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Nie wieder ein normales Leben

Der Polizist Martin A. saß mit im Auto, als seine Kollegin Michèle Kiesewetter in Heilbronn erschossen wurde. Im NSU-Prozess schildert er, wie er bis heute unter der Tat leidet.

Ein heißer Aprilnachmittag in Heilbronn. Gegen 14.15 Uhr ein Dienstspruch im Funkraum des Polizeipräsidiums: zwei erschossene Kollegen auf der nahe gelegenen Theresienwiese, einem Parkplatz am Neckarkanal. Die Polizisten schauen sich ungläubig an. Dann rasen sie los, in zwei Streifen, sie brauchen nur wenige Minuten. Als die Beamten Kerstin K. und Joachim T. ankommen, stehen sie vor einer grauenvollen Szene. In dem Streifenwagen, der im Schatten eines Trafohäuschens geparkt ist, sind zwei Beamte der Böblinger Bereitschaftspolizei zusammengesackt: Michèle Kiesewetter ragt mit dem Oberkörper aus der Türöffnung an der Fahrerseite heraus, ihr Kollege Martin A. gegenüber. K. spricht A. an, der öffnet die Augen, antwortet jedoch nicht. Er blutet am Kopf. Für Kiesewetter kommt die Hilfe zu spät – die 22-Jährige ist tot.

Was am 25. April 2007 auf der Theresienwiese geschah, ist seit dem heutigen Donnerstag Thema im NSU-Prozess. In ihrer Mittagspause wurden die beiden Polizisten aus zwei unterschiedlichen Waffen in den Kopf geschossen, anschließend stahlen die Täter ihre Pistolen. Eine Tat am helllichten Tag, auf einem belebten Platz nahe der Innenstadt. Wie das passieren konnte, dazu sind bis heute viele Fragen offen.

75 Tage mussten die Nebenkläger auf den Beginn der juristischen Aufklärung warten. Die Tat ist die letzte in der Mordserie des NSU, sie ist diametral unterschiedlich zu den anderen Fällen: Ziel des Anschlags waren Deutsche, die Opfer waren keine Kleingewerbetreibenden, sondern Polizisten – es war ein Direktangriff auf den deutschen Staat. Wohl auch deshalb ist die Lage nicht für alle Prozessbeteiligten so klar wie für die Bundesanwaltschaft, die als einzige Täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sieht, denen auch die neun Morde an Migranten vorgeworfen werden.
K. und T., die zur Hilfe gekommenen Polizisten, sagen im Prozess als Zeugen aus. Ihr Einsatzpartner, erzählt K., sei zu Kiesewetter gegangen. „Er hat gleich gesagt, dass sie ex ist“, sagt sie, also tot. Kurz nachdem die Sanitäter eingetroffen waren, stellten sie fest, dass den Opfern die Dienstwaffen fehlten, zudem eine Handfessel, Pfefferspray und ein Taschenmesser. Die sogenannte Amokbox, einen Aluminiumbehälter mit einer Maschinenpistole im Kofferraum, ließen die Täter hingegen unangetastet.

Zeugen der Tat gibt es nach dem Ermittlungsstand der Bundesanwaltschaft nicht. Ein Taxifahrer alarmierte die Polizei, nachdem ihn ein Radfahrer darauf aufmerksam gemacht hatte. Der einzige, der das Geschehen mitbekam, kann sich nicht an den Moment erinnern: Martin A. Für ihn begann nach dem 25. April ein Martyrium, das noch nicht zu Ende ist. Nun sagt auch er, das einzige Opfer, das einen Pistolenanschlag des NSU überlebt hat, aus.

A. sieht älter aus, als er tatsächlich ist – 31 Jahre. Er hat eine Halbglatze, ist bleich, spricht so schnell, dass Richter Manfred Götzl ihn unterbrechen muss. Neben ihm sitzt sein Anwalt Walter Martinek – doch Beistand braucht A. eigentlich gar nicht. Er kann schlüssig erzählen, hat seine Emotionen im Griff. Bloß bedeutet das nicht, dass für ihn Normalität eingekehrt wäre.
„Normaler Polizist zu sein, was mein Kindheitstraum war, das ist zerstört“, sagt er, schließlich stecke man „so ein Attentat nicht einfach so weg“. Zumal auch ihn die Ungewissheit plagt: A. erinnert sich noch, wie er sich für den Dienst in Heilbronn einteilen ließ. Kiesewetter, die mehr Polizeierfahrung hatte als er, fragte ihn per SMS, ob sie zusammen Streife fahren wollten. Ein „quirliges Mädchen“ sei sie gewesen, die gut auf Menschen zugehen konnte. Nie habe er sie traurig gesehen.

Auch er selbst, sagt A., sei vor dem Anschlag ein lebenslustiger Mensch gewesen. Voller Tatendrang hatte er sein Studium der Wirtschaftsinformatik abgebrochen, um Polizist werden zu können, auch wenn er wegen Stellenmangels zunächst nur in den mittleren Dienst durfte. Das hieß: Streife fahren, wie er es sich immer gewünscht hatte.

In Heilbronn sollen er und die anderen Böblinger Polizisten dafür sorgen, dass Platzverweise gegen Drogensüchtige eingehalten werden. A. ist zum ersten Mal in der Stadt, Kiesewetter zeigt ihm im Streifenwagen die Gegend. Zweimal fahren sie an dem Tag auf die Theresienwiese – morgens für eine Pause, nach einer Besprechung im Präsidium zum Mittagmachen mit einem Snack vom Bäcker. Der Festplatz gilt als beliebtes Pausenziel für Polizisten, weil es dort nicht so belebt ist. Die beiden fahren eine Abschottung hoch, „und dann hört’s auch schon auf“, sagt A.
Er wacht im Krankenhaus auf, nach fünf Wochen Koma. Er sieht die Transfusionsschläuche in seinem Arm, hält es für einen Scherz seiner Kollegen, reißt sie heraus. Niemand darf ihm sagen, was passiert ist, er darf keine Zeitungen lesen, alle Spiegel sind abgehängt. Er habe einen Unfall gehabt, heißt es. Erst, als ihn nach zwei Wochen Ermittler der Sonderkommission „Parkplatz“ befragen, erfährt er die Wahrheit und dass seine Kollegin tot ist. Da bricht er zusammen.

Die Soko jagt den Täter, doch A. kann nicht mit seiner Aussage helfen. Eine Befragung unter Hypnose bringt nur wenig verwertbare Hinweise: Darin erinnert er sich, wie zwei Männer von hinten an das Auto herantreten. Die Informationen habe er sich aber zusammengereimt aus Gesprächen mit Kollegen und Medienberichten, sagt A. im Prozess: „Da war ein riesengroßes schwarzes Loch in meinem Kopf, das musste ich irgendwie füllen.“

Fortan versucht er, sein eigenes Leben wieder zu beherrschen. Er verbringt mehrere Monate in der Reha, wird operiert. So schnell es geht, will er wieder in den Polizeidienst. Ab September desselben Jahres wird er im Innendienst eingesetzt, mit der Hoffnung, wieder Streife fahren zu dürfen, „deshalb wurde ich ganz schnell gesund“, sagt A. Er spielt seine Schäden vor den Ärzten herunter, auch wenn sie enorm sind: Der Schuss traf ihn über dem rechten Ohr. Sein Gleichgewichtssinn ist gestört, er hört schlecht und ein Teil seines Schädelknochens fehlt. Ein Teil der Kugel steckt bis heute in seinem Kopf. Aus dem Streifendienst wurde nichts – dass er heute Büroarbeit verrichten muss, „hat mir das Herz zerrissen“.

Doch A. kämpft weiter, studiert zwei Jahre, um in den gehobenen Dienst versetzt zu werden. Erst nach dem Studium schlägt das psychische Trauma mit voller Wucht zu. Ein halbes Jahr kann A. nicht arbeiten, bei ihm wird ein Posttraumatisches Stresssyndrom diagnostiziert. Wenn er Polizeikolonnen sieht, zählt er die Fahrzeuge – „bei uns ist am Abend ein Auto weniger zurückgekommen“.

 

75. Prozesstag – Die Aufklärung des Kiesewetter-Mords beginnt

Am 25. April 2007 wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter auf einem Parkplatz in Heilbronn erschossen. Am Donnerstag, rund acht Monate nach Prozessbeginn, beginnt das Oberlandesgericht München mit der Aufarbeitung. Gleich sieben Zeugen hat sich der Senat vorgenommen. Neben sechs Ermittlern ist Kiesewetters Kollege Martin A. geladen, der bei dem Mordanschlag neben ihr saß und angeschossen wurde. A. tritt als Nebenkläger in dem Verfahren auf.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Eine Zusammenfassung des Prozesstages veröffentlichen wir hier am Abend. Weitere Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

74. Prozesstag – Gericht untersucht Mordvorwurf gegen Zschäpe

War die Seniorin Charlotte E. in Lebensgefahr? Sie war am 4. November 2011 in der Haushälfte neben der Wohnung des NSU-Trios in Zwickau, als Beate Zschäpe dort laut Anklageschrift Feuer legte. Die Bundesanwaltschaft wirft der Hauptangeklagten deswegen versuchten Mord vor. Wie dramatisch die Lage für die damals 89-Jährige war, will das Gericht am Mittwoch mithilfe eines Brandsachverständigen des sächsischen LKA klären. In seinem Gutachten hatte dieser bereits erklärt, E. sei weder durch die Explosionen aus der Nachbarwohnung noch durch die Flammen in Lebensgefahr gewesen.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

73. Prozesstag – Gericht beschäftigt sich mit Zschäpes Kleidung

Erneut befasst sich das Gericht am 73. Prozesstag mit den Geschehnissen nach dem Zwickauer Wohnungsbrand von 2011, den laut Anklage Beate Zschäpe legte. Geladen ist ein Polizist, der Zschäpes Kleidung sichergestellt hatte, nachdem diese sich in Jena gestellt hatte. Als Zeugin tritt zudem eine Frau auf, die in ihrem Namen eine Mobilfunk-Karte gekauft und Zschäpe überlassen hatte – die Karte wurde später im Brandschutt gefunden.

Auch zwei Morde untersucht der Senat: Zum Tod von Süleyman Tasköprü aus Hamburg sagt der Gerichtsmediziner aus, der die Leiche obduzierte. Zum Fall von Halit Yozgat aus Kassel ist ein Zeuge geladen, der sich zur Tatzeit im Internetcafé aufgehalten hatte. Er war bereits dreimal nach München zitiert worden, jedoch nie vor Gericht erschienen.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

72. Prozesstag – Die Helfer mit der Krankenkassenkarte

Nach der Weihnachtspause hat der Münchner Staatsschutzsenat die Arbeit wieder aufgenommen. In einer langwierigen und zähen Zeugenvernehmung versuchte das Oberlandesgericht, die Beschaffung einer Krankenversicherungskarte für Beate Zschäpe aufzuklären. Der Mitangeklagte Holger G. hatte die AOK-Karte einer Bekannten abgekauft und sie dann an die untergetauchten Neonazis weitergegeben. Am Mittwoch hörte das Gericht nun den Ehemann der Bekannten als Zeugen – den 33-Jährigen Kaufmann Alexander S., der zumindest längere Zeit der rechten Szene in Niedersachsen angehörte. An den konkreten Abend der Übergabe konnte oder wollte der Zeuge sich jedoch nicht erinnern. (mit dpa)

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

71. Prozesstag – Die 91-jährige Nachbarin sagt aus

Die Vernehmung von Charlotte E, einer ehemalige Nachbarin des Zwickauer Terror-Trios, erbrachte kaum weiterführende Erkenntnisse, da die 91-Jährige an Demenz leidet. Sie konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht vor Gericht erscheinen. Sie wurde per Videoübertragung befragt.

Es sollte um die Brandstiftung in der Zwickauer Wohnung des NSU gehen. Die Anklage wirft Beate Zschäpe vor, sie habe den Tod der Nachbarin und zweier Handwerker in Kauf genommen, als sie das Feuer legte. Bei der Polizei hatte Charlotte E. gesagt, jemand habe bei Ausbruch des Brandes bei ihr geklingelt.

Für ihre Aussage entfoel die ursprünglich geplante Vernehmung des früheren Thüringer Kameradschaftlers André Kapke.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Der Bericht unseres Reporters hier. Die Berichte darüber fassen wir im nächsten NSU-Medienlog zusammen.

 

70. Prozesstag – Informatikprofessor Mundlos spricht erneut

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Nach der Aussage von Siegfried Mundlos ringen die Prozessbeteiligten um die Deutungshoheit. Während Opferanwälte den Auftritt des Vaters von Uwe Mundlos kritisierten, sahen die Verteidiger von Beate Zschäpe positive Auswirkungen für ihre Mandantin.

Wie schon am Mittwoch gab der Vater dem Verfassungsschutz eine Mitschuld daran, dass sein Sohn in die rechte Szene abgeglitten war.

Der ehemalige Informatikprofessor hatte gestern zudem einen Eklat ausgelöst, als er den Vorsitzenden Richter beleidigte. Daraufhin drohte Richter Manfred Götzl mit Ordnungsmitteln.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Eine Zusammenfassung des Prozesstages veröffentlichen wir hier am Abend. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

69. Prozesstag – Video-Vernehmung Nachbarin

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Am Mittwoch sollte eine ehemalige Nachbarin von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe per Videoübertragung vernommen werden. Die 91-Jährige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht vor Gericht erscheinen kann, könnte Beate Zschäpe vom Vorwurf des versuchten Mordes entlasten. Dann kam es anders: Der Vater von Uwe Mundlos trat auf.

Die Berichte darüber fassen wir im NSU-Medienlog zusammen.

 

68. Prozesstag – Aussage Urlaubsbekanntschaften

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Die mutmaßliche Neonazi-Terroristin Beate Zschäpe ist am heutigen Mittwoch von mehreren Urlaubsbekannten als eine Art „Mama“ des NSU-Trios beschrieben worden. Zschäpe, die unter dem Namen „Liese“ aufgetreten sei, habe beim Camping auf Fehmarn auch die Urlaubskasse verwaltet, sagten die drei Zeugen im Münchner NSU-Prozess. Für die Bundesanwaltschaft ist dies ein Indiz für die wichtige Rolle der Hauptangeklagten in der Gruppe. (dpa)

Berichte über den Verhandlungstag fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.