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Ankläger wollen Verfassungsschutz nicht durchleuchten

Hat ein hessischer Verfassungsschützer vom Kasseler NSU-Mord gewusst und wurde er von der Behörde gedeckt? Anwälte fordern eine Untersuchung. Doch die Bundesanwaltschaft sträubt sich.

Die Sensation war so perfekt, dass sie nur noch Makel bekommen konnte: In Hessen hatte ein Schweigekartell aus Politik und Ämtern Informationen über einen rassistischen Mord zurückgehalten. Der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier steckte in dem Sumpf mit drin, genauso wie das ihm unterstellte Landesamt für Verfassungsschutz. Und natürlich dessen Mitarbeiter Andreas T., der von Plänen wusste, den Deutschtürken Halit Yozgat am 6. April 2006 in seinem Kasseler Internetcafé zu erschießen.

So lautet die Version, die die Anwälte der Hinterbliebenen von Yozgat aus mehreren Telefonmitschnitten der Polizei destillierten. Demnach war T. nicht nur zufällig anwesend, als der 21-Jährige mutmaßlich von den NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in einem Internetcafé niedergeschossen wurde. Noch unglaubwürdiger als schon zuvor wirkte T.s Beteuern, er habe die Schüsse nicht gehört und den blutenden Yozgat nicht hinter seinem Tresen liegen sehen. Die hessische Politik habe dann schließlich dafür gesorgt, dass T.s Wissen bei den Ermittlungen der Mordkommission nicht aufflog.

Anwälte organisieren mediales Vorspiel

Deshalb fordern die Opferanwälte Doris Dierbach, Thomas Bliwier, Alexander Kienzle und Bilsat Top nun, Ministerpräsident Bouffier in den Münchner NSU-Prozess zu laden; außerdem den früheren bayerischen Innenminister Günther Beckstein, der Bouffier damals zu mehr Offenheit gegenüber den Ermittlern riet. Am Donnerstag, gegen Ende des letzten Verhandlungstags dieser Woche, trugen die Juristen insgesamt fünf Anträge vor. Sie enthalten auch die Forderung, die bislang unter Verschluss gehaltenen Mitschnitte abzuspielen – darauf findet sich etwa der mysteriöse Ratschlag eines Geheimdschutzbeauftragten der Behörde an T.: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“

Bevor die Anträge offiziell an das Gericht gestellt wurden, hatten die Anwälte ein mediales Vorspiel organisiert: Nach einem Zeitungsbericht schien es wie eine unumstößliche Tatsache, dass der Verfassungsschutz in den neunten Mord der NSU-Serie eingeweiht war – und Bouffiers Ladung vor Gericht praktisch ausgemacht.

Doch dass es dazu kommt, scheint nun eher unwahrscheinlich. Denn alle Beteiligten am Prozess haben das Recht, Stellungnahmen zu einem Antrag abzugeben. Dazu gehören auch die Mitarbeiter des Generalbundesanwalts, die die Anklage vertreten.

Die Staatsanwaltschaft tobt

Und deren Reaktion auf das Ansinnen der Anwälte war ungewöhnlich drastisch: Die Karlsruher Beamten ließen kein gutes Haar an den Schriftstücken. „Die Beweise werden zusammengesucht und im gewünschten Licht bewertet – nicht, ohne die Medien vorher ausführlichst zu informieren“, schimpfte Bundesanwalt Herbert Diemer. Die Opfervertreter hätten sich somit nur das zusammengesucht, was in ein verschwörerisches Bild des Mordes passte.

Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten trug im Anschluss eine ausführliche Begründung vor. Demnach seien die Beweismittel, also die Aufzeichnungen der Telefonate, „völlig ungeeignet“, zur Aufklärung des Mordes etwas beizutragen. Sie enthielten außerdem ganz andere Informationen. So bittet der Geheimschutzbeauftragte T. in einem Gespräch darum, bei der Polizei die Wahrheit zu sagen. Dieser stimmt auch zu. In der Tat ist im größten Teil der Protokolle keine Rede von Vertuschung. „Wertungsgetränkt“ sei die Interpretation des Gesprächs, sagt Weingarten. Es belege „das genaue Gegenteil der behaupteten Beweistatsache“.

Die Chancen auf einen Auftritt Bouffiers vor Gericht stehen damit schlecht, und auch die Tonbänder werden wohl weiter im Geheimen lagern. In der Vergangenheit ist der Strafsenat unter Leitung von Richter Manfred Götzl meist den Forderungen der Bundesanwaltschaft gefolgt – auch in einem Fall, als Nebenkläger beantragt hatten, fehlende Ermittlungsakten über Verfassungsschützer T. nach München zu schaffen.

Einen gewichtigen Anteil daran, die Durchleuchtung von T.s Verstrickungen zu verlangsamen, hatte somit die Bundesanwaltschaft selbst.

Zeugin nennt Ralf Wohlleben „Leitperson“

Vor dem Disput hatten am Donnerstag noch zwei Zeugen ausgesagt. Christina H. ist eine Freundin des Mitangeklagten Carsten S.. S. soll dem NSU-Trio die Pistole überbracht haben, mit der neun Menschen erschossen wurden. H. war kurz nach der Jahrtausendwende gemeinsam mit S. aus der Szene ausgestiegen, sie selbst war nach eigenen Angaben bereits mit zwölf Jahren hineingeraten. Nach ihrem Eindruck waren der ebenfalls Angeklagte Ralf Wohlleben und der Zeuge André K. die „Leitpersonen“ der Szene, sie hätten S. zu Treffen geschickt und das Geschehen bestimmt. Zudem habe sie Gespräche über das untergetauchte NSU-Trio mitbekommen – diese galten unter Gesinnungsgenossen demnach als „Märtyrer“.

Zweiter Zeuge war Achim F., der Bruder von Gunter F., der am Vortag ausgesagt hatte. Er bestätigte, dass die beiden Geschwister 1998 durch Kontakte eine Wohnung für die gerade untergetauchten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt beschafft hatten. Zudem überließ Gunter F. Uwe Böhnhardt seinen Personalausweis. Auch besaß das Trio einen Zettel mit detaillierten persönlichen Daten über Gunter F. Wie die mutmaßlichen Terroristen an das Dokument gelangt waren, konnte sich Achim F. – wie sein Bruder – nicht erklären.

 

188. Prozesstag – Freundin sagt über Ex-Neonazi Carsten S. aus

Der Mitangeklagte Carsten S. steht im Zentrum des 188. Verhandlungstags: Als Zeugin geladen ist eine frühere Freundin, die S. in den rechten Kreisen von Jena kennengelernt hatte und die gemeinsam mit ihm aus der Szene ausstieg. Christiane H. hatte bei der Polizei ausgesagt, wie sehr ihr Bekannter nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 litt und dass sie ihm die vorgeworfene Tat nicht zugetraut habe: S. soll dem Trio aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vor Beginn der Mordserie in Chemnitz eine Ceska-Pistole überbracht haben.

Mit der Waffe wurden mutmaßlich neun Menschen erschossen. S. hatte die Kurierleistung gestanden und sich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt.

Ein weiterer Zeuge ist Achim F., dessen Bruder Gunter bereits am Vortag ausgesagt hatte. Die Geschwister waren in der rechten Szene von Chemnitz unter dem Namen „die Geklonten“ bekannt. Wie der Bruder soll F. über mögliche Zugänge des Trios zu Waffen aussagen.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

187. Prozesstag – Mögliche NSU-Mitwisser als Zeugen geladen

Erneut beschäftigt sich das Oberlandesgericht mit mutmaßlichen Unterstützern aus der früheren Zeit des NSU-Trios. Dazu gehören die Brüder Gunter und Achim F., die in der rechten Szene von Chemnitz unter dem Namen „die Geklonten“ bekannt waren. Gunter F., der heute aussagt, soll Uwe Böhnhardt seinen Personalausweis und seine Geburtsurkunde überlassen haben. Mit den Papieren soll Böhnhardt einen Reisepass beantragt haben, um unter falschem Namen auftreten zu können. F.s Bruder ist am Donnerstag geladen.

Ebenfalls in den Zeugenstand tritt Jörg W., ein Kopf aus dem Umfeld der mittlerweile verbotenen rechtsradikalen Organisation Blood & Honour. Ein anderes Mitglied aus der Gruppe soll den Auftrag gehabt haben, eine Pistole für das Trio zu besorgen. Beide Zeugen sollen über mögliche Zugänge des Trios zu Waffen aussagen.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

186. Prozesstag – Sachsens oberster Verfassungsschützer im Zeugenstand

Update: Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe erkrankte während der Sitzung, der Zeuge Meyer-Plath wird daher an einem späteren Termin gehört.

Neue Erkenntnisse zur Verstrickung des Geheimdienstes in den NSU-Komplex soll der 186. Verhandlungstag bringen: Geladen ist der Präsident des sächsischen Verfassungsschutzes, Gordian Meyer-Plath. Befragt wird der 46-Jährige allerdings nicht in seiner Funktion als Behördenleiter denn wegen einer früheren Tätigkeit: Für den Brandenburger Verfassungsschutz hatte er den V-Mann „Piatto“ betreut. Der Rechtsextreme, der bürgerlich Carsten Sz. heißt, lieferte 1998 eine Information, die möglicherweise zur Ergreifung des gerade untergetauchten Trios aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätte führen können: Demnach sollte ein Anhänger der radikalen Organisation Blood & Honour dem Trio eine Waffe beschaffen. Fahnder gingen dem Hinweis jedoch nicht nach.

Meyer-Plath hatte bereits im Untersuchungsausschuss des Bundestags ausgesagt. Die Verpflichtung eines V-Manns wie Sz., der damals wegen versuchten Mords in Haft saß, bezeichnete er im Nachhinein als Fehler. Bemerkenswert sei jedoch die Qualität von „Piattos“ Hinweisen gewesen: So seien Publikationen aus der rechten Szene „plastiktütenweise“ auf seinem Schreibtisch gelandet.

Weiterhin sind zwei Frauen geladen, die in der Zwickauer Polenzstraße jahrelang als Nachbarn des rechtsextremen Trios gelebt hatten.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

186. Prozesstag – Weitere Aussage von Neonazi Bernd T. und früherer Mundlos-Freund

Update: Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe ist erkrankt, der Sitzungstag fällt aus.

Zum zweiten Mal sagt am Donnerstag der Kasseler Neonazi Bernd T. aus, der Kenntnisse über den NSU und den Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006 besitzen soll. T. weiß demnach, dass sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zur Tatzeit in Kassel aufhielten. Auch zahlreiche weitere Hinweise wird das Gericht im Hinblick auf den Zeugen untersuchen müssen: So soll T. Mundlos auf einer Feier kennengelernt haben, später sollen die NSU-Männer und er auf einem Konzert gesehen sein sollen. In einem anonymen Schreiben wurde T. nach dem Auffliegen des NSU gar als Drahtzieher der Anschläge bezeichnet.

Zwei weitere Zeugen aus der rechten Szene sagen im Anschluss aus. Andreas R. ist ein früherer Weggefährte des NSU-Mitglieds Uwe Mundlos. Er verfolgte mit, wie dieser sich als Jugendlicher zum Rechtsradikalen wandelte.

Der Zeuge Giso T. wurde auf Antrag der Anwälte des Mitangeklagten Ralf Wohlleben geladen. Er soll bezeugen, dass der NSU viele Möglichkeiten hatte, an Schusswaffen zu gelangen. Die Beschaffung einer solchen, der Mordpistole Ceska 83, wird Wohlleben vorgeworfen. Andere Zeugen, die ebenfalls nach dem Willen der Verteidiger aussagten, machten jedoch keine entlastenden Aussagen.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Die Täuschungsmanöver des Neonazis

Mit angeblich exklusiven Informationen zum NSU wollte sich ein Neonazi Hafterleichterungen erschleichen. Im Münchner Prozess stellt sich heraus: Alles war erlogen.

Wenn man einen Skinhead malen müsste, er sähe aus wie Bernd T.: rasierter Schädel, T-Shirt unter der Bomberjacke, die olivgrüne Hose steckt in schwarzen Springerstiefeln. Passend dazu ist die Stimme des 40-Jährigen ein militärisches Bellen. Gleich zu Beginn seiner Aussage im Münchner NSU-Prozess blafft er den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl an. Götzl sagt, es gehe um T.s Verhältnis zu Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, den Mitgliedern der Terrorzelle NSU. T.s Antwort ist harsch: „Kann ich keine Angaben zu machen!“

Damit löst er die erste von vielen Irritationen dieses Tages aus. Denn gegenüber Ermittlern hatte er sich zuvor gebrüstet, er sei Mundlos und Böhnhardt mehrfach begegnet. Zudem will er gewusst haben, dass diese sich während des Mords an dem Kasseler Halit Yozgat am 6. April 2006 in der Stadt aufgehalten hätten, er habe sagen können, wie sie dorthin gelangt seien und wo sie übernachtet hätten. Wäre dies wahr, hätte T. ein wichtiges Puzzleteil zur Aufklärung der NSU-Morde beitragen können.

Doch offenbar sind es bloße Schaumschlägereien eines einflussreichen Neonazis. T. ist eine Führungsfigur der rechtsextremen Szene in Hessen. Er gründete in Kassel die Vereinigung Sturm 18, eine neonazistische Kameradschaft. Auftritte vor Gericht kennt er normalerweise in der Rolle des Angeklagten: 1993 prügelte er einen Obdachlosen zu Tode und wurde zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Es folgten weitere Gewaltdelikte und Haftstrafen. Demnächst steht ihm ein weiterer Gefängnisaufenthalt bevor, weil er seine schwangere Freundin im vergangenen Sommer in den Bauch getreten hatte.

Als der NSU im November 2011 aufflog, hatte T. im hessischen Hünfeld eine Haftstrafe bis zum Januar 2014 abzusitzen. Gerade unter den rechten Gefangenen verbreitete sich die Nachricht vom terroristischen Trio schnell. Gut einen Monat später schrieb T. einen Brief an das hessische Landeskriminalamt, in dem er die verlockenden Informationen ankündigte. „Das war aus einem Spaß heraus. Ich wollte gucken, was passiert“, sagt T. heute.

Über seine Motivation ließ er allerdings keine Zweifel aufkommen: Er forderte, früher entlassen zu werden oder in den Genuss von Annehmlichkeiten hinter Gittern zu kommen.

Kurzzeitig hatte er die volle Aufmerksamkeit der Ermittler. Er bekam Besuch vom Landeskriminalamt, vom Bundeskriminalamt, vom Staatsanwalt. Er fütterte seine Gesprächspartner mit Informationen: Angeblich habe T. Mundlos und Böhnhardt 2006 in der Zeit vor dem Mord am Bahnhof in Kassel abgeholt und sei mit ihnen zum Konzert einer Rechtsrock-Band gefahren. Ein andermal will er sie auf einer Garagenfeier in Zwickau getroffen haben, wo sein Bruder lebte. Und schließlich habe er gewusst, dass die beiden kurz vor der Tat im ICE nach Kassel gereist waren.

„Völliger Blödsinn“, so nennt T. heute den Inhalt des Protokolls, das die Beamten nach der Vernehmung geschrieben hatten. Nichts davon habe er gesagt. Er sieht die Geschichte als erledigt an: „Man sagte mir, gegen mich wird ermittelt, darum will ich keine Angaben machen.“ Richter Götzl entgegnete, dass er von Ermittlungen nichts wisse. Es hilft nichts: „Dann kann ich mich an nichts erinnern“, antwortete der Zeuge.

Bekannt ist, dass mehrere Gefängnisinsassen nach dem Bekanntwerden des NSU Informationen anboten. In der Regel wurden sie enttarnt. T.s Version klang anfänglich jedoch so überzeugend, dass der Nebenklageanwalt von Familie Yozgat, Thomas Bliwier, in zwei Anträgen die Ladung des Neonazis forderte – trotz aller Zweifel und Unstimmigkeiten. „Das war aus hafttaktischen Gründen“, sagt T. Mit anderen Worten: Er hatte den Ermittlern eine reine Lügengeschichte aufgetischt. Da er dennoch keine Hafterleichterungen bekam, gab es keinen Grund mehr, die Geschichte noch einmal zu erzählen – und sich wegen einer Falschaussage strafbar zu machen.

Denkbar ist indes auch, dass T. erst vor Gericht zu lügen begann. Am Ende seiner Vernehmung im Gefängnis sagte er, dass er nicht in einem Verfahren aussagen wolle, „da ich ansonsten mit Repressalien rechnen müsste“. Doch von dieser Behauptung will T. nichts mehr wissen. Außerdem: Wer will sich mit einem Neonazi-Anführer anlegen?

Die Frage der Glaubwürdigkeit stellte sich für die BKA-Ermittler nur kurz. Sie befragten alte Freunde von T., seine Exfrau, Kameraden aus der Szene. Niemand bestätigte, dass Mundlos und Böhnhardt jemals mit T. zusammengetroffen wären. Die Aussagen anderer Zeugen „begründen erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner Angaben“, notierte ein Kommissar im Anschluss.

Vielleicht waren die Ermittler auch deshalb so misstrauisch, weil die Polizei während der NSU-Serie mit zehn Morden oft genug falschen Spuren gefolgt war. Zeuge T. ist es jedenfalls nicht peinlich, sich zu der Lüge zu bekennen: Er habe den Sozialdienst in der Justizvollzugsanstalt täuschen wollen, der Empfehlungen für eine vorzeitige Entlassung abgibt. „Denen habe ich vorgespielt, dass ich aus der Szene aussteigen will.“

 

185. Prozesstag – Das exklusive Wissen von Neonazi Bernd T.

Zwei Tage lang soll der Kasseler Neonazi Bernd T. ab heute im NSU-Prozess aussagen. Viel versprechen sich vor allem die Vertreter der Nebenklage von seiner Vernehmung – denn zwischen T. und der Geschichte des NSU gibt es etliche echte und vermutete Parallelen.

Der 40-Jährige ist Anführer der hessischen Neonazi-Kameradschaft Sturm 18. Wegen Gewalttaten saß er über Jahre im Gefängnis, dazu gehört auch ein Tötungsdelikt. Über lange Zeit soll T. Kontakt zum Trio aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gepflegt haben. Er soll wichtige Informationen zum Mord an Halit Yozgat in Kassel von 2006 liefern: Dem Antrag der Anwälte von Yozgats Familie zufolge wusste er, dass sich Mundlos und Böhnhardt zur Tatzeit in Kassel aufhielten und wer ihnen Unterschlupf gewährte.

Zu prüfen ist jedoch, ob T. tatsächlich über Insiderwissen verfügt, oder ob er versucht hat, aus scheinbaren Kenntnissen einen Vorteil zu ziehen: Die Informationen hatte T. in einem Schreiben an den hessischen Verfassungsschutz angeboten – und im Gegenzug um eine frühere Entlassung aus der Haft gebeten.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

184. Prozesstag – Zeugen aus der Keupstraße und ein Szenemitglied

Die Woche im NSU-Prozess beginnt mit zwei Zeugen, die zum Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße vom Juni 2004 aussagen. Einer der beiden nimmt als Nebenkläger an dem Verfahren teil, er gilt als Geschädigter der Explosion, bei der 22 Menschen verletzt wurden.

Im Anschluss hört das Gericht zum zweiten Mal Enrico R. Der Zeuge wurde auf Antrag der Anwälte von Ralf Wohlleben geladen, der dem NSU bei der Beschaffung einer Pistole geholfen haben soll. Die Aussage sollte zeigen, dass das Trio auch auf anderen Wegen an Waffen gelangen konnte. Beim ersten Gerichtstermin ging diese Rechnung jedoch nicht auf: R. leugnete, jemals eine Waffe besessen zu haben und berief sich ansonsten auf zahlreiche Erinnerungslücken.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Kein Opfer ohne Narben?

Beate Zschäpes Verteidiger fordern, eine Nebenklägerin aus dem NSU-Prozess auszuschließen. Womöglich wollen sie mit dem Antrag vor allem einen kritischen Anwalt loswerden.

Die Frage, wer sich als Opfer eines hinterhältigen Bombenanschlags bezeichnen darf, ist seit Wochen der Fixpunkt im Münchner NSU-Prozess. Sie frisst sich tief in das Prozessgeschehen und entlockt denen, die daran teilnehmen, Äußerungen in kaum gekannter Schärfe. Von „impertinenten und geschmacklosen Unterstellungen“ sprechen die Verteidiger der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, das Verhalten eines Anwalts nennen sie „unwürdig“.

Auslöser ist die Untersuchung des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße vom Juni 2004. Damals sollen die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ein Fahrrad mit einer Schwarzpulverbombe vor einen Friseursalon geschoben haben. Die Bombe war mit über 700 Nägeln gespickt. Viele Menschen, fast ausnahmslos mit türkischem Migrationshintergrund, wurden schwer verletzt. Sie erlitten Verbrennungen und Gehörschäden und leben seitdem mit der quälenden Erinnerung an das Ereignis.

Die Ermittler haben 22 Verletzte aufgelistet. Die meisten davon nehmen als Nebenkläger am Prozess teil und sind durch einen Anwalt im Oberlandesgericht in München vertreten. Es ist nicht sicher, ob diese Zahl stimmt, denn nicht bei allen sind die Folgen so deutlich sichtbar wie bei den Opfern mit Brandwunden.

Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Heer forderte nun, die Nebenklägerin Sermin S. aus dem Verfahren auszuschließen, zudem ihren Anwalt, den Kieler Alexander Hoffmann. Sermin S. sei demnach Zeugin des Anschlags gewesen, aber keine Geschädigte. Zschäpes Verteidiger beanspruchen für sich, die Frage beantworten zu können, wer als Opfer gilt.

Einen Antrag dieser Art hat es im NSU-Verfahren bisher nicht gegeben. Derart offen ist die naturgemäße Konkurrenz zwischen Verteidigung und Nebenklage noch nie hervorgetreten. Es ist die Eskalation eines Konflikts, in dem es auch um Macht und Präsenz geht.

Die damals hochschwangere Sermin S. war in ihrer Wohnung im ersten Stock, als die Bombe 50 Meter weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite explodierte. Allerdings hielt sie sich dabei offenbar im nach hinten gelegen Wohnzimmer auf. Eine körperliche Verletzung hatte sie nicht. Einige Zeit darauf gebar sie ihr Kind drei Wochen zu früh. Im Jahr 2012, acht Jahre nach dem Anschlag, erlitt sie eine Panikattacke in einem Kino. Einem Psychiater berichtete sie, dass sie regelmäßig an Ängsten und Schmerzen leide, sie fürchte sich vor engen Räumen, vor Menschenmengen, vor der Autobahn.

Dem Psychiater, der sie daraufhin behandelte und der vergangene Woche vor Gericht aussagte, erzählte sie erst in der sechsten oder siebten Sitzung von dem Anschlag, nachdem er sie danach gefragt hatte. Während der Befragung durch die Verteidigung nannte der Psychiater schließlich den Krebstod der Mutter und die schwierige Kindheit als Auslöser für die Depressionen der Zeugin. Ob der Anschlag Grund für ihre Panikstörung sei, konnte er nicht sicher sagen.

Wurde Sermin S. auf bloßen Verdacht hin zur Nebenklage zugelassen, zudem gegen den Willen der Bundesanwaltschaft, die sich ebenfalls gegen diese Zeugin aussprach? Sie komme „unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt als Verletzte eines versuchten Mordes in Betracht“, bilanzierte Anwalt Heer.

Anders sieht das selbstverständlich der Vertreter von Sermin S., Alexander Hoffmann. „Rechtlich kann das keinen Erfolg haben“, sagt er im Anschluss an die Sitzung. Denn die Anklage wertet den Anschlag als mehrfachen versuchten Mord. Frau S. wäre den Tätern demnach als Todesopfer willkommen gewesen. Dem Gericht genügte das als Argument, sie in den Prozess zu laden.

Hoffmann vermutet eine andere Motivation hinter dem Antrag: „Hier geht es nicht um eine sachliche Entscheidung, sondern darum, einen unbequemen Vertreter auszuschließen.“ Abwegig ist diese Vorstellung nicht. Weil Hoffmann nur eine Mandantin vertritt, würde deren Rausschmiss auch das Aus für ihn im Prozess bedeuten. Er hatte sich in der Vergangenheit immer wieder zu Wort gemeldet, als das Thema Keupstraße noch in weiter Ferne lag.

Hoffmann zählt im Prozess zu den engagiertesten Anwälten, zu denen, die regelmäßig beantragen, neue Zeugen aus der rechten Szene zu laden. Mehrfach hatte er betont, dass es ihm darum gehe, das Netzwerk möglicher Helfer des NSU-Trios zu beleuchten. Solchen Forderungen traten Zschäpes Verteidiger stets mit der Begründung entgegen, das Gericht müsse eng am Vorwurf der Anklage bleiben, statt die rechte Szene zu sezieren. Doch der Vorsitzende Richter Manfred Götzl gab den Anträgen meistens statt.

Nun muss Richter Götzl entscheiden, ob Hoffmann bleiben darf. Am Vortag hatte er einem Ermittler des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts aufgetragen, den Tatort anhand von Karten und Fotos neu zu vermessen, um zu bestimmen, bis zu welcher Hausnummer in der Keupstraße die Gefahrenzone rund um die Nagelbombe reichte. Es war ein Signal, dass er den Ausschluss-Antrag der Verteidiger ernst nimmt.

 

183. Prozesstag – Gutachter bewerten Angeklagten Carsten S.

Zwei wichtige Gutachten bestimmen am Donnerstag den Verhandlungstag – es geht um den Mitangeklagten Carsten S., der dem NSU-Trio vor Beginn der Mordserie in Chemnitz eine Ceska-Pistole überbracht haben soll. Mit der Waffe wurden mutmaßlich neun Menschen erschossen. S. hatte die Kurierleistung gestanden und sich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt.

Die erste Expertise trägt der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf vor, der mehrfach Gespräche mit S. geführt und ihn im Gericht beobachtet hatte. Danach sagt ein Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe in Düsseldorf, S.s letztem Wohnort, aus. Die Gutachten könnten erheblichen Einfluss auf das Strafmaß haben. Denn darin geht es um die Frage, ob S. nach Jugendstrafrecht verurteilt werden kann und wie viel persönliche Reife er zur Tatzeit entwickelt hatte. Damals, um die Jahrtausendwende, war er unter 21 Jahren alt.

Zudem geladen ist ein Zeuge, der Informationen zu den verstorbenen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sowie über die Angeklagten Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben liefern soll. In seiner Vernehmung soll es auch um den Zugang des NSU-Trios zu Schusswaffen gehen.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.