Man läuft über Scherben und morsche, knarrende Bretter. Leerstehende Gebäude sind das Gegenteil von trostlos. Hier lassen sich Exkursionen in fremde Welten unternehmen.
A. zeigt mir seine neue Kamera. Wir fahren mit der S-Bahn Richtung Nordosten. Wir tragen stabiles Schuhwerk, Rucksäcke und Kleidung, die schmutzig werden darf, die kaputt gehen darf. Was wir machen werden? Wir fotografieren. Motive werden wir nicht suchen müssen, wir werden uns in ihnen bewegen. Zugegeben, es ist eine etwas merkwürdige Freizeitbeschäftigung, durch verlassene Gebäude zu laufen und sie zu fotografieren. Weiter„Der Abenteuerspielplatz des mittelalten Mannes“
David Cameron soll ein delikates Körperteil in ein Schweinemaul gesteckt haben. Das erzählt mehr über den englischen Humor als über den Prime Minister.
Da bin ich seit drei Wochen in England und suche ihn: den britischen bzw. englischen Humor. Die Nation lacht sich halb krank über die BBC-Back-Show am Mittwoch. Nun gut. Ende August fahre ich um kurz nach sechs an unserem Nachbarpub vorbei. Eben geöffnet. Ganz in Rot gekleidete Menschen über 50 torkeln mit den auf übliche Weise (bis zum Rand) gefüllten Biergläsern heraus. Torkeln, weil sie auf High Heels gehen: alle. Männer wie Frauen – in roten Abendkleidern, roten Boas, roten Glitzerleggins, mit angeklebten Brüsten und so weiter. Okay, denke ich. Verstehe nichts, aber offensichtlich amüsieren die sich prächtig: making fun of themselves. Weiter„Der Schweinemaul-Steck-Fall“
Ein Algorithmus ist politisch indifferent, ein Unternehmen darf das nicht sein. Warum Facebook Verantwortung übernehmen und gegen rassistische Inhalte vorgehen muss.
Facebook hat mal wieder Mist gebaut und zwar so großen, dass es viele seiner Nutzer gegen sich aufgebracht hat. Und das zu Recht, hat sich das soziale Netzwerk in letzter Zeit immerhin als Plattform für rechtsextreme und rassistische Hetze hervorgetan und geradezu verschlafen, gegen Posts vorzugehen, die zur Gewalt gegen Ausländer aufrufen. Nun schreitet sogar Justizminister Heiko Maas ein und bittet die Konzernleitung an den runden Tisch.
So weit der Tatbestand, der Fall ist ernst, die Fragen, die dahinter liegen, aber noch weit größer. Und sie sind drängend. Denn es braucht eine Antwort oder vielleicht auch viele Antworten darauf, wie mit einem immens mächtigen Kommunikationsnetzwerk, genannt Internet, umzugehen ist, dessen Strukturen sich zunehmend als ausgesprochen extremistenfreundlich erweisen und zwar international, von Heidenau bis zum IS. Weiter„Die Freiheit kann nicht grenzenlos sein“
Sylt und Rügen locken den Urlauber genauso wie den Künstler. Aber mitunter liegen Inseltraum und Frustrationsraum auch sehr nah beieinander.
Wenn Inseln überhaupt jemandem gehören, dann dem Meer, den Fischern und den Künstlern. Mag das Schaffen Letzterer noch so anders sein, etwas vereint beide: die Unbehaustheit, in der sie einen großen Teil ihres Lebens verbringen. Sind die einen auf offener See täglich den Launen der Natur ausgesetzt – Unwettern, der fortwährenden Umwälzung des Meeresgrunds und dem nie gänzlich ergründeten Geheimnis der Fischzüge –, wissen die anderen oft nicht, was der nächste Tag, die nächste Stunde ihrer Arbeit bringen. Weiter„Die Saugpumpen schlürfen wie Seeungeheuer“
Menschenrechte, na klar – aber bitte nur unsere eigenen! Die Schweizerische Volkspartei versucht mal wieder, demokratische Instrumente in Wahlkampf-PR umzumünzen.
Am Helvetiaplatz gleiten leise und pünktlich Straßenbahnen vorbei, gemächlich fließt das Schwyzerdütsch um mich. Als Gott Tag und Nacht schuf, schnitt er für die Schweizer die Zeit ein wenig großzügiger zurecht als für den Rest der Schöpfung. Die Schweiz, das ist das Land der Neutralität und der Volksbefragungen, der florierenden Privatbanken und Sitz so vieler internationaler Organisationen, eigenbrötlerisch und zugleich weltläufig, ach Schweiz, wären wir nur alle so wie du!
Erst als ich umständlich Franken aus meinem Portemonnaie krame, um meinen Kaffee zu bezahlen, der drei Mal so viel kostet wie in Berlin, fällt mir der Regen auf und die dunklen Wolken, die über Zürich hängen, und wie wenig ich mir diese Stadt leisten kann. Neben allem anderen ist die Schweiz auch der Ort, an dem privilegierte Westeuropäer das Wohlstandsgefälle einmal von unten und nicht von oben aus zu spüren bekommen – Zuwanderungsprobleme de luxe, derweil die Schweizer sich über die Flüchtlinge den Kopf zerbrechen und über die Frage, wann das sprichwörtliche Boot mal wieder voll ist. Weiter„Menschenrechte im Schlussverkauf“
Nach dem Urlaub kommen die Vorwürfe: Wieder keine Karte an die Lieben geschrieben! Das ist auch für die Postkarte kein schöner Zustand. Hier darf sie sich aussprechen.
Hallo Freunde,
ich bin es, Eure nicht verschickte Urlaubspostkarte. Huhu! Na? Seid Ihr gut wieder zu Hause angekommen? Ich bin immer noch hier, falls ihr Euch das fragt. Immer noch in diesem Postkartenständer. Ist okay. Manchmal wird der Ständer gedreht, dann kreischen wir hier alle sehr leise und sehr bemüht, und am Ende bleibt man meist an irgendeiner neuen Position stehen. Über fehlende Abwechslung kann ich mich also nicht beklagen.
Und es ist voll in Ordnung, dass Ihr mich nicht verschickt habt. Es ist ja die Geste, die zählt. Und die Geste war halt, sich vorgenommen zu haben, eine Urlaubskarte zu verschicken. Das ist eine schöne Geste. Viel schöner, als sich zum Beispiel vorzunehmen, auf gar keinen Fall eine Karte zu verschicken oder jemand Fremdes in die Seite zu zwicken. Ihr seid im Grunde gute Menschen, das weiß ich, das weiß ich sicher. Weiter„Beim letzten Zählen waren es null Freunde“
Nach 16 Jahren legt der Rapper ein völlig unreales Album vor. „Compton“ ist ein buntes, nostalgisierendes Täuschungsmanöver und eine misogyne Dummheit.
Schlechte Zeiten für Gangsta-Rapper: Die Zahl der Gewalttaten in Compton ist im vergangenen Vierteljahrhundert kontinuierlich zurückgegangen. Ende der achtziger Jahre, als die Hip-Hop-Formation N.W.A. ihr kontroverses erstes Album Straight Outta Compton veröffentlichte (und damit dem Genre des Gangsta-Rap zum internationalen Durchbruch verhalf), wurden in der südkalifornischen Stadt noch alljährlich an die 100 Morde verübt.
2014 waren es nur noch ein Viertel so viele. Die junge Bürgermeisterin initiiert seit dem vergangenen Winter regelmäßig friedliche Begegnungen zwischen den Anführern der beiden wichtigsten Gangs, den Crips und den Bloods. Und der neue Slogan der Stadt lautet: Birthing a New Compton − der alte amerikanische Traum von Verfall und Wiedergeburt.
Lange wachte er am Rand der westlichen Zivilisation, dann wurde er ihr als Erster geopfert. Mit 62 lernt er kochen. Töten würde er sofort: der ganz normale Ukrainer.
Er hat zwei Töchter (wobei er sich immer einen Sohn wünschte), eine Dreizimmerwohnung im sowjetischen Hochbau, die er im letzten Jahr der Sowjetunion als hochqualifizierter Ingenieur noch gratis bekam, und eine Frau, die, wie er sagt, im Erdgeschoss bleibt, während er schon in den neunten Stock hinaufgefahren ist.
Genauso wie alle anderen normalen Ukrainer in seinem Alter verlor er mit dem Zerfall des Ost-Imperiums alles, was er besaß. Allen voran seine Arbeit und seine Würde. Ich könnte Schiffe bauen, sagte er bedauernd, wenn er auf dem Markt in der Nachbarschaft ein kleines Geschäft abgeschlossen hatte. Niemand wollte seine Schiffe, alle wollten seinen Wodka. Weiter„Für den Krieg zu alt, für Demenz zu jung“
Das Relevanzdiktat dominiert die Kunst. Und wo sie keine politische Aufarbeitung betreibt, da soll sie bitte wenigstens Aufmerksamkeit erregen. Ist das wirklich sinnvoll?
Man fliegt um den halben Globus, landet auf einem fremden Subkontinent, Gedichte werden übersetzt. Die Autoren, die einem gegenübersitzen, haben eine Agenda. Nicht, dass man selbst keine hätte. Eine Agenda der Kunstfreiheit etwa, gespeist aus dem Gedankenraum europäischer Aufklärungstradition. Kants Idee der Nutzenfreiheit des ästhetischen Genusses, aufgegriffen und gespiegelt, wenn Luhmanns systemische Sozialmodelle der Kunst die Funktion der Funktionslosigkeit zusprechen.
Das Gegenüber schreibt Botschaftslyrik. Der soziale Ansatz ist aller Unterstützung wert: unterdrückte Ureinwohner, die Fortsetzung tausend Jahre alter Macht- und Beraubungsverhältnisse mit Hilfe europäisch-kolonialistischer Strukturen. Eingesetzt gegen sogenannte Kastenlose oder Frauen, deren Gesundheit und körperliche Integrität in großem Maßstab mit Füßen getreten werden. Poesie also, die versucht, Menschen eine Stimme zu geben, die mit dem Wort kaum umgehen können und gewiss nicht zu Wort kommen – sie leben in Slums, schlafen um den Fuß eines Verkehrsschildes gerollt, werden zum Sterben in einen Zug gelegt, weil niemand ihr Begräbnis bezahlen kann. Weiter„Kunst kann das Nichts“
Zikaden, Orangenbäume, Sonnenuntergänge. Teneriffa versteht sich darauf, die Kitschmaschine anzuwerfen. Aber wer genauer hinsieht, stößt auf die Abgründe der Franco-Zeit.
Wir kennen uns seit Langem, die Insel und ich. Die Insel hat viele Talente. Sie hat ein unfehlbares Gespür für Timing, kann Spannungsbögen aufbauen, wie wenige andere Orte, liebt Reihungen, neigt zu Knalleffekten. Darum klemmt morgens nach dem Aufwachen der Fensterladen, und wenn er endlich nachgibt, rieselt beim Aufschwingen hellbraunes Holzpulver, Termiten, in einem akkuraten Viertelkreis auf die Bettdecke. Darum steht draußen, im Nachbargarten, ein Mann zwischen den Orangenbäumen und hält eine Flinte. Und weil die Insel gerne ein wenig dick aufträgt, beugt der Mann seine Knie, macht zwei schleichende Schritte, hält inne und legt an. Der Knall ist leiser als erwartet, wenige Meter von ihm entfernt explodiert etwas Kleines zu Blut und stiebenden Haaren.
Wenig Schlaf letzte Nacht, die Frau hat wieder stundenlang „Danièl“ geschrien, sie wohnt in dem Häuserblock gegenüber der Auffahrt, „Danièl, komm her“, schreit sie, „bitte“, immer in der gleichen Tonlage. Das Wasser kocht, steigt in der Cafetera hoch, die Insel gibt keine Ruhe. Die Katzen haben ein Tier in den Patio getrieben, sitzen vor den Blumentöpfen, versuchen mit den Pfoten dahinter zu langen. Du kriegst mich nicht, sage ich zur Insel, darauf falle ich nicht rein, ich sehe nicht nach. Im Garten blühen die Strelitzien, ebenso der Wachsblumenbaum, und weil die Insel einen Hang zum Übertreiben hat, fängt beim ersten Schluck Kaffee die Danièl-Frau wieder an. Gedämpfter als in der Nacht, da stand sie am offenen Fenster und rauchte während sie schrie, zwischen orangefarbenen, sich im Luftzug blähenden Vorhängen. Im Patio wird es kurz hektisch, dann sehr ruhig, die Katzen kommen mit gemächlich langen Schritten in den Garten. Weiter„Die Verschwundenen von Teneriffa“