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Das Leid der anderen, ach Gottchen!

Auf etlichen Bühnen werden gerade Geschichten von Flüchtlingen erzählt. Man will der Fremdenfeindlichkeit etwas entgegensetzen. Aber ist das nicht selbst ein Übergriff?

© Marco Longari/AFP/Getty Images

Fremdschämen: Das ist, wenn man sich für Fremde schämt. Ich bleibe sitzen, und ich schüttle meinen Kopf, und ich blicke auf meine Schuhe, und vielleicht laufe ich auch rot an, um das letzte Klischee zu erfüllen, aber später denke ich, vielleicht hätte ich aufstehen müssen, etwas sagen. Mit anderen Worten: Später kommt der Fremdscham das „Fremd“ abhanden. Ich saß da nur so, rutschte unangenehm berührt auf meinem Stuhl hin und her, blickte ungeduldig auf die Uhr, wieder zur Bühne. Suchte nach Spuren von Entrüstung in ihrem Blick. Weiter„Das Leid der anderen, ach Gottchen!“

 

Der Sommer der Liebe kann losgehen

Batik statt Yoga. Dutschke statt Höcke. Hipster zu Hippie. Feiern wir den Summer of Love, als wäre er nicht 50 Jahre alt. Dann klappt es auch mit der Bundestagswahl.

© Anthony Delanoix/unsplash.com

Auch ein Sommer der Liebe wird mal 50. Dieses Jahr ist es soweit. Also lasst uns feiern, wir haben es nötig. Das Feiern, klar. Aber erst recht haben wir ihn nötig: den Sommer der Liebe. Nie war er so wertvoll wie heute. Weiter„Der Sommer der Liebe kann losgehen“

 

Ein Gespenst muss tun, was ein Gespenst tun muss

Der Immobilieninvestor ist die Spukgestalt des deutschen Wohnungsmarktes. Irgendwann steht er vor der Tür. Ja, und was dann?

Copyright: Florian Werner

Ein Gespenst geht um in unserem Haus. Das Gespenst ist Immobilienexperte und hat das Mietshaus – einen typischen Berliner Gründerzeitbau, 1897–98 entworfen und ausgeführt von dem Zimmermannsmeister Max Gosebruch – zum Jahresanfang gekauft. Nun plant das Gespenst, so steht es im Kaufvertrag, „umfängliche Modernisierungs-, Instandsetzungs- und Ausbauarbeiten“. Das ist sein gutes Recht, aber als langjähriger Mieter liest man’s mit Schauder. Schließlich schreibt das Gespenst, diesmal auf seiner Webseite, dass Berlin „eine positive Entwicklung im Bereich der Immobilien noch vor sich“ habe. Das ist nun erkennbar nicht aus der Perspektive eines Mieters gesprochen, der eine bezahlbare Wohnung sucht, sondern aus der eines Investors, der auf möglichst hohe Rendite aus ist. Wenn eine exorbitante Steigerung der Mieten und Immobilienpreise, wie sie die Hauptstadt derzeit erlebt, eine „positive Entwicklung“ ist, dann ist, um mit Shakespeares Hamlet zu sprechen, „etwas faul im Staate Dänemark“. Beziehungsweise Deutschland. Weiter„Ein Gespenst muss tun, was ein Gespenst tun muss“

 

Mitnichten, Genosse Ermittler, mitnichten!

Um Proteste zu verhindern, sind in Belarus Verleger, Journalisten und Aktivisten „präventiv“ festgenommen worden. So schlimm war es seit den dreißiger Jahren nicht mehr.

Polizisten vor der Demonstration in Minsk am 24. März (© Vasily Fedosenko/Reuters)

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Die in Belarus per Präsidialdekret Nr. 3 eingeführte Arbeitslosensteuer hat seit Mitte Februar in Minsk und anderen Großstädten in Belarus viele Menschen auf die Straße getrieben. Zunächst forderten sie die Rücknahme der Strafen für „Parasiten“ (als „Parasit“ gilt, wer nicht bereit ist, für den Monatslohn von 100 Dollar zu arbeiten, der vom Arbeitsamt für freie Stellen in Aussicht gestellt wird). Nikalai Statkewitsch, Ex-Präsidentschaftskandidat, hat die Regierung aufgefordert, das Dekret bis zum 25. März zurückzunehmen. Für den 25. März, den Unabhängigkeitstag, wurde eine Großdemonstration angekündigt. Weiter„Mitnichten, Genosse Ermittler, mitnichten!“

 

Das Theater des Krieges

Gegen die Langeweile hilft das Basteln mit der Laubsäge. Bier gibt es zwischen 21 und 22 Uhr. Es gilt die Zwei-Dosen-Regel. Zu Besuch im Bundeswehrcamp in Afghanistan.

© Michael Disqué

 

Der Fotograf Michael Disqué und der Schriftsteller Roman Ehrlich reisten im Sommer 2015 in das Nato-Feldlager Camp Marmal bei Masar-i-Scharif in Afghanistan. Sie verbrachten drei Wochen innerhalb der Grenzen des Camps, sprachen mit den dort stationierten Soldaten und besuchten die verschiedenen Einrichtungen, Dienststellen und Arbeitsbereiche. Weiter„Das Theater des Krieges“

 

18 Dinge, die Sie im Alter bereuen werden

Alt werden heißt auch: im Leben möglicherweise etwas verpasst zu haben. Das macht einigen Menschen Angst. Ein paar Dinge, über die Sie sich dann wirklich ärgern sollten

© Keith Bedford/Reuters

 

1. Nie Ihre Träume verwirklicht zu haben. Halt bis auf den einen, in dem Sie nackt noch einmal Ihre Abiturprüfung ablegen müssen, aber darüber wollen Sie lieber nicht mehr sprechen.

2. Ihrer großen Liebe nie Ihre wahren Gefühle gestanden zu haben. Dabei hört jede Mutter gern, dass keine andere Frau je an sie herankommen kann. Vor allem Ihre Mutter. Die ist nämlich die Beste von allen. Lassen Sie sich nichts anderes einreden.

3. Nie Klavierspielen gelernt zu haben. Und jetzt sitzen Sie da auf der Bühne der Elbphilharmonie, das Publikum wartet gespannt, und Sie haben den Salat.

4. Die Sozial-Rock-Oper über Ihre Emotionen nie beendet zu haben. Weiter„18 Dinge, die Sie im Alter bereuen werden“

 

Feindschaft als letzte Freiheit

Recht hat, wer Erfolg hat. Gut ist, was laut ist. Die Werte unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens werden gerade zerstört. Wir schauen seelenruhig zu.

Populismus: Feindschaft als letzte Freiheit
© Riccardo Botta//EyeEm

Seit geraumer Zeit befinden wir uns in einer Phase enormer Zuspitzungen. Überall und ständig verhärten sich die Fronten. Als wären wir in eine Beschleunigungsspirale geraten, wird der Ton beinahe täglich schärfer. Positionen stehen sich unversöhnlich gegenüber. Man will einander nicht mehr zuhören, geschweige denn aufeinander eingehen. Reizwörter reichen, um dem Gegner das Wort abzuschneiden, während Einigkeit herrscht unter Gleichgesinnten. Sie befeuern einander mit den technischen Hilfsmitteln sogenannter Schwarmintelligenz. Im Übrigen schafft man Fakten, der Rede vom postfaktischen Zeitalter zum Trotz. Weiter„Feindschaft als letzte Freiheit“

 

Du sollst nicht duckmäusern

Osteuropa war ein Imperium der Feigheit. Der Schriftsteller Michail Bulgakow hat das Aufbegehren dagegen gelehrt. Nun erlebt man in Belarus das Aufblühen des Mutes.

© Maxim Malinovsky/AFP/Getty Images

Meine erste Begegnung mit Michail Bulgakows Roman Der Meister und Margarita hatte ich Anfang der Neunziger, als mein Vater einen Samisdat-Matrizenabzug mit blassen Buchstaben und improvisiertem Wachstucheinband mit nach Hause brachte. Schon auf den ersten Seiten, auf denen zwei sowjetische Schriftsteller, die an Patriarchenteichen Aprikosenlimonade trinken, dem als Ausländer verkleideten Satan einreden wollen, er existiere in Wirklichkeit gar nicht, war mir klar, dass dieser Text mit großer Vorsicht zu genießen ist. Weiter„Du sollst nicht duckmäusern“

 

Schlummernde Schande

Der Kommunismus hat gezeigt, dass die menschliche Natur miserabel und finster ist. Wie jedes totalitäre Regime. Es ist verstörend, die Spuren noch immer zu sehen.

© Maxim Zmeyev/Reuters

Es ist sechsundzwanzig Jahre her, dass der Kommunismus in meiner Heimat zusammenbrach. Seitdem verging eine kleine Ewigkeit, für manche sogar ein ganzes Leben. Die meisten Soldaten, die im ukrainischen Osten bereits gefallen sind, haben den Kommunismus nie erlebt. Ich erinnere mich selbst auch nur dunkel daran. 1991 war ich acht Jahre alt und trug keine Lenin-Abzeichen auf der Brust und keine Pionierhalstücher. Trotzdem zucke ich zusammen, wenn ich die Spuren des Kommunismus, vorwiegend in der Architektur, irgendwo außerhalb der Ukraine erkenne, auf der Karl-Marx-Allee in Berlin zum Beispiel, oder in den kleinen Orten an der Ostsee, oder im kroatischen Rijeka letzten Sommer. So reagieren Menschen, die eine tödliche Infektion überstanden haben. Weiter„Schlummernde Schande“

 

Kein gutes Gefühl

Künstliche Intelligenz ist vielen suspekt. Künstliche Empfindung gilt sogar als bedrohlich. Warum bloß? Unsere Gefühle sind längst so programmiert wie die von Maschinen.

© Kim Kyung Hoon/Reuters

Im Sommer 2013 erlitt meine Großtante Gerda einen Schlaganfall. Sie überlebte. Allerdings blieb ihre gesamte linke Körperhälfte gelähmt. Ihr Sprachvermögen beschränkte sich in dieser Zeit auf einige unartikulierte Laute, die keiner verstand. Trotzdem versicherten die Ärzte, dass „ihre Persönlichkeit“ oder, wie mein Großvater mir am Telefon sagte, „die Gerda“ weiter vorhanden sei beziehungsweise, wieder O-Ton mein Großvater, „da drin“ sei, womit er ihren Körper meinte. Weiter„Kein gutes Gefühl“