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182. Prozesstag – Ermittler sagt zum Anschlag in der Keupstraße aus

Der NSU-Prozess greift erneut den Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße von 2004 auf. Als Zeuge geladen ist ein Ermittler des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts, der nach der Bombenexplosion den Tatort vermaß. Die Keupstraße war damals großflächig von der Druckwelle betroffen: Nägel aus dem Sprengsatz flogen 150 Meter weit, noch in 250 Metern Entfernung vom Detonationsort gingen Fensterscheiben zu Bruch. Zu Beginn des Jahres hatten die Aussagen zweier anderer Ermittler bereits deutlich gemacht, dass die Polizei den Tatort mit großer Akribie kartografiert und ausgemessen hatte.

Zwei weitere Zeugen sagen zu unterschiedlichen Themen aus.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

181. Prozesstag – Zeuge sagt über Waffen für das NSU-Trio aus

Am Dienstag steht der Zeuge Enrico R. im Zeugenstand. Er soll Angaben zum NSU-Trio aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt machen, außerdem zu dem Mitangeklagten Ralf Wohlleben. Thema ist der Zugang der rechtsextremen Gruppe zu Waffen wie der Mordpistole Ceska 83, mit der mutmaßlich neun Menschen erschossen wurden. Insgesamt verfügte der NSU über ein Arsenal aus 20 Pistolen, Revolver und Gewehren, zudem mehr als 1.600 Schuss Munition.

Im Anschluss ist ein Zeuge geladen, der wiederum Angaben zu Enrico R. und dessen Beziehung zum Trio machen soll. Erkenntnisse soll er auch über Ralf Wohlleben liefern.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Wer ist hier das Opfer?

Im NSU-Prozess steht die Arbeit der Opfervertreter im Zwielicht: Hat ein Anwalt versucht, einen Zeugen mit falschen Angaben zur Nebenklage im Terrorverfahren zu drängen?

Franz Peter S. erlebte den Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004 in seinem Auto. Die Explosion drückte das Dach des Wagens ein, mit dem der technische Angestellte gerade auf den Garagenhof gegenüber gefahren war. Den Knall, erzählt S. im kölschen Singsang, überstand er unverletzt. Von Spätfolgen weiß er nichts zu berichten. Auch seine Schwiegermutter, die im ersten Stock des Hauses wohnte, trug keine Blessuren davon.

Das klang vor fast zwei Jahren, als das Münchner Oberlandesgericht im Mai 2013 vom Fall des Herrn S. erfuhr, noch ungleich dramatischer: Der Zeuge sei  „posttraumatisch belastet“, er leide bis heute unter Angstzuständen, auch seine Frau sei betroffen. So hieß es in einem Schreiben des Frankfurter Anwalts Ferhat Tikbas, der Familie S. als seine Mandanten für die Nebenklage des NSU-Prozesses anmeldete. Er vertritt vier Geschädigte im Verfahren, darunter Hinterbliebene des Mordopfers Abdurrahim Özüdoğru, der 2001 in Nürnberg starb. An diesem Tag ist er nicht im Gericht.

Damit hätte sich Franz Peter S., der heute als Zeuge im Verfahren aussagt, in die Riege der fast 90 Nebenkläger einreihen können. Diese Menschen, Geschädigte und Hinterbliebene von Mordopfern, begleiten den Prozess, wenn auch meist nicht persönlich, sondern über ihre Anwälte. Sie können Anträge stellen und Zeugen befragen. Für viele Betroffene ist die Nebenklage ein wichtiges Instrument der Aufarbeitung – denn ihnen geht es um die Hintergründe der Taten, die sie einen Angehörigen oder ein Stück ihrer Lebensqualität gekostet haben.

Das könnte Franz Peter S. allerdings nicht von sich behaupten. Richter Manfred Götzl fragt den Zeugen, ob er Anwalt Tikbas mit seiner Vertretung beauftragt habe. „Nein, dieser Anwalt ist an uns herangetreten“, antwortet der Zeuge. Das habe seine Familie jedoch „von vornherein abgelehnt“. Vielmehr habe Tikbas immer wieder angerufen und versucht, ihn zur Nebenklage zu drängen. Doch eine Vollmacht habe er dem Juristen nie gegeben. Der meldete sich trotzdem beim Gericht, nahm den Antrag jedoch zurück, nachdem S. sich beschwert hatte.

Bekannt ist, dass Anwälte nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 aggressiv unter Bewohnern der Keupstraße um Mandate warben. In der Nebenklage winken für die Anwälte schließlich ein aus der Staatskasse bezahltes Honorar und mit dem über Jahre dauernden Prozess ein langfristiges Engagement. Im besten Fall können sie auch ein Schmerzensgeld für ihre Mandanten erstreiten.

Doch muss die Institution der Nebenklage auch für Menschen offen sein, die nur am Rande mit einer der brutalen NSU-Taten zu tun hatten? Natürlich gibt es keine richtigen und falschen Opfer. Es macht aber sehr wohl einen Unterschied, ob ein Schaden in der Kfz-Werkstatt oder im Krankenhaus behoben werden muss.

Und es macht auch einen Unterschied, ob ein Nebenkläger erst durch einen Anwalt zur Teilnahme am Prozess gedrängt wird. Wie wirkt das auf die Opfer, die in diesem Prozess um ihre Rehabilitierung nach Verdächtigungen durch die Polizei kämpfen? Was denken die Anwälte, die unter großen Mühen die Strukturen hinter dem NSU aufdecken? Kollegen der Nebenklage halten sich fürs Erste bedeckt.

Dabei dürfte auch ihnen klar sein, dass durch zweifelhafte Mandate die Nebenklage entwertet wird – und dass die Verteidiger nach einem Schuldspruch versuchen könnten, das Urteil anzugreifen, weil aus gesetzlicher Sicht Unbeteiligte daran mitgemischt haben.

Anwalt Tikbas kann sich die Behauptungen nicht erklären. Ihm fehlten die Worte, sagt er gegenüber ZEIT ONLINE. Demnach habe er keineswegs versucht, ein Mandat an sich zu reißen: Familie S. habe sich bei ihm gemeldet und darum gebeten, als Nebenkläger im Prozess vertreten zu werden. Tikbas hatte bereits zuvor Mandate aus der Keupstraße angenommen. Dabei habe ihm Franz Peter S. auch von Symptomen wie der Belastungsstörung erzählt. Andernfalls, argumentiert der Anwalt, hätte er dem Gericht ja nicht so detailliert die Folgen für den Mandanten schildern können.

Dass der keine Vollmacht unterschrieb, bestreitet auch der Jurist nicht. S. habe schlicht seine Meinung geändert und das Dokument nicht mehr unterzeichnen wollen. Daraufhin habe er den Antrag an das Gericht zurückgenommen. Formaljuristisch lief offenbar alles nach Vorschrift.

Wer recht hat, ist nicht mehr zu klären. Im Raum bleibt die Frage: Sitzen im NSU-Prozess Zeugen, die keineswegs so stark an den Folgen des Anschlags leiden wie behauptet? Die Verteidiger dürften großes Interesse haben, darauf eine Antwort zu finden.

Außerdem beschäftigte sich der Staatsschutzsenat am Donnerstag mit dem Video, das Beate Zschäpe auf ihrer Flucht aus Zwickau am 4. November 2011 an mehr als ein Dutzend Empfänger verschickt haben soll. Auf der DVD werden die zehn Morde und die beiden Bombenanschläge dargestellt, die heute dem NSU zugeschrieben werden. Allerdings sind weder Beate Zschäpe noch ihre Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt darauf zu sehen.

Eine Ermittlerin des Bundeskriminalamts lieferte nun Hinweise, die darauf deuten, dass das NSU-Trio den Film selbst hergestellt hat. Auf einer CD aus dem Schutt der niedergebrannten Zwickauer Wohnung der drei fanden sie Dokumente, die Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt offenbar in ihrer Freizeit angelegt hatten – darunter Vereinbarungen für eine Wette, in der es darum ging, wer am meisten Gewicht verlieren kann. Der Verlierer musste demnach nicht nur die Wohnung putzen, sondern auch 200 Videoclips schneiden. Die Bundesanwaltschaft wertet die Formulierung als Bezug auf den Schnitt des Bekennervideos.

 

180. Prozesstag – Beweise aus dem Zwickauer Versteck

Am Donnerstag bewertet das Gericht in München Beweise, die den Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße von 2004 dem NSU-Trio zuordnen sollen. Dazu sagt eine Ermittlerin des Bundeskriminalamts aus, die Asservate aus der letzten Wohnung von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in der Zwickauer Frühlingsstraße augewertet hat. Zu den Indizien gehören etwa Zeitungsausschnitte, in denen über die Tat berichtet wird, außerdem das Bekennervideo, in dem die Explosion thematisiert wird.

Außerdem sagen zwei Zeugen aus, die den Anschlag in Köln miterlebten.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

179. Prozesstag – Fünf Zeugen berichten von den Folgen der Nagelbombe

Der Nagelbombenanschlag vom Juni 2004 in der Kölner Keupstraße war sorgfältig vorbereitet – und war ein schwerer Schlag gegen die migrantische Gemeinde in Köln. Zu den Nachwirkungen der Tat mit 22 Verletzten gehören Verdächtigungen der Polizei gegen die Opfer, während ein rechtsradikaler Hintergrund ausgeschlossen wurde. Erst mit dem Auffliegen des NSU wurde die Tat der Zwickauer Terrorzelle zugeordnet. Was nach dem Anschlag geschah, darüber berichten am Mittwoch fünf Zeugen, die am Tag der Tat verletzt wurden.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Der Mann mit der Fahrradbombe

Zeugen haben den mutmaßlichen NSU-Täter Uwe Böhnhardt vor dem Kölner Anschlag gesehen. Doch die Polizei machte Fehler bei der Beweissicherung.

Gerlinde B. musste zweimal hinschauen, so auffällig war der Mann, der ihr entgegenkam und ein Fahrrad schob. Ein fabrikneues Gefährt mit einem schwarzen Koffer auf dem Gepäckträger. Der Mann wäre ihr wohl nicht aufgefallen, wenn er das Rad nicht behandelt hätte wie ein rohes Ei: „Er hat es fast getragen“, erinnert sich die Rentnerin. Er schaute angespannt. Als sie sich passiert hatten, warf sie einen Blick zurück.

Eine Stunde später explodierte in der nahegelegenen Kölner Keupstraße ein Sprengsatz vor einem Friseurgeschäft. 700 Nägel schossen, von Schwarzpulver beschleunigt, durch die Luft. 22 Menschen wurden verletzt. Der Bombenanschlag vom 9. Juni 2004 wird dem NSU zugeschrieben. Am Tatort entdeckten Polizisten, dass die Bombe in einem schwarzen Koffer auf dem Gepäckträger eine Fahrrads gelagert war.

Der Anschlag ist am 178. Verhandlungstag erneut Thema im NSU-Prozess. Es ist ein Tag mit Zeugenvernehmungen am laufenden Band. Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hat erstmals einen neuen Verteidiger neben sich sitzen – der Anwalt Florian Schulz vertritt seinen Kanzleikollegen Wolfgang Stahl, ihren festen Rechtsbeistand. Was in dieser Sitzung verhandelt wird, ist ein entscheidender Baustein der Anklage: Der Mann, den Zeugin B. gesehen hatte, war sehr wahrscheinlich Uwe Böhnhardt.

Gemeinsam mit Uwe Mundlos soll er das Rad mit der Bombe in die Keupstraße gebracht haben, zudem zwei weitere Fahrräder, auf denen beide flüchteten, nachdem Böhnhardt den Sprengsatz mit einer Fernbedienung gezündet hatte.

Gerlinde B. hat sich das Gesicht des Mannes genau eingeprägt. Vom Aussehen her ähnelte er ihrem Sohn. „Kein unansehnlicher Mann“, sagt die Rentnerin vor Gericht. Die Beschreibung, die sie bei der Polizei und vor Gericht abgegeben hat, passt zu dem NSU-Mitglied.

Hinzu kommt: Die Täter gingen mehrmals an Überwachungskameras des Fernsehsenders Viva vorbei. Ein Gutachten, das demnächst präsentiert wird, könnte Mundlos und Böhnhardt als die Männer auf dem Videoband identifizieren.

Damit ist die Indizienlage im Fall Keupstraße ungewöhnlich komfortabel für die Anklage. Beobachtungen, die zu den mutmaßlichen Terroristen passen, machten Zeugen nur bei den drei NSU-Morden in Nürnberg zwischen 2000 und 2005 und beim Dortmunder Mord 2006. In anderen Fällen, wie beim Sprengstoffattentat von 2001 in der Kölner Probsteigasse und beim Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn 2007, beschreiben Zeugen Menschen, die Mundlos und Böhnhardt nicht ähnlich sehen.

In welchen Aussagen haben sich Erinnerung und Fantasie vermischt? Welche Angaben sind präzise? Das ist häufig kaum festzustellen. Umso entscheidender ist, dass Ermittler die frischen Erinnerungen der Zeugen nach der Tat dokumentieren – doch dabei unterlief der Polizei im Fall im Keupstraße offenbar mindestens ein gravierender Fehler.

Alexander P. stand in der Halle einer Werkstatt, in der er sein Motorrad reparieren ließ. Plötzlich hörte er einen Knall, der den Boden vibrieren ließ. Als er draußen mit seiner Maschine losfahren wollte, schoss ein Fahrradfahrer auf der Straße vorbei, „wie von der Tarantel gestochen“. P. beschimpfte den Raser, der ihn fast überfahren hätte – und prägte sich das Gesicht ein. Am Abend sagte er auf dem Polizeirevier aus.

War den Polizisten klar, dass hier jemand den mutmaßlichen Täter gesehen hatte? In der Folgezeit häuften sich bei den Ermittlern die Indizien. Und schon am nächsten Tag erschienen Standbilder aus den Viva-Kameras in den Kölner Zeitungen. Alexander P. kamen die Fotos bekannt vor – er war sich sicher, den Radfahrer wiedererkannt zu haben und stellte sich darauf ein, erneut aussagen zu müssen. Doch die Polizei meldete sich nicht mehr bei ihm.

Unerklärlich scheint, warum die Ermittler das Material nicht systematisch allen Zeugen vorlegten, sie fragten, ob sie Gesichter oder Statur der Fahrradfahrer identifizieren konnten. In den zehn Jahren seit dem Anschlag erschienen die Bilder immer wieder in Zeitung und Fernsehen, sie liefen praktisch in Dauerschleife, nachdem der NSU im November 2011 aufgeflogen war. Solch mediale Berieselung ist wie geschaffen dafür, Zeugen Erinnerungen einzuimpfen, die sie eigentlich nie hatten.

Welchen Wert haben vor diesem Hintergrund Aussagen von Augenzeugen? Zschäpes Verteidiger könnten genau dieses Argument nutzen, um die Vernehmung im Nachhinein anzugreifen – wenn das Gericht sich daran macht, die Beweise zu bewerten.

 

178. Prozesstag – Elf Opfer des Keupstraßen-Anschlags

Die Marathonvernehmungen von Opfern des Anschlags auf der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 gehen in die zweite Woche. Am Dienstag sind elf Zeugen geladen, die durch die Explosion einer mit Nägeln gespickten Schwarzpulverbombe verletzt worden. Betroffene, die in der vergangenen Woche ausgesagt hatten, berichteten von langwierigen Spätfolgen – sowohl körperliche Gebrechen als auch psychische Leiden.

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Die tödliche Kraft der Nagelbombe

Dass beim Bombenanschlag von Köln 2004 niemand ums Leben kam, war offenbar reiner Zufall. Ein Gutachten stützt die Vorwürfe gegen Beate Zschäpe.

Der Inhalt des Fahrradkoffers war nicht nur hochgefährlich, er war auch kenntnisreich konstruiert: rund fünfeinhalb Kilo Schwarzpulver in einer Campinggas-Flasche, drumherum drapiert mehr als 700 zehn Zentimeter lange Nägel. Der Zünder war an ein technisches Bauteil angeschlossen, das eine Auslösung per Fernbedienung möglich machte. Für eine Garagenbastelei war die Bombe ein High-Tech-Produkt.

Wer den Sprengsatz gebaut hatte, der hatte es auf eine maximale Wirkung abgesehen – und die bedeutete: tote Menschen, möglichst viele. Am 9. Juni 2004 detonierte der Koffer in der Kölner Keupstraße. Die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt schoben ihn auf den Gepäckträger eines Fahrrads montiert vor einen Friseursalon, in dem sich etliche Kunden aufhielten. So hat es die Bundesanwaltschaft als Ankläger im Münchner Terrorprozess rekonstruiert.

22 Menschen sind bei dem Nagelbombenanschlag verletzt worden. Für diese und die kommende Woche hat sich das Oberlandesgericht vorgenommen, sie alle zu hören. Am Donnerstag sagte zudem ein Sprengstoffsachverständiger des Bundeskriminalamts aus.

Gilt der Bombenanschlag als Mordversuch?

Die Tat ist, wie die zehn Morde, die der Terrorzelle zugeschrieben werden, Thema im Bekennervideo des NSU. Ordnet das Gericht die Hauptangeklagte Beate Zschäpe als dessen Mitglied ein, kann sie als Mittäterin beim versuchten Mord in 22 Fällen verurteilt werden – als solcher ist die Tat in der Anklageschrift aufgeführt, neben zehn vollendeten Morden und einem weiteren Bombenanschlag mit einer Verletzten in Köln.

Die Sprengkraft der Bombe war weithin sichtbar: Die Nägel schossen 150 Meter weit, sie wurden über die Häuserzeile in Gärten geschleudert. Wer ihnen im Weg stand, dem bohrten sie sich in Muskeln und Knochen. Eine Druckwelle ließ noch in weiter Entfernung Fensterscheiben zerspringen, bei den Opfern brachte sie die Trommelfelle zum Platzen.

Doch war die Bombe stark genug, Menschen zu töten? Von dieser Frage hängt ab, ob der Vorwurf des Mordversuchs haltbar ist. Um eine Antwort zu finden, beauftragte das Bundeskriminalamt den Sprengstoffgutachter Ehrenfried Ibisch mit einem aufwendigen Versuch. Auf einem Truppenübungsplatz im Norden von Bayern zündete der Experte mehrfach einen Nachbau der Bombe von Köln.

Spekulation über NSU-Helfer vor Ort

Der Sachverständige war auf der Suche nach dem sogenannten wirksamen Splitter – so heißt in der Militärsprache ein Geschoss, dass mit so viel Energie durch die Gegend fliegt, dass es einen Menschen töten kann. Um die Bombe herum ließ er Stahlbleche in drei und fünf Metern Entfernung aufstellen. Als der Sprengstoff zündete, verbogen sich die Bleche unter dem Druck, ein riesiger Rauchpilz stieg auf, die Nägel schossen durch die Stahlplatten beinahe wie durch Papier. Sie flogen mit 215 Metern pro Sekunde.

Damit war klar: Die Nägel aus der Bombe waren potenziell todbringende Geschosse. In einem Umkreis von mindestens fünf Metern war zu erwarten, dass Menschen sterben. Es müssen also glückliche Umstände gewesen sein, die vielen Umstehenden das Leben retteten – ein geparktes Auto an der richtigen Stelle, eine Säule im Raum.

Deutlich wird durch die Expertise erneut auch, wie sorgfältig die ganze Tat geplant gewesen sein muss: Sicherlich kein Zufall war, dass die mutmaßlichen Täter Mundlos und Böhnhardt sich ausgerechnet die Keupstraße als Anschlagsziel aussuchten – das Sammelbecken der türkischen Gemeinde Kölns, in der Region bekannt als orientalisch geprägte Einkaufsstraße mit Juwelieren, Bäckereien und Brautmodegeschäften. Gab es also einen Helfer vor Ort, der die beiden auf ein passendes Ziel aufmerksam machte?

Ein spätes Todesopfer?

Noch wahrscheinlicher scheint diese These angesichts des Tatorts Friseurgeschäft – mehrere Zeugen beschrieben den Salon als typischen Treffpunkt. Oft standen junge Leute vor dem Eingang und unterhielten sich. Gerade hier konnte der Fünf-Meter-Radius seine volle Wirkung entfalten, hier waren die meisten Opfer zu erwarten. Wer den Sprengsatz so platzierte, der muss die Keupstraße zuvor erschöpfend ausgekundschaftet haben.

Mit einer solchen Vorbereitung dürften die Täter den Anschlag als Misserfolg verbucht haben. Doch deutete die Aussage eines Zeugen am Nachmittag an, dass die Bombe durchaus ein Menschenleben genommen haben könnte. Der junge Mann war Mitarbeiter in einem Handyladen gegenüber vom Friseurgeschäft, mit im Laden stand ein Bekannter. Ein Anwalt der Nebenklage fragte, wie es dem Freund nach der Explosion ergangen war. Er habe die Erlebnisse nicht verkraftet, antwortete der Zeuge, schließlich habe er begonnen zu trinken. Acht Jahre nach dem Anschlag erhängte er sich.

 

177. Prozesstag – Weitere Zeugen zum Nagelbomben-Anschlag

Zum dritten Mal in Folge hört das Münchner Oberlandesgericht Zeugen, die den Nagelbombenanschlag auf der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004 miterlebt haben. Geladen sind sechs Menschen, die durch die Wirkung des Sprengsatzes teils schwer verletzt wurden. Deshalb sagen auch zwei Ärzte aus, die eine schwerverletzte Patientin behandelten.

Auch ein Sachverständiger des Bundeskriminalamts steht auf der Zeugenliste. Er hatte 2013 versucht, die Sprengwirkung mit einem Versuch nachzuvollziehen und stellt ein Gutachten vor.

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Verängstigt, aber nicht vertrieben

Der Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße von 2004 hat viele Opfer schwer erschüttert. Als Trauma schildern sie jedoch auch drastische Vernehmungsmethoden der Polizei.

Der Knall lässt die Scherben des Schaufensters durch den Friseursalon fliegen, sofort ist alles voller Rauch. Fatih K. schaut zur Decke, er glaubt, eine Gasleitung sei geplatzt. Der Raum füllt sich mit Rauch, nur das Licht eines Fensters an der Rückwand schimmert. Dorthin flüchten sich alle, sie steigen hindurch in den Hinterhof. „Ich war wie in Trance, wie im Film“, erzählt K. Ein Mann reicht ihm ein Handtuch, er blutet am Kopf. Auf der Straße findet er schließlich seine Mutter. Sie war einkaufen, während er auf einen Haarschnitt wartete.

Ursache der Explosion war ein mit Nägeln gespickter Sprengsatz. Der 29-jährige Bürokaufmann ist einer von 22 Verletzten des Anschlags in der Kölner Keupstraße vom 9. Juni 2004. Direkt vor dem Salon detonierte die auf einem Fahrrad montierte Bombe – abgestellt haben sollen sie die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Gleich neun Zeugen der grausamen Tat hat das Oberlandesgericht München am Mittwoch in den NSU-Prozess geladen – zu hören sind neun Schicksale von Menschen, die bis heute mit den Folgen des Anschlags leben müssen. Am Vortag hatten bereits vier andere Betroffene ausgesagt, mindestens zwei Wochen dauert die Vernehmung der Armada an Zeugen.

Quälende Erinnerungen, das Leben „unlebbar und wertlos“

Wie alle, die sich während der Explosion gegen 16 Uhr des warmen Sommertags in der Nähe der Bombe aufhielten, trug Fatih K. eine Verletzung an den Ohren davon. Drei Tage lang hörte sich alles für ihn dumpf an. Doch für ihn, der damals 18 Jahre alt war, sei der Anschlag mittlerweile ein gutes Stück weg, andere Schicksalsschläge in seinem Leben hätten ihm stärker zugesetzt.

Andere Zeugen quält die Erinnerung bis heute. Der 9. Juni 2004 habe ihr Leben „unlebbar und wertlos“ gemacht, sagt die Frau aus dem Grußkartengeschäft neben dem Salon. Er flüchte sich immer in sein Geschäft, wenn er einen Fahrradfahrer auf der Keupstraße sehe, sagt der Juwelier von gegenüber. Bei einem der Friseure hat sich das gespenstische Bild eine Manns eingebrannt, der sein Fahrrad vor dem Salon abstellte.

Noch einprägsamer wirken allerdings die reinen Tatsachenschilderungen, die Zeugen mit dem Abstand von über zehn Jahren beinahe tonlos vortragen. Attila Ö. wartete ebenfalls beim Friseur. Nach der Explosion sagte ihm jemand auf der Straße, dass ein Nagel in seinem Hinterkopf stecke – und zog ihn heraus.

„In der Hölle angekommen“

Ö. war mit seinem Freund Abdullah Öz. in das Geschäft gekommen. Auch der dachte zuerst an eine Gasexplosion. Doch die Auswirkungen waren schlimmer: Öz. sah den Rauch und nahm den Geschmack von Schwarzpulver wahr. „Ich habe gedacht, ich bin jetzt in der Hölle angekommen“, erzählt er.

An der Aussage des 38-Jährigen lässt sich der Zorn ablesen, der sich seit dem Anschlag in ihn gefressen hat – und dieser richtet sich in erster Linie gegen die Polizei, die ihn und seinen Freund noch am selben Tag zur Vernehmung ins Präsidium kommandierte. Erst musste er seine Kleidung abgeben, dann eine Speichelprobe. „Ich habe gesagt: Nein, ich bin doch kein Vergewaltiger. Aber dann ist es dazu gekommen“, sagt Öz.

Auch Attila Ö. musste sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. In diesem Zustand, sagt er, sei er sechs Stunden lang bis nach Mitternacht vernommen worden. Laut Polizeiprotokoll dauerte die Befragung allerdings nur eine Stunde. „Die haben mich wie einen Beschuldigten behandelt und gefragt, ob ich Leute aus dem Rotlicht- oder dem Drogenmilieu kenne“, erinnert sich der 40-Jährige. Als er nach Hause kam, hätten gleich andere Ermittler vor der Tür gestanden und ihn sprechen wollen.

Ein „kölsch-türkisch-deutscher Junge“

Ähnliches Szenario bei Fatih K.: Ob er etwas von der kurdischen Untergrundorganisation PKK wisse, ob es kriminelle Aktivitäten auf der Keupstraße gebe, ob er Kontakt zu Kriminellen habe.

An jedem Vernehmungstag tauchen neue Beispiele dafür auf, wie die Polizei nach der Tat Opfer bedrängt haben soll, mit übereilten Schuldhypothesen auf die Zeugen losging. Im Fall der Nagelbombe richteten sich die Verdächtigungen nicht nur gegen eine Familie, sondern gegen einen ganzen Straßenzug. Vor Gericht entsteht so ein hässliches Bild der Ermittler – die in allen NSU-Fällen nach einem ähnlichen Schema vorzugehen schienen.

Die Entschuldigung für solche Unterstellungen folgte erst nach der Enttarnung des NSU im Jahr 2011, Opfer aus der Keupstraße wurden vom Bundespräsidenten empfangen. Doch so, wie sie heute von ihren Erlebnissen bei der Polizei sprechen, klingt es nicht, als hätten sie die Entschuldigung angenommen.

Vielmehr hat sich die Wut in eine Art Trotzhaltung gewandelt – und den Willen, sich nicht von der Angst seinen Platz im Leben nehmen zu lassen. Das hat Abdullah Öz. seit der Geburt in Köln verbracht. Ein „kölsch-türkisch-deutscher Junge“ sei er. Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler fragt ihn, ob er sich mal überlegt habe, die Stadt zu verlassen. Öz. stockt kurz. Dann antwortet er: „Wieso sollte ich das?“