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Voodoo gegen Pocken

Im Benin ist das Orchestre Poly-Rythmo de Cotonou seit den Siebzigern bekannt. Nun ist seine Musik endlich auch in Europa zu haben. Unseren Autor hat sie zu einer kleinen Geschichte inspiriert

Cyril ächzt, als er sich am Friedhof Père Lachaise ins Taxi hievt. Nicht, weil der Rücken schmerzt. Die Sonne geht gerade auf – Cyril rekapituliert, wie viele Flaschen Wein er mit seinen Freunden Caroline und Orion in den letzten Stunden geleert hat. Immer wieder ist Orion in den Keller gegangen. Unzählige Etiketten, Namen, Regionen und Jahreszahlen hat er vorgelesen – Cyril hat sie allesamt vergessen. Ohnehin, wenn Orion im Raum ist, achtet er nur auf dessen linkes Auge. Den weißen Fleck in seiner Pupille, dessen Ursache Cyril nicht kennt. Er hat ihn nie gefragt. Weshalb eigentlich?

Es müssen wohl an die vierzehn Flaschen gewesen sein, denkt Cyril. Da wird ihm übel. Er schaut nach vorn. Sein Blick verliert sich im karierten Muster der Nackenstütze. Die Rauten beginnen, sich zu drehen, er schaut immer weiter hinein und versucht zum Mittelpunkt der Drehung zu blicken. Dort herrscht Ruhe, meint er.

James Brown erscheint vor seinem geistigen Auge. Eingehüllt in das Gewand eines Preisboxers tanzt er vor Wellblechhütten. Die Sonne brennt und wird von seinem Umhang reflektiert. Cyril ist, als stechen ihm Blitze in die Augen. Er steht nun neben einer großen Trommel, unentwegt tanzen Menschen um sie herum und schlagen darauf ein. „Unheimlich koordiniert“, stellt Cyril fest, der sich nicht einmal in seinem Wachtraum richtig auf den Beinen halten kann. Ein Gitarrist drischt mal die offenen Saiten seines Instruments, dann wieder spielt er filigrane Läufe. Die Musik pendelt zwischen Eleganz und Ausbruch. Bläser setzen Akzente, die Töne jubilieren, Rhythmen schleudern wie eine übervolle Waschmaschine.

Selbst der Boden scheint jetzt zu tanzen, Cyril verliert den Halt, greift um sich und wird von einem Fremden festgehalten. Die Sonne sticht nicht mehr und langsam erkennt er ein Gesicht. Es ist der Taxifahrer. „Monsieur – wir sind im Marais! Wo soll ich sie nun hinfahren?“, ruft er – „Pardon. Ich bin wohl eingeschlafen“, sagt Cyril – „Haben sie gut geträumt?“ – „Allerdings.“

Aus den Lautsprechern des Autoradios scheppert Musik. „Was hören wir da?“, fragt Cyril. „Musik aus Benin“, antwortet der Taxifahrer, „das ist das Orchestre Poly-Rythmo de Cotonou, meiner Heimatstadt.“ Er kommt ins Plaudern. „In Benin wurde die Vodoun Religion geboren, Sie kennen das als Voodoo. Dieser Rhythmus hier schützt die Menschen vor Pocken. Andere hört man zum Gedenken der Toten oder um eine unserer 250 Götter zu ehren.“ Cyril staunt. „Passen Sie mal auf: Zwischen 1970 und 1983 hat das Orchestre mehr als 500 Titel veröffentlicht. Hören Sie das? Wie elegant hier Elemente aus der traditionellen Musik meiner Heimat mit amerikanischem Funk und Soul verschmelzen? Hier bei Ihnen, Monsieur, gibt es das jetzt endlich auch zu hören, ein ganzes Album mit den besten Sachen, ganz hübsch aufgemacht. Wo soll ich sie nun hinbringen, Monsieur?“

„Ach, fahren Sie mich doch bitte einmal zum Flughafen Charles de Gaulle und dann wieder zurück“, sagt Cyril, „und lassen sie bitte die Musik laufen!“

„The Vodoun Effect 1972-1975: Funk & Sato from Benin’s Obscure Labels Vol. 1“ vom Orchestre Poly-Rythmo de Cotonou ist auf CD und Doppel-LP bei Analog Africa/Groove Attack erschienen. In ein paar Monaten soll dort ein zweites Album mit Musik der Band erscheinen.

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Geld macht glücklich

Die Skeletons aus New York beatmen den Jazzrock der späten Achtziger. Ihr Album „Money“ ist ein splitternder Klangbrocken und steckt voller Überraschungen

Autohupen, eine Wagenkolonne tönt wie nach einem gewonnenen Fußballspiel. Ein schräger Klavierakkord, wieder und wieder. Darüber nuschelt der Sänger Matt Mehlan vier wehmütige Zeilen. Klangcollagen und zerbrechliche Balladen? Von wegen, hier bricht ein Sturm los: Die Gitarre serviert splitternde Klangbrocken, der Bass schlägt Haken, der Schlagzeuger spielt Jazz und HipHop auf einmal. Dazu erklingen sehr schräge Bläser und ein bisschen schräger Gesang. Das ist funky, man möchte mitgröhlen. Die Skeletons sind wohl mit der Musik der Tar Babies und den jazzig rockenden Tönen des Labels SST Ende der Achtziger aufgewachsen, so jedenfalls klingt ihr Album Money. Sie beleben diese längst verschütteten Klänge – und reichern sie mit eigenen Ideen an.

Da sind nicht nur die Klangcollagen, die immer mal wieder mitlaufen. Man weiß auch nie, was einen an der nächsten Ecke erwartet. Auf atonal drängelnde Passagen folgen zuckersüß-harmonische Gesänge. Leichtfüßige afrikanische Rhythmen teilen sich den engen Raum mit elektronisch verfremdetem Geschrei. Es geht hin und her, etwa so: Dem entspannt groovenden Stepper a.k.a. Work folgt ein kurzer Singsang, dem eine spanische Flughafendurchsage – und plötzlich macht es Boom!: Die Gitarren krachen, der Schlagzeuger peitscht auf seine Felle ein, aus der Kakophonie schält sich eine Melodie, der Bass treibt den Sänger vor sich her. Zwei Gitarristen schrammeln in verschiedenen Tonhöhen, verhaken sich ineinander und werden immer schneller. Nach sieben Minuten entfesselt der Saxofonist ein irrsinniges Solo. Irgendwann fallen die anderen Bläser mit ein, und man glaubt, das Autohupen vom Anfang der Platte wieder zu hören.

Trotz all der Intensität und dem immer wieder hereinbrechenden Chaos stimmt Money den Hörer glücklich. Zum Ausklang singt die Band zu munteren Straßenbläsern: „A memory is still a memory if you saw it on TV / Or in a dream or heard it on the street / You can unknowlingly believe me.“ Die Skeletons feiern am Abgrund.

„Money“ von den Skeletons ist auf CD und LP bei Tomlab/Indigo erschienen.

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Aus Liebe zum Bein

Über die Jahre (38): Die New Yorker Band Liquid Liquid nahm Anfang der Achtziger großartige Lieder auf, dann zerbrach sie. Beinahe ihr gesamtes Werk ist nun auf »Slip In And Out Of Phenomenon« nachzuhören.

Liquid Liquid Slip In And Out Of Phenomenon

In der Geschichte der Musik gibt es Gruppen, die immensen Einfluss auf das Nachfolgende ausüben. Und es gibt Gruppen, die verschwinden, bevor sie überhaupt jemand bemerkt hat. Auf das New Yorker Quartett Liquid Liquid trifft beides zu. Wenige Lieder haben sie hinterlassen, doch deren Ruhm überragt den schmalen Korpus. Die Band wird zitiert, kopiert und verehrt. Einer der besten europäischen Clubs, Optimo in Glasgow, hat sich nach einem ihrer Lieder benannt.

Auf den Fotos von früher sieht man vier weiße Jungs in engen Hosen und ranzigen T-Shirts. Sie schauen aus wie großstädtische Künstler, könnten aber ebenso gut Bohrmaschinenvertreter aus New Jersey sein. Was haben diese unlässigen Typen zu tun mit HipHop, Punk und Disco? Alles und nichts. Ihre Rhythmen treiben, scheppernde Kuhglocken erinnern an den Samba, der Bass an den Funk. Der Gesang klingt in keiner Abspielgeschwindigkeit richtig, auf 33 Umdrehungen scheint die Platte zu langsam, auf 45 zu schnell.

Die Beine sagen: »Das ist Disco, Mann! Wir müssen uns bewegen, da rinnt schon Schweiß von den Haaren.« Etwas Unterhalb der Haare meldet sich das Gehirn zu Wort: »Nee, das ist Kunst! Höre auf den Puls dieser seltsamen Klänge. Was wird hier zusammengerührt? Hybrider kann Musik kaum klingen, da ist alles drin. Von Afrika bis Eurasien. Wie der Bass die Melodie führt, das ist purer Krautrock. Und die Melodica? Dub Reggae! Das ist der Schmelztigel New York. Sogar Elliott Sharp spielt bei einem Stück mit. Das ist Avantgarde!« – »Hören wir auf, dies hier in Schubladen zu versenken, tanzen wir!«, fordern die Beine. Und so geschieht es.

Anfang der Achtziger erschienen vier EPs von Liquid Liquid auf dem kleinen Label 99 Records. Die drei ersten werden nun um ein paar unveröffentlichte Lieder angereichert bei Domino Records wiederveröffentlicht, Slip In And Out Of Phenomenon nennt sich die Sammlung. Die im Büchlein zur CD abgedruckten Flugblätter zeigen, dass die Musikszene im New York der frühen Achtziger eng zusammengerückt war. Liquid Liquid spielten mit Sonic Youth, aber auch mit Pionieren des HipHop und des Electro, mit Afrika Bambaataa, den Treacherous Three und Afrika Islam. Das erklärt die Uneindeutigkeit, ja Unverfrorenheit ihres Klangs.

Warum wurde die vierte EP nicht berücksichtigt? Die Band war nicht zufrieden mit den Liedern. Und warum haben sie nie ein ganzes Album aufgenommen? Weshalb erschienen ihre Lieder in diesem Zwischenformat EP? Waren das nur Bestandsaufnahmen, die den Weg in eine jeweils andere Richtung freimachen sollten? Ein Mythos wird zum Mythos, weil er Fragen offenlässt.

Ausgerechnet ihr bekanntestes Stück wurde Liquid Liquid zum Verhängnis: Cavern wurde auf zweifelhaftem Weg vom Disco-Knüller zum Welthit. Der Rapper Grandmaster Flash und seine Furious Five ließen für ihr White Lines das Stück Cavern nachspielen und rappten dazu. An den Einnahmen wollte Flashs Plattenfirma Sugarhill weder Liquid Liquid noch 99 Records beteiligen. Deren Besitzer Ed Bahlman protestierte, wurde bedroht und prozessierte schließlich. Vor Gericht war das eine klare Sache – 99 Records gewann. Doch Sugarhill war bankrott, sie hatten das Geld längst verprasst. Die hohen Anwaltskosten und die Enttäuschung gaben Bahlman den Rest: Sein Label ging pleite und die Band zerbrach.

Im Jahr 1997 veröffentlichten die Firmen Mo’ Wax und Grand Royal Liquid Liquids Platten erneut. Bald darauf meldeten sie Konkurs an. Als läge ein Fluch auf den Platten der Band, wer sie unter die Leute bringt, geht pleite. Nun arbeitet das britische Label Domino Records liebevoll das Werk der Band auf, das ist mutig. In der CD-Version gelingt zwar die Dokumentation des Schaffens, doch gibt es wenig, was darüber hinausweist. Die LP-Ausgabe ist ganz anders angelegt, sie frönt dem Objektfetisch. In einem Schuber stecken die drei EPs in Originalhüllen, dem liegen eine CD mit Liveaufnahmen und ein Begleitheft in Postergröße bei. Das edle Stück ist für rund 20 Euro zu bekommen, Geld wird die Plattenfirma mit so etwas nicht verdienen.

Man muss Domino Records also gleich doppelt Mut bescheinigen, auch wenn sie nur aus Liebe zu den eigenen Beinen handeln.

»Slip In And Out Of Phenomenon« von Liquid Liquid ist auf CD und Dreifach-LP bei Domino Records/Indigo erschienen.

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(35) dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (1996)
(34) Miles Davis: „On The Corner“ (1972)
(33) Smog: „The Doctor Came At Dawn“ (1996)

Hier finden Sie eine Liste aller in der Serie erschienenen Beiträge.

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Graf von Hose lässt bitten

James Pants kommt aus einem Kaff, er schwitzt nicht, ist weder schwarz noch schwul. Und doch gelingt ihm auf „Welcome“ das Kunststück, dem Disco-Funk neues Leben einzuhauchen.

James Pants Welcome

Barry Lyndon ist ein Springinsfeld, der den Zufall auf seine Seite zieht und sich durch die Absurditäten des Lebens zu mogeln weiß. Er ist der Held des gleichnamigen Films von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1975. Der Film ist komisch und detailverliebt. 3000 Kerzen ließ Kubrick leuchten, um künstliches Licht zu vermeiden. Die goldenen Locken des Helden sollten in schummriger Wärme abgebildet werden. Mit dem Charme einer Putte und Kraft seiner Lenden gelangt Lyndon in die feine Gesellschaft, geschickt passt er sich den Gegebenheiten an.

Der Barry Lyndon des Jahres 2008 heißt James Pants. Er ist Musiker und kommt aus Spokane, Washington. Irgendwie hat er seine Demoaufnahmen nach L.A. geschmuggelt, zufällig hat ein Plattenboss ein Ohr riskiert. Demos aus der Kleinstadt werden meist ungehört entsorgt, schließlich ist Spokane nicht Seattle und schon gar nicht New York.

Sein Debütalbum Welcome nährt sich vom Disco-Funk nach Art von Larry Levan, Arthur Russell und ESG. Sambaesque Kuhglocken, verhallende Stimmen und treibende Rhythmen tönen direkt aus der goldenen Zeit des New Yorker Hedonismus hinüber. In dieser Musik kommen lauter hässliche Elemente zu etwas Wunderschönem zusammen, nie läuft sie schnöde durch.

Mit lässig übergeschlagenen Beinen blickt Pants uns entgegen. Sein Schneider geht auf Nadelstreife, Pants ist so blass, dass man ihm einen Apfel reichen möchte. Selbst im härtesten Macho weckt dieser Mann Muttergefühle. Er schwitzt nicht, er ist weder schwarz noch schwul – weshalb also gelingt ihm dieses musikalische Kunststück?

Chuzpe sei Dank, macht Pants aus längst Dagewesenem etwas Eigenes. Er fremdelt ein bisschen in der Disco, sicher ist er Hypochonder. Den Funk fasst er nur mit der Pinzette an, legt ihn ein in Salzsäure. Seine Finger bedienen 3000 Tasten. Besser: Seine 3000 Finger bedienen Tasten. An Klavieren und alten Synthesizern, deren Klangspektrum er mannigfaltig zur Schau stellt. Immer wieder leiten geräuschhafte Brücken zum nächsten Stück über und erzählen noch eine kleine Geschichte. Solche Auslassungen in Miniaturform ziehen den Eingelullten in den Groove zurück.

Heute würde man Kubricks Barry Lyndon wohl einen Dandy nennen. Früher hätte es der Amerikaner Pants vielleicht zum Adelstitel Graf von Hose geschafft. Er ist ein wahrer Könner. Seine Musik ist so tanzbar und vielfältig, dass man sich gleich acht Füße wünscht, um sie Tentakeln gleich übers Tanzparkett zu wirbeln.

„Welcome“ von James Pants ist auf CD und LP erschienen bei Stones Throw/Groove Attack.

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Nassau funkt

Eine Lehrstunde in Clubmusikkunde: Auf den Bahamas entstanden in den frühen Achtzigern schrullige Disco-Stücke für New Yorks Tanzböden. Jetzt sind sie auf einer CD erschienen

Funky Nassau The Compass Point Story

Madonna und Andy Warhol tanzten zu diesem Klang. Wenn in den New Yorker Clubs in den frühen Achtzigern Grace Jones’ My Jamaican Guy oder Born Under Punches von den Talking Heads aufgelegt wurde, bebte der Tanzboden. Dass dieser Soundtrack zur Nacht in den gemütlichen Compass Point Studios auf den Bahamas produziert wurde, wussten nur wenige.

Lange gehörten sie zu den begehrtesten Aufnahmestudios weltweit. Wer genug hatte von polierten Holzfußböden und monströsen Mischpulten, der kam nach Nassau. Bands wie Roxy Music, AC/DC und die Rolling Stones ließen sich von der mediterranen Atmosphäre inspirieren und nahmen hier ihre besten Alben auf.

Neben solchen Rockalben entwickelte sich hier auch eine Spielart der Clubmusik, die die New Yorker Schickeria in Aufregung versetzte. Unter der Aufsicht des Studioleiters Chris Blackwell verknüpften die sogenannten Compass Point All-Stars Soul, Reggae, Rock, Disco und New Wave. Die schrulligen Kompositionen der Studioband machte an kaum einer musikalischen Grenze Halt. Solche Offenheit reizte viele Künstler, hier konnten sie sich neu erfinden und mit unterschiedlichen Stilen experimentieren.

Für den unverwechselbaren Klang der Studios sorgten neben der Band und den hauseigenen Tontechnikern die legendären Produzenten Sly & Robbie. Sie bedienten sich der Techniken des Dub, um den Stücken Tiefe zu verleihen. Das Ergebnis war häufig abseitig und exzentrisch klingende Diskomusik, die eigentlich zu schräg war für einen kommerziellen Erfolg. New Yorker DJs wie Larry Levan und François Kevorkian machten viele der bei Compass Point aufgenommen Stücke zu Hits.

Auf der Kompilation Funky Nassau kann man nun die musikalische Bandbreite und Experimentierfreude des Studios bestaunen. Wie wohltuend sie klingt, diese Entspanntheit im ansonsten so konventionellen Genre Disco. Gleich im zweiten Stück Genius Of Love von Tom Tom Club kommen die unterschiedlichen Einflüsse zu Gehör. Zu einem unwiderstehlichen Groove spielt der Zappa-Gitarrist Adrian Belew eine funkige Gitarre, mehrere Frauen hauchen und rappen die Namen ihrer musikalischen Helden: James Brown, Bob Marley, Kurtis Blow, Bootsy Collins.

Auf Funky Nassau treffen schwarze Musikkultur und der Art Rock nach Art David Bowies oder der Talking Heads aufeinander. Von Berührungsängsten ist keine Spur – ganz nach dem Motto „Who need to think when your feet just go?“. Die Stücke sprudeln vor Leichtigkeit, die kindlicher Albernheit oft nicht fern ist. Die Punk-Ikone Ian Dury wagte in den Compass Point Studios die Grenzüberschreitung und nahm Spasticus Autisticus auf. Das kontroverse Stück erschien 1981 anlässlich des Jahres der Menschen mit Behinderung, Dury warb darin sarkastisch für Toleranz, die BBC verbannte es aus ihrem Programm. Ob seines schwarzen Humors und der skurrilen Mischung aus Punk und Disco gehört Spasticus Autisticus zu den Höhepunkten der Zusammenstellung.

Dass Disco eine arg verschrobene Angelegenheit war, beweist auch You Rented A Space, das Robert Palmer mit der Trash-Queen Cristina aufgenommen hat. Zickigen Tanz-Punk spielten die Schotten Set The Tone ein. Beinahe klassische Disco-Stücke von Guy Cuevas und Gwen Guthrie sowie der experimentelle Dub von Sly & Robbie vervollständigen die Werkschau. Auch wenn sich einige der 13 Stücke in Schrulligkeit verlieren, ist Funky Nassau eine unterhaltsame Lehrstunde in Sachen Clubmusik.

„Funky Nassau – The Compass Point Story 80-86“ ist als CD erschienen bei Strut/Alive.

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Shakespeares Mittelfinger

Die Kompilation „Disco Not Disco“ fürchtet den Tanzboden. Opulente Streicher? Schmissige Rhythmen? Hinternwackeln? Fehlanzeige. Stattdessen gibt es aufregend Unentschlossenes aus den siebziger und achtziger Jahren.

Disco Not Disco

Sein oder Nichtsein? William Shakespeares Hamlet eröffnet mit dieser oft zitierten Frage einen Monolog, der vom entschlossenen Handeln und der Angst vor dem Tod handelt. Das war um 1600. Mehr als vierhundert Jahre später behandelt das Label Strut Records eine Variation des Themas: Disko, oder nicht Disko, das ist jetzt die Frage.

Disco Not Disco ist eine Kompilation, die von der Angst vor der Disko handelt. Hier sind keine opulenten Streicher zu hören, keine schmissigen Rhythmen. Getanzt wird auf der Klinge. Die Künstler bewegen sich zwischen Punk, Dub und Disko. Die Unentschlossenheit macht den Reiz der Stücke aus. Schmutz und Glamour stecken oft in einem Lied.

Vivien Goldman stimmt auf schrägem Rhythmus das Stück Launderette an. Es klingt etwas Reggae, eine verzerrte Violine, dazu singt sie eigenwillig. Hinternwackeln? Fehlanzeige. Delta 5 strecken einem den Mittelfinger ins Gesicht, Mind Your Own Business – kehr‘ gefälligst vor deiner eigenen Tür! Lärmend zersägen die Gitarren aufkommendes Wohlgefallen. Euphorie wird gleich gebremst. Im Groove zu sein, heißt gegen den Groove zu sein.

Keine der Bands klingt wie eine andere zuvor. Disco Not Disco dokumentiert nicht etwa eine musikalische Bewegung. Die Musik ist wild assoziiert und nennt sich wahlweise New Wave, No Wave, New York und No New York, Belgian New Beat und Detroit Machine Music. Ach, etwas Prog-Fusion-Jazz ist auch dabei.

Die Aufnahmen stammen aus den Jahren 1974 bis 1986, der britische DJ Bill Brewster hat sie zusammengestellt. Seine Vision: Was nicht passt, wird passend gemacht. Ihm gelingt es, die unterschiedlichen Stücke in einen Fluss zu bringen. Wird es für einen Moment hektisch, darf sich der Hörer im nächsten erholen. So endet das Album auf der Silent Street von Maximum Joy. Der entrückte Gesang führt zurück zum Beginn der CD, zu Vivien Goldman. Am besten hört man sie also gleich nochmal.

„Disco Not Disco“ ist als CD erschienen bei Strut/!K7/Cargo.

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Der Saiten-Fex gibt Bass

Hin und her geht es auf Marcus Millers Album „Free“: Neben prickelnden Jazzstandards und konzisem Funk stehen schlafmütziger Soul und enervierende Bass-Improvisationen

Marcus Miller Free

Natürlich kann man sich bei vielen Alben fragen, warum es sie überhaupt gibt. Was will uns diese Sängerin, jene Band mit ihrem Werk sagen? In der Regel finden sich Hörer, die diese Frage wenigstens für sich beantworten können. Solo-Alben von Schlagzeugern oder Bassisten verlangen nach besonderer Rechtfertigung. Gemeinhin gelten diese Musiker als Protagonisten der Begleitung, solistisches Auftrumpfen wird von ihnen nicht erwartet.

Marcus Miller ist Bassist, Miles Davis entdeckte ihn einst. Ihn scheren solche Vorurteile nicht. Seine CD Free ist rührend altmodisch geraten. Er nahm sich je eine Handvoll eigener und fremder Kompositionen und lud alte Freunde – den Saxofonisten David Sanborn, den Gitarristen Keb’ Mo’ – und neue Freundinnen wie die Soul-Sängerin Corinne Bailey Rae ins Studio ein. Er hatte dort das Sagen, die unterschiedlichen Bassgitarren, das Fender-Rhodes-Piano, die Hammond-Orgel und die Klarinette spielte er selbst. Im CD-Büchlein listet er die eingesetzten Instrumente penibel auf. Die elektrische Bassgitarre hält er für ein Solisten-Instrument wie die Gitarre und das Saxofon, sein Bassspiel verblüfft die Zuhörer mit Virtuosität und mitunter aberwitziger Geschwindigkeit.

Was soll man dagegen einwenden? Aus allen Ecken und Winkeln von Free slappt und poppt es. Marcus Miller wurde groß in einer Jazz-Szene, die vom Funk beeinflusst wurde. Es macht sogar Spaß, den Tricks des Saiten-Fexes zu folgen, immer wieder fragt man sich: Wie hat er das nun wieder gemacht?

Eines stört: Free ist ein Sammelsurium von Stilen. Es ist kein Jazz-Album, auch keine Pop-CD. Es will beides ein wenig sein, aber nicht so richtig. Seine eigenen Kompositionen – wenn man diese Ostinato-Abhandlungen so nennen will – basieren auf einem mehr oder weniger simplen Riff, das er durch Improvisationen variiert. Der eigentliche Bass bleibt im Hintergrund, mitunter wird er mit Hilfe eines Synthesizers erzeugt. Bei Pluck ist das so und bei Funk Joint. Das Stück Free hingegen ist ein veritabler R’n’B-Song, Corinne Bailey Rae singt sich unnachahmlich durch die Melismen. Aber stimmen hier Form und Inhalt? Kann man den Wunsch nach Freiheit

Den Gegenpol bietet Jean Pierre, eine Komposition von Miles Davis. Das Stück beginnt interessant, Marcus Miller spielt das unverwechselbare Thema auf seiner Bassgitarre, ein Wechselspiel von Bruchstücken des Themas zwischen tiefer und hoher Bassgitarre beginnt. In Rede und Gegenrede gibt es ein Improvisationsgeplänkel zwischen ihm und dem Mundharmonika-Spieler Gregoire Maret – das war es dann aber auch. Am Ende wird das Stück einfach ausgeblendet. Das anschließende Higher Ground von Stevie Wonder ist dann wieder konziser, es ist der Höhepunkt der CD.

Sicher, man staunt über Marcus Millers instrumentales Können, seinen rhythmischen Einfallsreichtum und seinen Sinn für Klanggestaltung. Doch man wünscht dem einen anderen Rahmen. Eine Band mit ähnlich kraftvollen Musikern, die ihm zeigen, dass ein Bassgitarrist durchaus auch einfach mal nur begleiten kann.

„Free“ von Marcus Miller ist erschienen bei Dreyfus Records/Soulfood Music.

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Tänze im Keller

Medeski, Martin & Wood begeistern junge Hörer mit Hammondorgel und pumpenden Rhythmen. Auf „Out Louder“ spielt der alte John Scofield Gitarre dazu.

Medeski Scofield Martin and Wood Out Louder

Vor knapp zehn Jahren nahmen der Gitarrist John Scofield und das Trio Medeski, Martin & Wood gemeinsam die Platte A Go Go auf. Nun kooperieren sie ein zweites Mal, Out Louder heißt das Ergebnis. Aufgenommen haben sie das Album im Studio des Trios, einem Keller in Brooklyn. Der Bassist Chris Wood berichtet, dass dies die Aufnahmen der Band ganz wesentlich beeinflusst habe, wie eine hungrige Garagenband seien sie sich vorgekommen. Hungrig nach neuen Klängen und Rhythmen, fesselnden Akkorden und Melodien.

Wie immer, wenn Medeski, Martin & Wood ins Studio gehen, spielte die Spontaneität eine wichtige Rolle. Sie kennen sich mit Jazz, Funk, Rock und Reggae aus, in jüngster Zeit wirkten der Schlagzeuger Billy Martin und der Keyboarder John Medeski auch auf verschiedenen New Yorker Avantgarde-Platten mit. Beim Musizieren mit dem Jazzgitarristen John Scofield wollten sie nun Stücke aufnehmen, die zum Tanzen animieren.

Ihr Publikum in Amerika ist sehr jung, es ist die zweite Generation einer Bewegung, die schon vor zehn Jahren große Erfolge feierte: Jam Band. Nicht der Musikkonsum aus der Konserve steht im Mittelpunkt, sondern die – manchmal stundenlange – Improvisation und das Dabeisein. Inspiriert ist die Bewegung von der Hippie-Band Grateful Dead.

Nun also Out Louder: Das Eröffnungsstück Little Walter Rides Again bedient sich eines Stücks des Chicagoer Bluesmundharmonikaspielers Little Walter, Miles Behind ist eine freie Quartettimprovisation, angelehnt an die elektrische Periode von John Scofields einstigem Bandchef Miles Davis. Kitschig klingen die beidem Cover-Versionen des Albums: John Lennons Julia und Peter Toshs Legalize It.

Im Gespräch betont John Medeski gerne den Unterschied zwischen Geschäft und Musik und die Notwendigkeit, beides zu bedienen. Out Louder klingt dennoch wenig kalkuliert. Selbst in den süßlichen und schlichten Passagen scheint noch die Radikalität durch, die diese Band für sich beansprucht. Nach einer langen Zusammenarbeit mit dem Jazzlabel Blue Note erschien das Album in den USA auf dem eigenen Label der Band, Indirecto Records. In Europa wird es nun durch die Universal Music Group veröffentlicht, ergänzt um eine Bonus-CD mit Live-Aufnahmen ihresletztjährigen Auftritts im Bowery Ballroom in New York City.

Einzigartig seien Medeski, Martin & Wood, sagt John Scofield. Und, ja, selten wirkt eine Band so glaubwürdig, die Unabhängigkeit tut ihr gut.

„Out Louder“ von Medeski Scofield Martin & Wood ist als Doppel-CD erschienen bei Emarcy/Universal

Lesen Sie hier das Interview, das Christian Broecking mit Medeski, Scofield, Martin & Wood geführt hat

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Nik Bärtsch: „Stoa“ (ECM 2006)

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Grobes Korn, aufgeweicht

Der Schweizer Pianist Nik Bärtsch verdichtet auf „Stoa“ winzige Motive zu einer rhythmisch packenden Musik – die im Dunstkreis seiner berühmten Plattenfirma leider unscharf wird

Cover Baertsch

Nein. Das kommt mir als Erstes in den Sinn. So mag ich das nicht. Ich mochte die Musik von Nik Bärtsch, wie er sie auf sechs in der Schweiz erschienenen Platten gespielt hat, eine kantige, körnige, durch und durch originelle Musik, die nicht nur das Publikum zum Staunen und oft genug zum Ausflippen bringt, sondern auch die Kritik mit hinreichend Stoff zur Versorgung der Texttriebwerke beliefert.

Und wie groß war die Freude, als Bärtsch, der in der Schweiz schon hinter jedem Berg gespielt hatte, nun in Deutschland entdeckt wurde, von einem Label mit Weltruf, wohl dem erfolgreichsten deutschen Jazz-Label überhaupt, von ECM. Aber in dieses Gefühl mischte sich gleich die Sorge, auch das Schweizer Präzisionsuhrgestein Bärtsch könne Schaden nehmen durch die alles überwölbende Klangvorstellung des ECM-Produzenten Manfred C. Eicher.

Und wenn ich mir nun Stoa anhöre, die erste Platte des Nik Bärtsch auf ECM, dann ist es so gekommen. Eicher hat seinen Hall drauf gemacht auf die felsige, schroffe, schikanös-repetitive Funk-Musik des Nik Bärtsch. Plötzlich stehen Schwaden über diesen Klangmassiven, verschwimmt sein heiliger japanischer Ernst, verbiegt sich unter Weichmacher eine Ästhetik, die bis dahin unnachgiebig stand, ein Monument zwischen der Minimal Music des Steve Reich und der Sexmaschine des James Brown.

Hinfjord damit! Als Musiker bei ECM, so scheint es, muss man eine Schäre im Kopf haben. Denn hier wallen und schwallen seit Jahrzehnten allzu viele Produktionen unter skandinavischem Nebel. Musik für behagliche Winterabende am Kamin. Es gab Ausnahmen, Aufnahmen, die hoffen ließen – so hätte auch Bärtsch eine Chance haben können.

Schade. Aber jetzt genug des Furors. Seine Musik ist immer noch da. Nicht mehr so gestochen scharf wie auf Rea, aber in ihren groben Umrissen durchaus zu erkennen. Manch ein Hörer, der sich durch den Münchner Dunst vortastet zur Härte des Bärtschen Kerns, wird erschrecken. Diese Musik ist kein Wohlfühl-Jazz und auch kein mathematisches Minimalpermutieren, und sie ist auch nicht hormonell-orgiastisch. Sie entwirft aus gnadenlos wiederholten Klavier-Bass-Schlagzeug-Motiven einen so kraftvollen, mitziehenden wie letztlich undurchdringlichen Schwung, dass man während eines Konzertes – zusätzlich angestachelt durch Perkussion und Bassklarinette – oft nur noch aufspringen und aufschreien kann. Mit der Haltung eines entfesselten Samurais führt der 35-jährige Pianist, Komponist und Japannarr Bärtsch seine Band Ronin wie sein Publikum durch nächtelange Konzerte, in denen alles und nichts geschieht.

Dieser beharrliche Schweizer hat die europäische Instrumentalmusik um völlig Unerwartetes bereichert. So darf, so wird diese Platte nicht sein letztes Wort sein.

Hören Sie hier „Modul 32“, von Nik Bärtschs neuer Platte „Stoa“, erschienen bei ECM.

Zum Vergleich: „Modul 23“ von „Rea“ aus dem Jahr 2004, erschienen bei TMR.

Und hier spricht Nik Bartsch über die Ritual-Groove-Musik und dann sein Publikum über ihn, befragt von Christian Broecking auf dem Zürcher Unerhört-Festival Ende November 2005.