Lesezeichen
 

Das Erleben des Sturzes

Die Medialisierung des Terrors ist normal geworden. Die Literatur aber kann an der Darstellung des Schreckens nur scheitern. Gerade darin liegt ihre Wahrhaftigkeit.

© Getty Images
© Getty Images

Ein Flugzeug stürzt ab. 150 Menschen sterben. Von 150 Opfern ist die Rede. Dann von 149. Selbstmord des Copiloten. Mord an allen anderen, wird gesagt. Trauer und Bestürzung sind groß. Politiker reisen an. Sofort.

Man lässt sich am Ort des Absturzes sehen. Frau Merkel und Herr Hollande höchstpersönlich. Wir verstehen das, haben Erfahrungen gemacht mit der Bildwichtigkeit und Bildmacht in unseren Mediendemokratien. Der Staatsführer als erfolgreicher Krisenmanager. Es rächt sich, wenn sie solchen Gelegenheiten fernbliebe. Weiter„Das Erleben des Sturzes“

 

Hamsterrad oder Fressnapf

Das Betreuungsgeld ist Unsinn. Was wir aber brauchen, ist eine neue Diskussion über die Aufteilung von Lebens- und Arbeitswelt.

© Adam Berry/Getty Images
© Adam Berry/Getty Images

Man stelle sich folgendes Unruheszenario vor: Viele, ja zu viele Menschen in unserer wirtschaftlich gut funktionierenden Republik widersetzten sich der Verwertung ihrer Arbeitskraft, um ein Kind jahrelang Vollzeit zu betreuen. Klar, Deutschland braucht Nachwuchs, um den drohenden demografischen Wandel abzudämpfen, aber ebenso dringend braucht es Fachkräfte, um weiterhin über jeden Krisenmahlstrom hinweg zu segeln. Was, wenn gerade Menschen in ihren Zwanzigern und Dreißigern keine Lust mehr hätten, auf dieser Segeltour mitzuschippern? Weiter„Hamsterrad oder Fressnapf“

 

Oskar Matzerath ist eine ganze Epoche

Günter Grass hatte eine Meinungsmacht, die heute kein Intellektueller mehr für sich beanspruchen kann. Und es scheint auch nicht mehr erwünscht.

© AP Photo/Jens Meyer
© AP Photo/Jens Meyer

In den vergangenen Jahren hat man sich gern über Günter Grass lustig gemacht, sofern man ihn nicht gleich ignorierte. Da war dieser Gigant, der einmal Inbegriff der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur war, und mutete nun in der Flut der Häme, die nach seinem in der Süddeutschen Zeitung publizierten Gedicht Was gesagt werden muss über ihn herrollte, beinahe wie vom Alter geschrumpft und nicht mehr in unsere Zeit gehörend an. Zugegeben, seine letzten veröffentlichten Gedichte waren weder ästhetisch noch politisch auf der Höhe seines Werkes, der Wirbel um sie war aber eben deshalb wichtig, weil sie nicht bloß das Scheitern eines einzelnen Mannes zeigten, sondern das Scheitern eines engagierten Literaturverständnisses generell. Weiter„Oskar Matzerath ist eine ganze Epoche“

 

Herrchen im Himmel

Das Leben wird immer komplizierter. Kein Grund zu verzweifeln! Unser Autor weiß, wie man den Überblick behält: Er erklärt die Welt seinem Hund. Heute – die Religion.

© Daniel Berehulak/Getty Images ()
© Daniel Berehulak/Getty Images ()

Adele, komm mal her! Mach Sitz! Und hör gut zu, ich muss dir was erklären. Also, pass auf, Adele! Vor langer Zeit, als es noch mehr Wölfe als Hunde gab, da glaubten alle Menschen auf der Welt, es gäbe für sie ein, nun sagen wir: Herrchen. Allerdings nicht, wie bei euch Hunden, ein Herrchen für jeden, sondern eines für alle. Und noch etwas war anders an diesem Menschen-Herrchen. Es lebte nämlich nicht hier auf der Erde, schnauzte einen nicht an, zerrte einen nicht an der Leine und gab, leider, auch kein Futter aus der Hand. Die Menschen dachten sich ihr Herrchen vielmehr irgendwo anders, weiter oben, von wo es allerdings jeden Menschen aufmerksam beobachtete. Und wenn der Mensch gegen die Regeln des Herrchens verstieß, musste er mit allerlei Strafen rechnen, die gewissermaßen indirekt vollstreckt wurden, zum Beispiel in Form von Krankheit und Armut oder Quälereien nach dem Tod.

Nun weißt du als Hund ja aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, schon die Wünsche und den Willen eines real anwesenden Herrchens richtig zu deuten. Um wie viel schwieriger ist es da, Wunsch und Wille eines abwesenden, aber gewissermaßen universellen und omnipotenten Herrchens dauernd richtig zu treffen. Weiter„Herrchen im Himmel“

 

Nach zwölf Tagen im Wasser verfaulen die Beine

Was kann man ausrichten in einer Zeit, in der junge Männer sterben, die man schon als Kind kannte? Über die Ohnmacht der Worte angesichts des Ukraine-Konflikts

© John MacDougall/AFP/Getty Images ()
© John MacDougall/AFP/Getty Images ()

Ich werde oft gefragt, was die Intellektuellen in der Ukraine dieser Tage machen. Und was sie machen können. Und ich antworte immer, dass es keine allgemeinen Regeln gibt, denn jeder reagiert auf die Situation anders – wird zum Beispiel sehr aktiv, schreibt viel, oder hört auf zu schreiben und wird zum freiwilligen Helfer, bringt den ukrainischen Soldaten warme Socken, Essen und Zigaretten. Oder macht ein Literaturfestival in Slowjansk, wo noch vor Kurzem schwere Kämpfe stattfanden. Oder wird einfach verrückt.

Jeder reagiert anders, ich kann nur von mir selbst sprechen. Das antworte ich immer, und das ist ein großer Fehler, weil die nächste Frage, die kommen könnte, dann lauten müsste: Gut, was machst Du denn? Und diese Frage, die Gott sei Dank noch nie gestellt wurde, ist für mich fatal. Ich mache gar nichts. Diesen Krieg kann ich weder gewinnen noch stoppen. Was ich auch tun würde, es könnte doch nichts ändern.

Weiter„Nach zwölf Tagen im Wasser verfaulen die Beine“

 

Mein Papst und ich

Das neue Papst-Magazin ist die Fortsetzung der urkatholischen Populärkultur. Etwas enttäuschend: Beim Preisausschreibung winken 100 Euro, nix mit Seligsprechung.

© Franco Origlia/Getty Images/Bearbeitun: ZEIT ONLINE
© Franco Origlia/Getty Images/Bearbeitun: ZEIT ONLINE

Eines steht fest: Das Verhältnis der Deutschen zum Papst hat sich seit dem Rücktritt Benedikts XVI. radikal verändert. Ganz Deutschland brodelte im weißen Rauch, als die Bild bei Ratzingers Wahl WIR SIND PAPST titelte, ein Ausruf zwischen Pluralis Majestatis und Inbesitznahme aller päpstlichen Würden für den guten Zweck der Yellow Press. Mit Franziskus haben wir uns von dieser symbiotischen, überindentifikatorischen, ja geradezu kannibalistischen Beziehung zum obersten Pontifex erholt.

Mein Papst heißt das neue Magazin, das seit März auf dem Markt ist. Nun gibt es viele Titel, unter denen deutsche Dichter und Denker den Bischof Roms thematisiert haben, etwa Der Erwählte (Thomas Mann) oder Der Stellvertreter (Rolf Hochhuth), aber keiner ist so schlicht, liebevoll und frei von jeglicher Problematisierung des Amtes wie jener aus dem Hause Panini. Mein Papst, eine Wendung für ein Lebkuchenherz, vergleichbar mit mein Schatz, mein Bärchen, mein Herzensmann, deutet auf eine geordnete, besitzergreifende Liebesbeziehung hin.

Weiter„Mein Papst und ich“

 

Beziehungsstatus? Es ist kompliziert

Monogamie, Bigamie, Theophilie, Enthaltsamkeit – was bitte ist denn nun der Weg zum großen Glück? Unser Autor bringt Ordnung in das moderne Liebeschaos.

Hier auf ZEIT Online wurden die Leserinnen und Leser gefragt, ob sie noch an die monogame Zweierbeziehung glauben oder längst andere Beziehungsformen für sich gefunden haben. Weil man in der Vielzahl der möglichen Liebesarten schnell den Überblick verliert, erkläre ich hier kurz die wichtigsten davon.

 

Monogamie

Man ist ein Leben lang mit demselben Partner zusammen und dabei unglücklich. Manchmal macht man Tanzkurse.

 

Serielle Monogamie

Man ist erst mit dem einen Partner zusammen und dabei unglücklich und dann mit einem anderen, mit dem man kurz hofft, glücklich zu werden, bevor man dann wieder unglücklich ist. Und so weiter. Zwischendurch ruft man den Partner an, mit dem man am wenigsten unglücklich war, und sagt, dass man einen Riesenfehler gemacht hat. Das ist ein Riesenfehler.

Weiter„Beziehungsstatus? Es ist kompliziert“

 

Schaut auf diese Frau!

Franz von Stuck zeigt, dass in Judith, die Holofernes nach dem Sex ermordet, viel mehr steckt als eine Heldin der Gendertheorie.

"Judith und Holofernes" von Frank von Stuck, 1927 (© Wikimedia Commons)
„Judith und Holofernes“ von Franz von Stuck, 1927 (© Wikimedia Commons)

Menschen sind soziale Wesen und deshalb auf Geschichten über sich und ihre
Beziehung angewiesen. Wir ahmen nach. Wir brauchen die abgebildete Fantasie eines anderen, um nach ihrem Muster handeln zu können.

Schwierig wird es, wenn nicht klar ist, ob der Protagonist einer Geschichte seinen Heldenstatus durch scharfes Kalkül oder einen teuflischen Zufall erlangt – Frauen traut man geschäftsmäßige Berechnung weniger zu als hochemotionale Bluttaten, weshalb Judith und Holofernes nicht nur ein apokryph biblisches Traumpaar sind, das in die Geschichte einging, weil Judith Holofernes nach vollzogenem Liebesakt den Kopf abschlug, „um ihr Volk zu retten“ – Judith gilt gleichzeitig als Prototyp der magisch-dämonischen Frau, die mit dem Feind schlafen will und ihn danach umbringen muss, weil diese schändliche Sehnsucht ihre Autonomie zerstört hat. Weiter„Schaut auf diese Frau!“

 

Die clowneske Revolution

Es gibt eine Legitimitätskrise des Kapitalismus und der Macht der Banken. Aber eine Randale wie in Frankfurt schafft auch keinen Umsturz.

© Michael Probst/dpa/Montage: ZEIT ONLINE
© Michael Probst/dpa/Montage: ZEIT ONLINE

Qualmende Mülltonnen, brennende Polizeiwagen. Die Bilder sind düster, zumindest jene, die Spiegel online zusammengeschnitten hat. Flammen, Autowracks, krawallierende dunkle Gestalten. Wären es doch die Pariser Banlieus, weit weg und am Rande der Gesellschaft. Aber das hier ist Frankfurt und mehr als das, es ist das klappernde Herz der europäischen Geldpolitik, beheimatet im neuen Doppelturm der Europäischen Zentralbank, der gestern, als die Bilder entstanden sind, eingeweiht wurde, im kleinsten Kreis, aus Sicherheitsgründen. Weiter„Die clowneske Revolution“

 

Die Angst hockt dicht unter der Oberfläche

Hier Yves Saint Laurent und Chanel, ein paar Meter weiter ein Netto. Und dazwischen springt einen plötzlich der alltägliche Rassismus an. Wieso haben wir alle Neugier auf das Fremde verloren?

© Peter Steffen/dpa/Montage: ZEIT ONLINE
© Peter Steffen/dpa/Montage: ZEIT ONLINE

Manchmal scheinen die Dinge so banal zu sein, dass ich mich frage, ob ich nicht naiv bin. Nur, dass ich es auf der politischen korrekten Seite bin, selbstverständlich. Und mich deshalb zurücklehnen und eine Geschichte erzählen kann.

Wenn man aus München nach Berlin kommt, so kann man sich an den vielen libanesischen Imbissen freuen, an der Selbstverständlichkeit, mit der jeder nicht nur Sushi, sondern auch Pelmeni kennt, man kann beinahe so tun, als sei man ein bisschen in London, aber das ist bereits schriftstellerische Fantasie. Und den grauen Himmel, den nimmt man einfach so hin, man ist ja aus München in Berlin. Weiter„Die Angst hockt dicht unter der Oberfläche“