperimente und freie Improvisation. Der Song ist dem Animal Collective lediglich Ausgangspunkt – manchmal auch flüchtiges Zwischenergebnis –, bevor alles wieder in wildes Getrommel, seltsam zirpende Synthesizer-Klänge, frenetisches Geschrei und mäanderndes Geschrammel zerfällt.

So war das jedenfalls lange Zeit. Auf der Platte Feels aus dem Jahr 2005 und dem Soloalbum Person Pitch des Kollektiv-Mitglieds Panda Bear deutete sich eine Hinwendung zum Pop-Song an. Mit Strawberry Jam ist das Kollektiv dort angekommen. Eine Affinität zu den Harmoniegesängen der Beach Boys hatten sie schon immer, jetzt leben sie sie voll aus. Nicht im Sinne des perfekten Klangs, sondern als vierstimmiger Wildwuchs. Man hört ihnen an, dass sie zur Perfektion fähig wären, allein – sie wollen sich dem Wohlklang nicht fügen. Der Unwille bricht sich Bahn in vokalen Ausbrüchen, die hier wie Adam Ants Vorstellung von Indianer-Gesängen und dort wie die enthemmte Version avantgardistischer Chormusik klingt.

Die Vielstimmigkeit findet sich auch im Instrumentalen. Klänge werden verfremdet, bis man nicht mehr sicher ist, welchen Ursprungs sie sind. Diese flirrenden Akustik-Gitarren könnten auch Synthesizer sein. Und ist das Getrommel wirklich handgespielt oder eine quer programmierte Rhythmus-Box? Die Klänge haben eine desorientierende, luminös schimmernde Dichte, die den Hörer in Euphorie versetzen. „Confusion is always a good thing in music!“, verfügte Bandmitglied David Portner einst apodiktisch.

Das klingt nach Hippies? Die Mitglieder des Animal Collective sind Hippies. Hippies, die wahrnehmen, was um sie herum vorgeht. Hippies, die sich bevorzugt in der Natur aufhalten, aber in Brooklyn leben. Hippies, die ihr Bewusstsein mithilfe technischer Spielereien erweitern.

Die Erdbeere auf dem Album ist nicht umsonst zermatscht. Nur so sieht man, ob das Zermatschen nicht eine neue Form der Schönheit schafft. Und das tut es.

„Strawberry Jam“ vom Animal Collective ist als CD und Doppel-LP bei Domino Records/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Hard-Fi: „Once Upon A Time In The West“ (Warner Music 2007)
The Smiths: „The Queen Is Dead“ (Sire/Warner Music 1986)
Regina Spector: „Begin To Hope“ (Warner Music 2006)
Architecture In Helsinki: „Places Like This“ (V2 Records 2007)
The Sea & Cake: „Everybody“ (Thrill Jockey 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Hee, Hoo, Haa, Hülsen

Die erste Platte der Engländer Hard-Fi war eine pfiffige Mixtur aus Rock, Dub, mehrstimmigem Gejohle und luftigen Melodien. Nun plätschert das zweite Album hinterher.

Hard-Fi Once Upon A Time In The West

Vor zwei Jahren erschien das Debütalbum Stars Of CCTV von Hard-Fi. Frecher britischer Rock steckte in den elf Liedern und eine gehörige Portion Dub, mehrstimmiger Gesang machte die meisten Stücke zu Hymnen. Vor allem die Singles Hard To Beat und Cash Machine glänzten. Es war auch manch Füllsel auf dem Album, aber das fiel kaum auf. Sechs Stücke von Stars Of CCTV wurden in Großbritannien als Single veröffentlicht. Den Dub kehrten Hard-Fi im vergangenen Jahr auf der Remix-Platte In Operation noch deutlicher heraus, daneben erschien eine Live-DVD. Bei soviel Mehrfachverwertung konnte die Band sich Zeit lassen mit dem zweiten Album.

Vielleicht hatten sie zuviel Zeit für Once Upon A Time In The West. Die Platte kann die Versprechen der ersten nicht halten. Sie klingt bemüht, stellenweise dünn. Wo sind die luftigen Melodien hin? Der Sänger Richard Archer gibt sich größte Mühe, seine Worte so lässig anzubringen wie vor zwei Jahren. Leider hört man das. Die Strophen klingen oft noch ganz gut, aber die Refrains verhaut er fast immer. I Close My Eyes rumpelt hymnisch aber ideenlos, der Sänger kämpft. Schließlich ist da eine Melodie, doch – oh, weh – was für eine!

Die mehrstimmigen Gesänge, die das erste Album so charmant machten, sind jetzt nervtötend. Sie wirken wie leere Hülsen für fehlende Worte und fehlende Ideen. „Heeeeeeee, Hoooooooo, Haaaaaaaa, Heeeeeee“ schmettert es in Suburban Knights, „Ooooooo, Aaaaaaa, Eeeeeeee“ in Tonight, „Uuuuuuu, Uuuuuuuu“ in Watch Me Fall Apart. Da wirkt das „Na na na na na na, na na na na na na“ in I Close My Eyes schon wie eine originelle Variation.

Auch musikalisch ist das Album flach. Zu oft drängeln sich rockige Gitarren in den Vordergrund, der Dub ist ganz verschwunden. Akustische Gitarren werden mit Schlagzeugcomputer und weichgespülten Refrains der Marke „Help me please, I’m in need“ kombiniert – „pliiihihihiiis“ mit ganz lang gezogenen Vokalen. Andere Stücke gehen in synthetischer Orchestersoße unter. Es dauert ein bisschen, bis man den Schock des ersten Hörens überwunden hat.

Beim zweiten Durchlauf macht die Platte an einigen Stellen sogar Spaß. We Need Love ist ein feines Stück, einfach und funktional. Richard Archer singt: „In Liverpool, in Glasgow und in London, was wir jetzt brauchen, ist Liebe.“ In Washington und San Salvador übrigens auch. Und am Ende johlen alle: „Whoooooa, whooooa.“ In Can’t Get Along klingen ein Ska-Rhythmus und Bläser durch, das ist sehr kraftvoll. Television fängt gut an, da sind Tanzrhythmen zu hören. Im Refrain bricht das Stück auseinander, es wird rockig und platt. „Television, new religion, let everyone sing Hallelujah. Politicians, don’t wanna listen, they only wanna make money out of you. Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah! Hallelujah!“ Uff. So ist das überall, jede gute Idee wird früher oder später zugekleistert.

Die an Oasis erinnernde Melodie des letzten Stücks The King mag man gar nicht mehr so recht genießen. Im Hintergrund dröppelt ein künstliches Schlagzeug, darüber schmiegt sich eine Pudding-Schicht aus Geigengesäusel und Akustikgitarre. Zu allem Überfluss brezeln unsägliche Gitarren hinein. The King ist so zerfahren wie das gesamte Album.

Auf der sonnengelben Hülle steht in weißen Lettern „No Cover Art“. Die erste Single Suburban Knights ist ähnlich aufgemacht, „Expensive Black & White Photo of Band. Not Available“. Wenn die Lieder von Hard-Fi nur immer noch so gut wären wie ihre Witze.

„Once Upon A Time In The West“ von Hard-Fi ist als CD bei Warner Music erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
The Smiths: „The Queen Is Dead“ (Sire/Warner Music 1986)
Regina Spector: „Begin To Hope“ (Warner Music 2006)
Architecture In Helsinki: „Places Like This“ (V2 Records 2007)
The Sea & Cake: „Everybody“ (Thrill Jockey 2007)
MUS: „La Vida“ (Green Ufos/Hausmusik 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Unter dem Doppeldeckerbus

Über die Jahre (25): Vor 20 Jahren lösten sich The Smiths auf. Vier Studioalben veröffentlichten sie, „The Queen Is Dead“ aus dem Jahr 1986 ist das schönste.

The Smiths The Queen Is Dead

Ich lernte The Smiths kennen, als es sie schon vier Jahre nicht mehr gab. Ich war 15, da erstand ich 1991 auf dem Flohmarkt eine Sammlung mit dem tönenden Namen Subrock. Am meisten liebte ich ein Stück namens How Soon Is Now? von The Smiths aus Manchester. Ich nahm es elf mal hintereinander auf eine 60er-Kassette auf, hörte sie jeden Tag und sang den geratenen Text auf dem Weg zur Schule, nach Hause, einfach überall. Nach vier Wochen fraß mein Walkman das Band. Ich kaufte mir zwei Best-of-CDs und schließlich auch ihre vier Studioalben.

Wenn ich ihre Musik hörte, befiel mich stets das Gefühl, dass ich zu spät kam. Ich konnte nicht behaupten, dass mich 1983 ihre erste Single Hand in Glove ergriffen hatte, weil ich damals noch Jennifer Rush liebte und De doo doo doo de da da da von The Police mitsummte. Morrissey, der Sänger von The Smiths, konnte mir nicht aus dem Herzen singen, denn das gehörte noch ganz anderen. Ich fühlte auch nicht den Schmerz eines Fans, als der Gitarrist Johnny Marr im August 1987 die Band verließ und sie sich auflöste. Denn zu der Zeit hörte ich die Pet Shop Boys, Queen und U2. Ich halte auf Partys den Mund, wenn andere über die erste selbst gekaufte Platte reden.

Und doch sind The Smiths im Nachhinein ein Teil meiner früheren Jugend geworden. Teil meiner Erinnerung daran, wie es war, erwachsen zu werden. Ich habe das Gefühl, sie wären immer da gewesen. Heute fiele es mir leicht, ein Märchen zu erzählen. Etwa so: The Smiths war meine erste Lieblingsplatte, ich war elf damals und hatte keine Ahnung, worum es in den Texten ging. Ich war berührt von Titeln wie What Difference Does It Make und fand die Musik aufregend, wegen ihrer außergewöhnlichen Melodien und der Stimme des Sängers. Ich klagte und witzelte mit Morrissey über die Ungerechtigkeit des Lebens. Wie er wollte ich nie arbeiten. Jede wichtige Phase in meinem Leben war verbunden mit einer Smiths-Platte, die Stimmung ihrer Alben verstärkte jedes Mal meine eigene. Mein politisches Bewusstsein kam mit Meat Is Murder, der erste Kuss in irgendeiner Mannheimer Industriebrache am Hafen mit The Queen Is Dead und die spätpubertäre Renitenz mit Schlägereien und Schule schwänzen zu Strangeways Here We Come. So hätte es sein können, warum nicht?

Jede der vier Smiths-Platten wird verehrt und gleichzeitig kritisiert dafür, nicht perfekt gewesen zu sein. Genauso traf mein erster Kuss die Falsche, verfiel ich irgendwann wieder den Glutamatausdünstungen der Burgerketten und war auch die Renitenz nur ein Anrennen gegen Mauern. Wie sich das alles angefühlt haben muss, daran erinnere ich mich eigentlich nur, weil Morrissey es heute für mich singt – auf diesen alten Platten, die gar nicht alt klingen. Wie sich die Welt der Erwachsenen gegen die verschwor, die ich mir vorstellte; wie erhebend sich Sehnsucht anfühlen kann. Enttäuscht aber stolz, erniedrigt aber wütend. Und immer zynisch genug, nichts ernst zu nehmen, nichts an sich heran zu lassen. Man fühlt sich „miserable“. Morrissey singt dieses Wort oft.

Meine Lieblingsplatte der Smiths war immer The Queen Is Dead. Das grummelnde Titelstück ist ein schönes Beispiel dafür, wie melodiös sie Melancholie vertonten. „Life is very long, when you’re lonely“ schließt es. Vicar In A Tutu und Frankly, Mr. Shankly sind zwei typische Zweiminüter, flott runtergesungen und voller Zynismus. Auf der zweiten Seite des Albums finden sich die beiden fabelhaften Singles Bigmouth Strikes Again und The Boy With The Thorn In His Side. Die schönsten Stücke waren damals keine Singles, Cemetry Gates, Some Girls Are Bigger Than Others und There Is A Light That Never Goes Out, leichte Kompositionen. Wer nicht auf die Worte hört, der läuft Gefahr, The Smiths zu unterschätzen.

Wenn ich mich heute frage, wie sich pubertärer Liebeskummer wohl anfühlt, dann lande ich bei irgendeiner Liedzeile von diesem Album, meist bei There Is A Light That Never Goes Out: „And if a double-decker bus / Crashes into us / To die by your side / Is such a heavenly way to die.“ Das finde ich noch heute romantisch.

„The Queen Is Dead“ von The Smiths ist im Jahr 1986 bei WEA/Warner erschienen.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(24) Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (1980)
(23) Sister Sledge: „We Are Family“ (1979)
(22) Rechenzentrum: „The John Peel Session“ (2001)
(21) Sonic Youth: „Goo“ (1990)
(20) Flanger: „Spirituals“ (2005)
(19) DAF: „Alles ist gut“ (1981)
(18) Gorilla Biscuits: „Start Today“ (1989)
(17) ABC: „The Lexicon Of Love“ (1982)
(16) Funny van Dannen: „Uruguay“ (1999)
(15) The Cure: „The Head On The Door“ (1985)
(14) Can: „Tago Mago“ (1971)
(13) Nico: „Chelsea Girl“ (1968)
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Die Idee ist von Mozart

Regina Spektor macht Popmusik für Menschen, die Popmusik nicht mögen. In ihrem eigenwilligen Spiel mit Zitaten und Klängen kann sie nur ein Schluckauf bremsen.

Regina Spektor Hope

Anti-Folk und Anti-Pop nennen viele das, was Regina Spektor da vorführt. Sie macht Musik, wie sie wohl nur in der Großstadt, vielleicht sogar nur in New York entstehen kann: voller Anspielungen, ironisch und geheimnisvoll, manchmal auch unverständlich. Wenn man Pop mit Oberflächlichkeit gleichsetzt, dann ist ihr Album Begin To Hope tatsächlich Anti-Pop.

Regina Spektor kam im Alter von acht Jahren mit ihren jüdischen Eltern nach New York, sie flohen vor antisemitischen Anfeindungen aus Russland. Gegen ihren Willen ging sie zum Klavierunterricht, ihre Eltern hatten nur Ohren für klassische Musik. Allmählich begann Regina Spektor, andere Musik wahrzunehmen, in New York konnte sie dieser nicht entgehen. Die Kurzfassung ihrer Karriere: Sie fing an, Lieder zu schreiben, nahm einige Alben auf, gewann mit Soviet Kitsch ein größeres Publikum, traf den Produzenten David Kahne und spielte mit seiner Hilfe Begin To Hope ein.

„Shook it up“, sagt die Sängerin beiläufig, und schon ist man mittendrin in einer Wolke von Pizzicati, zunächst nur auf Violinen, später treten Violen und Celli hinzu. Ein elektronisches Schlagzeug zählt mit. Fidelity heißt das Stück. Sie singt wie für sich selbst, der Text klingt autobiografisch, ist es aber wohl nicht. Sie erfindet diverse Alter Egos, benutzt erfundene Figuren. Ihr verhaltener Stimmklang wird eingehüllt von Synthesizerklängen, die ein englisches Blasorchester aus Hörnern und Posaunen nachahmen, bis sich ein Klarinettenklang löst und davonschwebt. Die Idee stammt von Mozart. Schließlich setzt doch noch ein leibhaftiges Schlagzeug ein, parallel zu dem elektronischen. Basstrommel, Snare, Hi-Hat, ein, zwei Mal ein Crashbecken, das ist alles. Am Schlagzeug sitzt Shawn Pelton. Er hat für Bruce Springsteen getrommelt und für Sheryl Crow. Sein kunstvolles Spiel verleiht dem Stück die eigentliche Dynamik.

On The Radio ist simpel und vertrackt zugleich. Im Grunde sind es abgegriffene Akkordfolgen, wie sie schon hundertfach verwendet wurden – etwa in Emilias Big Big Girl. Wieder bilden Pizzicati die Grundfarbe des Klangs, Shawn Pelton zeigt im Hintergrund, was er mit drei Perkussionsinstrumenten anstellen kann. Regina Spektor singt von einem Radio-DJ, der offensichtlich eingeschlafen ist. Er spielt November Rain von Guns N’Roses zweimal hintereinander, sie findet das Solo zunächst „really long“, beim zweiten Mal dann schon „awful long“. Die Musik ist voller Details, Männerstimmen skandieren im Hintergrund „Huh Hah, Huh Hah“, der Synthesizer dudelt Alberti-Figuren vor sich hin, am Ende des Stücks zitiert Regina Spektor eine Zeile der Dresden Dolls.

Ihr Klavierspiel hat wenig mit Pop und Jazz zu tun. Die Klanggestaltung und Dynamik erinnert an die großen Russen Mussorgski und Prokofjew. Mal glaubt man die Akkorde von Tschaikowskis erstem Klavierkonzert hören zu können, mal ein Zitat aus Bilder einer Ausstellung, mal einen Klang aus Leutnant Kijé. Einmal singt sie russisch.

Überhaupt ihr Gesang, es stimmt jeder Ton. Dass eine russische Jüdin auch den Blues singen kann, beweist sie mit Lady, da fällt sogar das Wort „blue“ auf eine Blue Note. Der Hotel Song ist eine perkussive Zwiesprache mit dem Schlagzeug, bei Après Moi wird sie von einem Schluckauf gebremst.

Begin To Hope ist etwas für Musikhörer, die Pop nicht mögen. Eben Anti-Pop.

„Begin To Hope“ von Regina Spektor ist bei Warner Music erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Architecture In Helsinki: „Places Like This“ (V2 Records)
The Sea & Cake: „Everybody“ (Thrill Jockey 2007)
MUS: „La Vida“ (Green Ufos/Hausmusik 2007)
Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (Rough Trade 1980/Domino Records 2007)
The Concretes: „Hey Trouble“ (Finger Lickin’ Records/Alive 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Großstadtflimmern

Cameron Bird ist der Sänger von Architecture In Helsinki, seit einiger Zeit lebt er im hektischen New York. „Places Like This“ kündet von seinem beschleunigten Herzschlag.

Architecture In Helsinki Places Like This

Architecture In Helsinki haben ein neues Album, Places Like This. Sie servieren – das ließ die Vorab-Single Heart It Races schon ahnen – ein wahrhaft leckeres Stil-Süppchen. Das Rezept ihrer letzten Platte In Case We Die haben sie mit zahlreichen exotischen Zutaten verbessert.

Ursprünglich kommt die Band aus Melbourne, Australien. Nicht, dass man ihrem wilden Pop-Gemischtwarenladen das angehört hätte. Aber der Reggaeton-Beat und die Calypso-Steel-Pan-Klänge auf Heart It Races sind doch unerwartete Elemente. Wohin mag es die Band verschlagen haben? Ah, natürlich: Der Schreiber und Sänger Cameron Bird ist nach New York gezogen, genauer gesagt nach Williamsburg, dort leben viele Emigranten aus Puerto Rico und der Dominikanischen Republik. Kein Wunder, dass sein Herz schneller schlägt, wenn ihn Tag und Nacht die hektischen Reggaeton-Rhythmen und die unablässigen Klänge der Metropole begleiten.

Der Rest der Band lebt noch in Melbourne. Die neuen Stücke entstanden im E-Mail-Austausch und wurden dann, nach einer langen Amerika-Tour, in 12 Tagen im Studio eingespielt. Ganz im Gegensatz zu ihren beiden ersten Alben, die waren in kleinteiliger Studioarbeit entstanden.

Architecture In Helsinki klingen, als wären sie drauf und dran aus den Boxen ins Zimmer zu springen. Quicklebendig schäumen die Stücke über, sie stecken voller quietschbunter Details. Der Comic auf der Hülle von Places Like This verspricht nicht zu viel. Unter der brodelnden Oberfläche wartet ein mysteriöser Garten darauf, erkundet zu werden. Die Klänge verästeln sich bis ins Kleinste, man entdeckt tatsächlich immer etwas Neues. Ihre musikalische Imagination scheint keine Grenzen zu kennen.

Sie haben das Zeug, die neuen B-52s zu werden. Besonders Hold Music erinnert mit seinem Wechselspiel aus tiefer Männerstimme und weiblichem Sopran an die Party-Band der Achtziger. Die druckvolle Keyboard-Basslinie, die peitschenden Rhythmen, die Kuhglocke und die satten Bläser sind dann wieder typisch für Architecture In Helsinki.

Lazy (Lazy) kombiniert Highlife-Gitarren mit einem überschäumenden „Ay, Ay, Ay“-Chorus. Verschnaufpausen gibt es auf Places Like This so gut wie keine. Lediglich Underwater ist ruhig und ausgeglichen und so reich an Klängen, dass man konzentriert hinhören sollte. Danach geht die Feier weiter mit Like It Or Not – die Congas klackern, die Mariachis blasen, die Gitarre schrammelt. Und dann gibt es noch diesen mitreißenden Nonsens-Chor.

Man ist fast erleichtert, dass das Album nach einer guten halben Stunde vorbei ist. Erschöpft und euphorisiert lehnt man sich kurz zurück, verschnauft und startet die CD dann doch gleich noch einmal.

„Places Like This“ von Architecture In Helsinki ist auf CD und LP bei V2 Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
The Sea & Cake: „Everybody“ (Thrill Jockey 2007)
MUS: „La Vida“ (Green Ufos/Hausmusik 2007)
Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (Rough Trade 1980/Domino Records 2007)
The Concretes: „Hey Trouble“ (Finger Lickin’ Records/Alive 2007)
Pepe Deluxé: „Spare Time Machine“ (Catskills/Groove Attack 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Die Platte springt nicht

Die Lieder von The Sea & Cake sind glatt und elegant, ein bisschen fröhlich und ein bisschen melancholisch. So könnte Musik klingen, wenn immer und überall Musik wäre.

The Sea And Cake Everybody

In dem deutschen Spielfilm Absolute Giganten wünscht sich die Hauptfigur Floyd an einer Stelle, „Es müsste immer Musik da sein, bei allem, was du machst.“ Im Hintergrund leiert Reprise, ein melancholisches Instrumentalstück der Band Sophia. „Und an der Stelle, wo es am allerschönsten ist, müsste die Platte springen und du hörst immer nur diesen einen Moment“, fährt Floyd fort. Doch die Platte springt nicht, das Stück ist nach anderthalb Minuten vorbei.

Die Musik von The Sea & Cake aus Chicago hätte gut an diese Stelle gepasst. Ihre Lieder sind elegant, ein bisschen fröhlich und melancholisch. Die Töne und Rhythmen fließen, sie passen immer. Sie können einfach nebenbei säuseln, zum Spülen oder Aufräumen. Man kann ihnen genausogut aufmerksam zuhören, abends im Bett, bei einer Flasche Rotwein, mit Kopfhörern. So könnte es klingen, wenn immer und überall Musik wäre.

Vor einigen Jahren war die Musikszene Chicagos plötzlich in aller Munde. Die Musik von Bands wie Tortoise, Isotope 217, Pullman, dem Chicago Underground Orchestra und eben The Sea & Cake wurde unter der Bezeichnung Post-Rock bekannt. Sie spielten Rock- und Popmusik, stark beeinflusst vom Jazz, von Minimal-Music und manchmal von Folk und HipHop. Bei WOM in Hamburg wurde ein eigenes Fach „Chicago“ eröffnet. Auch viele deutsche und britische Bands fanden sich dort.

Damals waren The Sea & Cake mit Tortoise auf Tour, das waren seltsame Konzerte. Hier die Kompositionen der Instrumentalkünstler von Tortoise, lauter ausgefallene Takte und Instrumente, zerbröselte Rhythmen und Melodien. Und dort die feinsinningen The Sea & Cake, ihre lockerflockigen Gesangslinien und Gitarrenmuster. Tortoise spielten keinen Takt zweimal, The Sea & Cake den einen Takt immer wieder. Der Schlagzeuger John McEntire stand jeden Abend zweimal auf der Bühne.

The Sea & Cake gibt es seit 1993, Everybody ist ihre siebte Platte. Auf der letzten, One Bedroom, hatten sie vor vier Jahren die Glattheit ein wenig übertrieben. Ihre Lieder klangen seelenlos, das Album gipfelte in einer schillernden Coverversion von David Bowies Sound And Vision. Danach nahm der Sänger Sam Prekop ein Soloalbum auf und reiste als Fotograf durch die Welt, der Schlagzeuger John McEntire nahm mit seiner anderen Band Tortoise und Bonnie „Prince“ Billy ein rumpeliges Coveralbum auf.

Everybody klingt so, als spiele die Band wieder zusammen. Die Kompositionen stehen im Mittelpunkt, nicht die verspielte Instrumentierung. Die Lieder klingen direkter, große Teile des Albums wurden live aufgenommen, Overdubs kommen selten zum Einsatz. Zum ersten Mal wurde ein Album der Band nicht von John McEntire produziert.

Man ist versucht, diese Musik in Metaphern zu beschreiben. Übertreiben wir mal ein bisschen: Wie Eisblumen am Fenster entfalten sich die von Sam Prekop mit wachsweicher Kopfstimme gehauchten Melodien. Wie Schönwetterwolken ziehen die Gitarrenmuster am hellblauen Himmel. Wie Lava brodelt der Bass. Und das Schlagzeug… Ach, lassen wir das.

„Everybody“ von The Sea & Cake ist als CD und LP bei Thrill Jockey erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
MUS: „La Vida“ (Green Ufos/Hausmusik 2007)
Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (Rough Trade 1980/Domino Records 2007)
The Concretes: „Hey Trouble“ (Finger Lickin’ Records/Alive 2007)
Pepe Deluxé: „Spare Time Machine“ (Catskills/Groove Attack 2007)
Diverse: „Get While The Getting’s Good“ (aufgeladen und bereit 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik

 

Das Leben, was sonst!

In asturischer Sprache singt die spanische Band MUS ergreifende Melodien. Als ließe sie die Zeit einfach los.

MUS La Vida

Eine Fliege krabbelt an der Fensterscheibe. Es sieht aus, als verfolge sie ein Ziel, doch sie erreicht es nie. Irgendwann kommt für den Betrachter der Moment der Entscheidung: Macht einen ihre scheinbar sinnlose Suche nervös – oder gerät man in einen Zustand euphorischer Gelassenheit, als dehnten sich Augenblicke ins Endlose?

Ähnliches geschieht bei der Beobachtung eines Wasservogels am sommerlichen Badesee. Der Haubentaucher verschwindet unter der Wasseroberfläche, und während man nicht weiß, wann und wo er wieder auftaucht, zerrinnt die Zeit. Glücklich, wer sie einfach loslässt!

Dieses Glück des Loslassens vermitteln die zwölf Lieder der hierzulande vollkommen unbekannten Band MUS aus Spanien. Auf kleinen internationalen Labels haben sie bereits acht Platten herausgebracht, ihr neuntes Album heißt La Vida. Das Leben, was sonst! Direkt und schlicht sind die Lieder instrumentiert. Akustische Gitarren, Flöte, Geige, Schlagzeug sind im Stil klassischer Folkballaden arrangiert, auch mal mit mehr Orchestereinsatz oder im vollen Klang einer Rockband.

Und dann diese samtene Stimme der Sängerin Monica Vacas. Sie singt, als sänge sie nicht für uns, sondern für die Fliege an der Scheibe, den Haubentaucher am See. Sie singt in einer sehr alten romanischen Sprache, die nur noch in einigen Winkeln der Region Asturien im Norden Spaniens gesprochen wird.

Völlig falsch liegt, wer da Klischees von Latinofeuer im Kopf hat. Monica Vacas schwebt durch die melancholischen Melodien, sie betont und dehnt die Vokale wie ihre britischen Indiepop-Kolleginnen. Es klingt, als sängen die Mädels von Belle & Sebastian und Stereolab plötzlich mit fremden Zungen – zauberhaft!

Wie ein sanfter Wellengang liegen die Akkorde und getupften Töne des Komponisten Fran Gayo unter ihrer Stimme. Das ein oder andere Volks- oder Kinderliedmotiv mag Pate gestanden haben, im Refrain „Ay, ay, ay“ des Liedes Animas Del Purgatoriu, im ersten Stück der Platte, Per Tierres Baxes.

Monica Vacas und Fran Gayo sind das Herz von MUS. Auf der Website der Platenfirma sieht man ein Foto von ihnen, das erinnert an Juliette Greco und Georges Moustaki in jungen Jahren oder an das Paar Abi & Esther Ofarim. Das passt zu dem kleinen Label Green Ufos, denn hier passt nichts zueinander. Die neue Platte der Glam-Folk-Hop-Schwestern CocoRosie ist in ihrem Programm, ebenso die Achtziger-Jahre-Revue der Elektronikveteranen Piano Magic; neben herrlich abstrusem Fantasy-Computerkitsch von Southern Arts Society hat Tom Verlaine ein Zuhause für sein Alterswerk gefunden.

Und MUS, sie haben mit La Vida Marcel Prousts verlorene Zeit wiedergefunden.

„La Vida“ von MUS ist bei Green Ufos/Hausmusik erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie POP
Young Marble Giants: „Colossal Youth“ (Rough Trade 1980/Domino Records 2007)
The Concretes: „Hey Trouble“ (Finger Lickin’ Records/Alive 2007)
Pepe Deluxé: „Spare Time Machine“ (Catskills/Groove Attack 2007)
Diverse: „Get While The Getting’s Good“ (aufgeladen und bereit 2007)
Patrick Wolf: „The Magic Position“ (Loog/Polydor 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter zeit.de/musik