Lesezeichen
 

16 Zeilen für 800 Dollar

Jean Grae führt auf ihrem dritten Album „Jeanius“ vor, wie kraftvoll HipHop heute noch klingen kann. Dabei hatte sie erst vor Kurzem frustriert das Mikrofon an den Nagel gehängt

Vor ein paar Wochen bot jemand auf der populären amerikanischen Internetseite Craigslist seine Dienste als Texter an: „Offensichtlich wurde schon wieder ein von mir nicht autorisiertes Album veröffentlicht. Wenn jeder Geld mit mir verdient, warum soll ich mich nicht direkt an die Leute wenden, die meine Musik lieben? Ihr habt Beats? Ich rappe 16 Zeilen für 800 Dollar!“ Steckte da jemand in Schwierigkeiten? Ja, das kann man wohl sagen. Die hier werbende Rapperin Jean Grae stolpert nämlich von einer Schwierigkeit in die nächste.

Geboren wurde sie als Tsidi Ibrahim 1976 in Kapstadt, ihre Eltern sind Jazzmusiker. Die Familie floh vor dem südafrikanischen Regime nach New York, dort kam Jean Grae mit der HipHop-Szene in Kontakt. Nach kurzer Mitgliedschaft in einer Band veröffentlichte sie im Jahr 2002 ihr viel versprechendes Soloalbum Attack of The Attacking Things.

Sechs Jahre sind seitdem vergangen. Sechs Jahre, in denen ihre Eloquenz, ihr Humor, ihre Wandlungsfähigkeit und ihre Kompromisslosigkeit unermüdlich gelobt wurden; in denen sie auf zahlreichen Alben anderer Rapper Gastauftritte hatte; in denen sie von ihren Anhängern und selbst von manchem Kritiker als bester MC schlechthin bezeichnet wurde. Allein, sie blieb den meisten eine Unbekannte – wohl auch, weil sie in der ganzen Zeit nur ein einziges reguläres Album veröffentlichte, This Week im Jahr 2004.

An Kreativität mangelte es ihr nicht, viel mehr an Kontrolle über ihr Werk. An einem Tag etwa wurden zwei ihrer Alben gleichzeitig unautorisiert im Internet verbreitet. Zwei weitere Alben brachte ihre Plattenfirma offiziell auf den Markt, allerdings ohne Jean Graes Zustimmung. Zuvor hatte sie ihre Probleme in ihren Stücken reflektiert und Zeilen wie diese getextet: „Not a thug, not a drugseller, not a gunshooter / Not a stripper, sex symbol or anything you’re used to / Marketing nightmare, I don’t fit into categories.“ Doch das ging ihr zu weit, im April 2008 kündigte sie ihren Rückzug aus dem Musikgeschäft an. Ihre Karriere schien beendet zu sein, ehe sie richtig begonnen hatte.

In den vergangenen Monaten hat sie offenbar neue Hoffnung geschöpft. Vor kurzem ist ihr Album Jeanius offiziell in den USA erschienen – es war eines der zuvor illegal verbreiteten. Die Importversion haben nun auch die einschlägigen Händler in Deutschland ins Programm genommen. Jean Grae führt auf Jeanius vor, welche Schlagkraft der HipHop heute noch entwickeln kann. Im autobiografischen My Story erzählt sie bildreich von einer Fehlgeburt, ihren Herzproblemen, einem Selbstmordversuch. Auch von einer Abtreibung berichtet sie. Im Interview sagt sie dazu: „Ich wollte, dass man als Hörer dabei ist. Im Raum. Schon bei der Anästhesie.“ – Oh ja, man ist dabei. In anderen Stücken beklagt sie die ermüdenden Sexismen des Genres, den schnöden Materialismus, die wie in Zement gegossenen Rollenklischees – und ist stets eine Geschichtenerzählerin, keine Predigerin oder Einpeitscherin. Die Klänge und Rhythmen des Albums ordnen sich ihrem individualistischen Konzept unter. Jeanius ist Kopfhörermusik mit humanistischer Prosa über die Widersinnigkeiten des Lebens.

Ist Jean Grae nun also ihre Probleme los? Wer das Video zur Single Love Thirst gesehen hat, kennt die Antwort. In Strapsen räkelt sie sich plump auf der Rückbank eines Taxis. Umgehend distanzierte sich Jean Grae davon; die Plattenfirma habe ihr dieses sexistische Video untergeschoben. Und neben Jeanius steht mittlerweile The Evil Jeanius in den Plattenläden, wiederum nicht von Jean Grae autorisiert. Ihre Reaktion darauf ist im ersten Absatz dieses Artikels nachzulesen.

„Jeanius“ von Jean Grae & 9th Wonder ist als CD und Doppel-LP bei Blacksmith erschienen und im Import erhältlich

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Q-Tip: „The Renaissance“ (Motown/Universal 2008)
The Streets: „Everything Is Borrowed“ (Warner Music 2008)
Everlast: „Love, War And The Ghost Of Whitey Ford“ (PIAS/Rough Trade 2008)
Roots Manuva: „Slime & Reason“ (Big Dada/Rough Trade 2008)
Stereo MCs: „Double Bubble“ (PIAS/Rough Trade 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Lebenszeichen eines Wattestäbchens

Einst prägte der Rapper Q-Tip den Klang von A Tribe Called Quest. Endlich erlebt er seine „Renaissance“: zurückgelehnt, elegant und näselnd wie eh und je

„Ich hasse HipHop. Außer A Tribe Called Quest.“

Freunde des HipHop haben diesen Satz oft gehört und sich geärgert. Gab es doch immer guten Rap, nicht nur von dieser Gruppe. Dennoch ist klar: Von ATCQ ging eine Magie aus. Etwas, dass das englische Wörtchen vibe so schön beschreibt. Die Stimmung, Atmosphäre oder Aura ihrer ersten drei Alben. Sie waren herausragend — auf der Oberfläche verschieden, im Kern wie eins. ATCQ schlugen Brücken, machten schwer Vermittelbares zu Konsens. Sie brachen mit dem harten Ghetto-Rap, in ihren Texten ging es friedlich zu.

Das hört man schon am Namen des Bandleaders Q-Tip: Watte statt Waffe. Sie zerschnitten Jazz, Disco, Soul und legten Neues darüber. Das Ergebnis ging sanft in die Ohren und Hüften. Für’s Gehirn gab es geistreiche Texte – der Testosteron-Haushalt des Hörers blieb auf Normalwert. Ihre Leichtigkeit fand Millionen Hörer. 1998 lösten sie sich auf. Ihre Musik war noch gut, doch der vibe verloren gegangen. Er lässt sich nicht nachbauen – er ist da, oder eben nicht.

Zeit für ein Solo. Ein Jahr nach der Trennung veröffentlichte Q-Tip sein Einzeldebüt Amplified und machte etwas anderes. Düster geriet, was er und der Produzent J Dilla schufen – scharfkantige Beats, Höhen und Bässe, keine Mitte. Kein vibe-of-the-tribe, sondern ein Album von Künstlern, die sich nicht reproduzieren mögen. Mit solchen kennt die Musikindustrie keine Gnade. Nachfolger von Amplified wurden angekündigt aber nie veröffentlicht. Q-Tips Plattenbosse sahen in ihm kein Potenzial. Aus dem Brückenbauer wurde ein Risikofaktor. Bootlegs hielten die treuesten Fans auf dem Laufenden. Bald zehn Jahre ist es her, dass ein Lebenszeichen des Wattestäbchens erklungen ist.

Nun endlich. Und gleich der Titel lässt verlauten, worum es geht: Q-Tip beschwört The Renaissance. Denn HipHopper denken in Epochen: Old School, New School, Next School. Dabei ist diese Musikrichtung gerade erst den Zwanzigern entwachsen! Die Wiedergeburt altertümlicher Kultur in ihrem Einfluss auf die Moderne – das käme ihm zupass, dem Rapper der alten Schule. Nur klingen diese Worte nach Dinosaurierpark, hören wir lieber die Musik.

Sie ist frisch, sie swingt, und sie erinnert an den HipHop der frühen Neunziger. Seien wir ehrlich, sie klingt nach A Tribe Called Quest. Bei Won’t Trade spielt uns ein Piano schwindelig, der Rhythmus macht süchtig. Einmal wirft der Jazzgitarrist Kurt Rosenwinkle entfremdete Tupfer dahin, die den Rhythmus frei interpretieren und verschieben. We Fight/We Love ist so ein Stück, das zeigt: Im Zusammenspiel aus Gegenläufigem entsteht Vielschichtigkeit. Und die Aura des Zurückgelehnten verleiht Eleganz.

Der Gastsänger Raphael Saadiq setzt glasklare Töne gegen Q-Tips Näseln. Der darf sich nie die Polypen entfernen lassen, sonst verliert seine Stimme das Besondere. Norah Jones steht bisweilen knietief im Milchschaum. Im Stück Life Is Better singt sie über einen harten Funkbeat und zieht einen Fuß heraus. Q-Tip positioniert seine prominenten Gäste gezielt. Jürgen Klinsmann würde das eine Win-Win-Situation nennen.

Die Renaissance ist also keine verkrampfte Zusammenkunft der alten Garde. Sie lebt von ihren Stärken, klingt dicht und dabei leicht. Wen stört, dass sie aus der Zeit gefallen ist? Nennen wir es gelungenen Konservatismus.

„The Renaissance“ von Q-Tip ist als CD, Doppel-LP und Download bei Motown Universal erschienen

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
The Streets: „Everything Is Borrowed“ (Warner Music 2008)
Everlast: „Love, War And The Ghost Of Whitey Ford“ (PIAS/Rough Trade 2008)
Roots Manuva: „Slime & Reason“ (Big Dada/Rough Trade 2008)
Stereo MCs: „Double Bubble“ (PIAS/Rough Trade 2008)
Guilty Simpson: „Ode To The Ghetto“ (Stones Throw/Groove Attack 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Zu Fuß durch halb Europa

Der britische Rapper Mike Skinner alias The Streets war kürzlich etwas außer Form. Mit “Everything Is Borrowed” ist er zur Besinnung gekommen – und plappert gut gelaunt vor sich hin

The Streets Everything Is Borrowed

Mike Skinner ist dann mal weg. Auf der Hülle seiner neuen Platte Everything Is Borrowed ist er schon nicht mehr zu sehen. Das Büchlein zur CD kann man noch so oft durchblättern: Der Mann, der sich The Streets nennt, hat sich dünne gemacht. Stattdessen sind Bilder von Steinwüsten und Schneeschmelze zu sehen.

Seine Flucht ist verständlich. Auf dem Vorgängeralbum The Hardest Way To Make An Easy Living hatte sich Skinner an einem Psychogramm über die Last der Prominenz versucht. Die Platte klang angestrengt und zynisch, Skinners Ideen waren allenfalls passabel. Er schien sich nur um sich selbst zu drehen. Statt über Fish & Chips und verunglückte Liebschaften rappte er nun über Religion und Amerika. Ausgerechnet er, der mit seiner ersten Platte Original Pirate Material im Jahr 2002 das Geplapper der britischen Vorstadtjugend zur Kunstform erhoben hatte. The Streets steckten in einer Einbahnstraße.

Groß ist daher das Glücksgefühl, dass sich mit dem ersten Tönen von Everything Is Borrowed einstellt. Alles scheint wieder an seinem richtigen Platz zu sein. Auch das Geplapper funktioniert wieder einwandfrei. Mike Skinner ist in Hochform, The Streets kriegen noch mal die Kurve. Knappe vier Minuten dauert es, da knallt der erste Hit aus den Lautsprechern: „I wanna go to heaven for the weather and hell for the company“, jauchzt der Chor.

Everything Is Borrowed ist Mike Skinners reifste Platte. Dass der 29-jährige Rapper aus Birmingham einst als Hoffnungsträger der britischen Garage- und Grime-Szene galt, lässt sich kaum noch erahnen. Von den monströsen Bassläufen und hektischen Breakbeats des genialen Debütalbums ist nichts mehr zu hören. Nur vereinzelt bäumt sich der Rhythmus auf, schlägt die Rotzigkeit der frühen Tage durch. Skinner bringt echte Instrumente zum Klingen, ein Klavier, Bläser, eine Mandoline und eine Hammondorgel, bei vielen Stücken ist er selbst an der Gitarre zu hören. Auch das Orchester kommt diesmal nicht aus dem Laptop, sondern aus Prag. Der Aufwand macht sich bezahlt: Zum ersten Mal klingen The Streets nicht wie ein Ein-Mann-Projekt, sondern wie eine Band. Mike Skinner und seine Musiker spielen lässigen Swing und Jazz-Funk, als hätten sie nie etwas anderes getan. Auf The Strongest Person I Know singt er sogar gewohnt ungelenk zur Harfe. Das kammermusikalische Liebeslied gehört zu den Höhepunkten der Platte.

Als seien Unsicherheit und Paranoia über Nacht von ihm abgefallen, rappt Skinner Zeilen wie „I came to this world with nothing / And I leave with nothing but love“. Das klingt fast ein bisschen altersmilde, aber er hat einfach nur sehr gute Laune. Selbst wenn er wie auf Way Of The Dodo über die Klimaerwärmung rappt, kann er sich die Albernheiten nicht verkneifen. Aufgeräumt und entspannt klingt die Platte. Auffällig ist vor allem, wie sehr sich Skinner zurückhält. Oft überlässt er dem Chor oder seinen Gastsängern den Vortritt. Als hätte es nicht mehr nötig sich in den Vordergrund zu drängeln, konzentriert er sich auf das Erzählen der Geschichten. Und die handeln diesmal nicht von Abstürzen, Einsamkeit und falschen Freunden. Auf Everything Is Borrowed kommt Mike Skinner zur Besinnung. Es ist ein Album der inneren Einkehr geworden.

An keiner Stelle wird dies so deutlich wie im letzten Stück der Platte. Den großen Abspann beherrscht er perfekt: The Escapist ist ein epischer Kreuzgang, ein wahrer Befreiungsschlag. Der Gospelchor schmettert, das Orchester schwelgt in luftigen Höhen. Dazu rappt Skinner einen seiner besten Texte: „I’m not trapped in a box, I’m glancing at rocks / I am dancing off docks / Since this dance began / Thats where I am“. Im Video läuft Mike Skinner zu Fuß durch halb Europa. Auf dem Weg zu sich selbst, aber dabei schon ganz weit weg. Seine nächste Platte solle die letzte sein, sagt er.

„Everything Is Borrowed“ von The Streets ist bei Warner Music erschienen.

Mehr zum Album hören Sie am Freitag, den 26. September, von 14 bis 16 Uhr in der Sendung „Neuland“ auf ByteFM. Hier öffnen Sie den Livestream »

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Everlast: „Love, War And The Ghost Of Whitey Ford“ (PIAS/Rough Trade 2008)
Roots Manuva: „Slime & Reason“ (Big Dada/Rough Trade 2008)
Stereo MCs: „Double Bubble“ (PIAS/Rough Trade 2008)
Guilty Simpson: „Ode To The Ghetto“ (Stones Throw/Groove Attack 2008)
„An England Story“ (Soul Jazz Records/Indigo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Anstand von vorgestern

Der Rapper Everlast spricht häufig von Ehre und Identität. Vor lauter Klagen über die bösen Kollegen ist sein neues Album „Love, War And The Ghost Of Whitey Ford“ so richtig in die Hose gegangen

Everlast ist ein Mann der großen Worte. Sätze wie „Wenn du keine Ehre hast, besitzt du gar nichts mehr“, kommen ihm ganz selbstverständlich über die Lippen. Und Everlast ist unzufrieden mit dem Stand der Dinge im HipHop. Es mangele den Rappern an Ehre, Anstand, dem Genre an Identität, sagte er vor einiger Zeit. Ob er es besser kann als all die anderen? Sein neues Album Love, War And The Ghost Of Whitey Ford gibt Aufschluss darüber.

Aus Neros brennendem Rom schallen schmissige Fanfaren herüber, ein Knall, dann geht es richtig los. Erik Schrody alias Everlast meldet sich kehlig zu Wort und rappt über einen Beat, der beinahe so alt klingt wie die Tröten zuvor. Welches Jahr tönt hier? 1990? 1991? Oder 1992? Uralt jedenfalls. Der Beat scheint aus einer Zeit zu stammen, als es im HipHop noch um Anstand und Untergrund ging und nicht um Goldkettchen, Mädchen und Diamanten. Auf diesen züchtigen Rhythmus reimt Everlast eine Lyrik, die ebenfalls historisch anmutet. Er beschimpft – disst – die New York Times und CNN, das mufft nach Hardcore-HipHop alter Tage.

In der Folge entfaltet sich das bislang größte Rap-Desaster des Jahres 2008. Schon im nächsten Stück versucht sich Everlast an Johnny Cashs Folson Prison Blues, dem er das alte Quietsch-Sample seiner früheren Band House Of Pain implantiert. Außer jenem Selbstzitat und überfetteten Beats weiß er nichts hinzuzufügen. Auch der Rest des Albums ist eine Enttäuschung: Stone In My Hand verschwurbelt Westernrock mit The Clash und Pathos – hier wird deutlich, wie wenig Strahlkraft Everlasts Stimme hat.

Wie schon früher singt Everlast aus der Sicht eines gewissen Whitey Ford. „Whitey Ford ist eine Beschreibung, eine Farbe einer Kreide, eine Person, durch die ich sprechen kann. Sie erlaubt mir, Dinge über mich zu sagen, die ich sonst vielleicht nicht sagen würde“, beschreibt er die Figur. Genau da liegt das Problem: Auf seinem neuerlichen Parforceritt durch die Stile, durch Soul, Elektrofunk, Blues, HipHop, Folk, Orientalismen, Western und Rock bleibt der Künstler auf der Strecke.

Einigermaßen erträglich sind immerhin jene Stücke, in denen Everlast sich zurückhält. Friend etwa ist ein solches Lied. Aus ein paar Klampfenakkorden formt er etwas, das viel stärker klingt als die überladenen Klangkaskaden anderer Stücke. Nichts als Dunkelheit habe er im Herzen, singt er. Und das Bedröppelte steht ihm besser als die Wut. Dem traurigen Lagerfeuer-Gitarristen Everlast hört man gern zu, der wütende HipHopper Everlast hingegen klingt nach Vorgestern. Da mag er noch so viel Anstand und Ehre in sich tragen.

„Love, War And The Ghost Of Whitey Ford“ von Everlast ist bei PIAS/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Roots Manuva: Slime & Reason (Big Dada/Rough Trade 2008)
Stereo MCs: „Double Bubble“ (PIAS/Rough Trade 2008)
Guilty Simpson: „Ode To The Ghetto“ (Stones Throw/Groove Attack 2008)
„An England Story“ (Soul Jazz Records/Indigo 2008)
Buck 65: „Situation“ (Warner 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Ein Reim am Ende des Tunnels

Der britische Rapper Roots Manuva ist in den vergangenen Jahren in Vergessenheit geraten. Selbst in der U-Bahn wird er nicht mehr erkannt. „Slime & Reason“ könnte das nun ändern

Roots Manuva Slime & Reason

„Ey du da – hast du mal ein paar Pennies für mich? Meine Frau kriegt ’n Baby und ich muss echt dringend ins Krankenhaus.“

„Klar.“

„Hey Mann, kenn ich dich nicht irgendwoher?“

„Bruder, ich bin auf dieser Insel der erfolgreichste Rapper.“

„Willst du mich verarschen, Opa? Dizzee Rascal und Kano sind die erfolgreichsten Rapper! Wie heißt du denn?“

„Roots Manuva, Bruder. Du kannst mich Rodney nennen, oder einfach Roots. Und ich geb‘ zu, dass meine Erfolge etwas zurückliegen.“

„Roots Malawi? Nie gehört, Mann. Was machst du hier überhaupt in der Londoner U-Bahn? Ich dachte, Rapper fahren dicke Schlitten. Gib mir mal ’ne Kippe und erzähl, machst du noch Musik?“

„Stell erstmal das Gedudel von deinem Handy ab, das macht mich verrückt! OK. Ist zwar schon sieben Jahre her, aber du kennst bestimmt meinen Hit Witness [Er singt] ‚Witness the fitness, the Cruffiton liveth, one hope, one quest.'“

„Der ist von dir? Nicht schlecht…“

„Danke Bruder. Danach ging’s leider bergab mit den Erfolgen. Ich hab‘ ein paar Alben gemacht, hatte auch immer ’ne Menge Fans, so kam immerhin genug bei rum.“

„OK, und warum fährst du dann U-Bahn?“

„Naja, weißt du, der Luxus lähmt einen, mir ist da einiges zu Kopf gestiegen. Ich hab‘ gerade eine neue Platte aufgenommen und bin immer mit der Bahn ins Studio gefahren, hab‘ mich um alles selbst gekümmert. Ich sag dir, Bruder, das hat meiner Musik gut getan.“

„Muss dann ja eine Wahnsinnsscheibe geworden sein…?“

„Um ehrlich zu sein: War nicht einfach, die Platte zu machen. Es hat sich viel getan im britischen HipHop. Es gibt jetzt Grime und Dubstep. Die haben alle bei mir geklaut, aber das wäre albern, würd‘ ich jetzt auf diese flotten Beats reimen. Ich hab‘ einfach angefangen, wieder meine ganz eigene Musik zu machen und viele grüne Stücke aufzunehmen.“

„Grüne Stücke? Spinnst du?“

„Nein, ich bin doch Synästhet. Unspektakuläre Lieder hab‘ ich gemacht, die sich nicht aufdrängen und bei jedem Hören wachsen. Mit alten Synthesizern und jeder Menge Gesang. Hör’s dir an, Mann, das ist HipHop, der wie eine Plattform funktioniert. Ich hab‘ mich gefühlt wie früher bei den Parties unserer Soundsystems, da wurde echt alles gespielt und gemixt. Da ging es nicht um Abgrenzung, sondern um Offenheit, wir haben zu Reggae, HipHop, Calypso und Rock’n’Roll getanzt.“

„Machst du etwa Weltmusik, Mann?“

„Nix da. Obwohl, Großbritannien ist ja voll von kulturellen Einflüssen. Ich denke, die Leute halten meine Musik genau deshalb für britisch, weil sie offen ist.“

[Roots Manuva holt eine Thermoskanne und zwei Plastikbecher hervor] – „Willst du ’nen Kaffee, Bruder?“

„Ja, Mann, danke. Erzähl weiter!“

„Musst du nicht ins Krankenhaus? Zu deiner Frau?“

„Stimmt, ich muss hier aussteigen!“

„Du bist ein schlechter Lügner.“

„Und du bist wohl ein guter Musiker. Ich kauf mir gleich dein neues Album – wie heißt du noch? Roots Ma…?“

„…NUUUUVA!“

„Slime & Reason“ von Roots Manuva ist als CD und Doppel-LP bei Big Dada/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Stereo MCs: „Double Bubble“ (PIAS/Rough Trade 2008)
Guilty Simpson: „Ode To The Ghetto“ (Stones Throw/Groove Attack 2008)
„An England Story“ (Soul Jazz Records/Indigo 2008)
Buck 65: „Situation“ (Warner 2008)
Missill: „Targets“ (Discograph/Rough Trade 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Hits aus der Hosentasche

Die Stereo MCs aus London wissen auch jenseits der 40 noch ganz genau, wie man Tanzbodenfüller spielt, die mehr sind als die Begleitmusik einer langen Nacht.

Stereo MCs Double Bubble

Die Älteren werden sich wohl gerne erinnern. Im Jahr 1989 erschien 33 45 78, Debüt der Stereo MCs aus London. Das Album krachte wie ein glühender Meteorit in die US-amerikanisch dominierte Welt des HipHop. Was die Engländer unter der Leitung des Rappers Rob Birch und des Produzenten und DJs Nick Hallam alias »The Head« auf diesem Debüt anstellten, war genial: So funky, so soulig, so melodiös und ohrwurmig klang HipHop bis dahin selten. Und selten fand eine HipHop-Single so schnell ihren Weg in die Hitparade wie vier Jahre darauf ihr Connected.

Zwei weitere Alben – Supernatural und Connected – erschienen, darauf befanden sich Klassiker wie Elevate My Mind und Step It Up. Dann legte die Band eine Pause ein, die schließlich neun Jahre dauern sollte. Erst im Jahr 2001 folgte Deep Down & Dirty – und auch danach mussten die Anhänger wieder warten, warten, warten. Vor drei Jahren erschien Paradise auf dem Label der Band, Grafitti Recordings. „Es ist wie ein Eigengewächs, das wir unabhängig von Mainstream-Mechanismen in den eigenen Wänden mit neuer Energie hochgezogen haben“, sagte die Band damals über das Album.

Was für Paradise galt, gilt auch für das neue, sechste Album der Stereo MCs Double Bubble. Sie lassen sich kaum von popmusikalischen Moden beeinflussen, noch immer splittern klassische Funk-Riffs durch die treibenden Rhythmen, noch immer erzeugt Rob Birchs Sprechgesang eine Gänsehaut, noch immer gelingt es der Band mit ihrer originären Mischung aus Downbeat, Reggae, House, HipHop, Bläser-Funk und Soul tiefgründige Stücke zu basteln. Ihr Flickenteppich elektronischer Musikstile klingt auch auf Double Bubble oft unheimlich und surreal.

Mit Get On It geht es los. Sofort fällt auf, dass die Stereo MCs anno 2008 härter und technoider klingen. Bei allem Lob der jungen Bands, diese Typen jenseits der 40 wissen, wie man Tanzflächenfüller spielt, die mehr sind als die Begleitmusik einer langen Nacht. Solche Hits springen den Stereo MCs seit 20 Jahren lässig aus der Hosentasche.

In den Kalender eintragen sollte man sich schon jetzt die kommenden Live-Termine der Band. Denn euphorisierender als die Stereo MCs bringt kaum ein Elektronik-Künstler seine Musik auf die Bühne. Dagegen wirken die angesagten Bratz’n’Roll-Elektroniker Justice oder Digitalism wie tapsige Meerschweinchen mit Neon-Stirnband.

»Double Bubble« von den Stereo MCs ist als Doppel-CD und Doppel-LP bei PIAS/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Guilty Simpson: »Ode To The Ghetto« (Stones Throw/Groove Attack 2008)
»An England Story« (Soul Jazz Records/Indigo 2008)
Buck 65: »Situation« (Warner 2008)
Missill: »Targets« (Discograph/Rough Trade 2008)
Percee P: »Perseverance« (Stones Throw 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Ein Bär gibt den Halunken

Guilty Simpson aus Detroit haucht dem amerikanischen Gangsta-Rap neues Leben ein. Wuchtig kommen seine Reime daher, im Hintergrund sorgt der Produzent Madlib für eine beeindruckende Geräuschkulisse.

Guilty Simpson Ode To The Ghetto

Während der deutsche Gangsta-Rap erblüht, hängen die amerikanischen Reimer angezählt in der Ringecke. 50 Cent verkauft weniger Platten als zuvor, der Pionier Dr. Dre bekommt seit Jahren kein Album fertig. Haben die Amerikaner genug von der Schießwut und dem martialischem Gestus? Oder sind die Anhänger von früher heute einfach zu alt? Hört man 50 Cents Album Curtis, offenbart sich auch eine kreative Krise: Es fehlt der Schwung, der spielerische Umgang mit der Musik. Diesem reimenden Roboter kauft man den Halunken nicht ab.

Andere können es doch noch: Richtig guten Gangsta-Rap bringen nun ausgerechnet die Freigeister des kleinen Labels Stones Throw aus Los Angeles auf die Plattenteller. Sie lieben die Musik, um Schubladen scheren sie sich nicht. Und sie haben ein Herz für Gangsta-Rap – als Kunstform selbstverständlich.

Guilty Simpsons Reime kommen daher wie Schläge einer Bärenpranke, behäbig und wuchtig. Zur Partyrakete taugt er nicht, dafür ist sein Vortrag zu monoton. Er berichtet auf Ode To The Ghetto vom Leben in Detroit, von Kriminalität und verworrenen Frauengeschichten. Seine Worte verwandeln sich zu Bildern, er ist ein hervorragender Erzähler. Jeder Anflug von Tristesse wird von der aufwühlenden Produktion unterbunden: Madlib wirft mit Bollywood-Samples um sich, sein Bruder Oh No würzt das Titelstück mit türkischem Funk. Synthesizer dröhnen düster, und Klangwelten kollidieren. Es ist einiges los im Hintergrund. Guilty Simpson plappert unbeeindruckt über diese Geräuschkulisse.

Gegen Langeweile ist der Hörer auch hier nicht gefeit, manches Mal sind sich Rap und Musik zu einig. Kraft schöpft Ode To The Ghetto aus seinen Gegensätzen. In den besten Momenten dringt eine surreale Bedrohung aus den Lautsprechern, sorgt das Widersprüchliche für ein Gefühl der Beklemmung. Die Menschen von Stones Throw haben recht: Gangsta-Rap ist eine Kunstform – fast hätten wir’s vergessen.

„Ode To The Ghetto“ von Guilty Simpson ist als CD und LP bei Stones Throw/Groove Attack erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
„An England Story“ (Soul Jazz Records/Indigo 2008)
Buck 65: „Situation“ (Warner 2008)
Missill: „Targets“ (Discograph/Rough Trade 2008)
Percee P: „Perseverance“ (Stones Throw 2007)
Common: „Finding Forever“ (Geffen/Universal 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Ein Liter Schwarzer Atlantik

Seit 25 Jahren rappen britische MCs über karibische Rhythmen. „An England Story“ resümiert die vom Kolonialismus geprägte Geschichte des HipHop im Vereinigten Königreich.

Soul Jazz England Story

Die Menschen bei Soul Jazz Records müssen riesige Ohren haben. Im Londoner Viertel Soho sitzen sie vor Plattenspielern und hören sich täglich durch hohe Stapel verkratzter Vinylscheiben, gefunden in Kellern, billig erstanden auf Flohmärkten, für viel Geld beim Sammler gekauft. Welche Namen man der Musik gegeben hat, ist ihnen gleich, ebenso, auf welchem Kontinent und in welchem Jahrzehnt sie aufgenommen wurde. Die Menschen bei Soul Jazz Records in Soho hören einfach alles.

Sie tun das nicht für sich, sie wollen Geschichten erzählen, Geschichte erzählen. Immer wenn sie zehn, zwanzig tolle Stücke in einer Schublade gesammelt haben, bringen sie eine Platte raus und verkaufen sie zu einem guten Preis. In ihrem Plattenladen Sounds Of The Universe in der Broadwick Street und bei Honest Jon’s in der Portobello Road kosten die CDs und Doppel-LPs rund zehn Pfund, so günstig bekommt man sie in Deutschland nicht.

Freilich, die Kompilationen von Soul Jazz Records sind sehr speziell. Ganze Serien entstehen, die sich mit winzigen Bereichen der populären Musik auseinandersetzen. Mehrere Alben führten in den New York Noise der Jahre 1977 bis 1984 ein. Funk ist nicht gleich Funk, sondern Philadelphia Funk, New Orleans Funk oder Jamaica Funk. Und so ist das bei jedem Genre: Ort und Zeit spielen eine große Rolle. Doch das Spezielle dient hier nicht der Abgrenzung, sondern der Verbreitung von Wissen über Musik und der Vermittlung eines Gefühls für die Geschichte der Musik. Diese Alben wollen sie erzählen, deshalb sind in den Hüllen kluge Texte über die Hintergründe der Aufnahmen abgedruckt. Man erfährt etwas über das Genre, über die Künstler und die Lieder.

Seit beinahe zwanzig Jahren verfolgen die Menschen bei Soul Jazz Records ihre Mission, rund 180 Zusammenstellungen sind in dieser Zeit entstanden. Anfangs waren darauf vor allem Reggae und Ska, Soul, Funk und Jazz zu hören, mittlerweile widmen sie sich auch dem Post-Punk und dem Disco, dem HipHop und dem Gospel, afro-kubanischen Klängen oder der brasilianischen Tropicália. Kürzlich erschienen sechs LPs mit aktuellem Dubstep.

An England Story nennt sich das neue Werk, The Culture Of The MC In The UK 1984 – 2008 ist sein Untertitel. Es geht um den Master of Ceremonies – denjenigen also, der wortgewaltiges Geplapper zu Rhythmen und Klangschnipseln vorträgt. Es geht um britischen HipHop. Fälschlicherweise, so wird in der Hülle erläutert, werde dieser häufig als Form des in Amerika beheimateten Rap betrachtet. Dabei habe der jamaikanische Reggae einen wesentlich stärkeren Einfluss gehabt. Schwarze Musik in Großbritannien habe sich anders entwickelt als die in Amerika oder Afrika, vor allem wegen der ehemals kolonialen Beziehung des Königreichs in die Karibik.

In Anlehnung an die Theorie des Black Atlantic, im Jahr 1992 von dem Kulturwissenschaftler Paul Gilroy ersonnen, geht es auf An England Story nicht darum, die Lieder der Unterdrückten wieder zu singen, die Lieder von Jamaikanern in England. Stattdessen wird die Untrennbarkeit kultureller Einflüsse vor Ohren geführt. Gilroy fand das Bild des Schwarzen Atlantik um die durch Sklaverei und Kolonialisation beeinflusste kulturelle Produktion zu beschreiben. Sklaven und Kolonialherren befuhren den Atlantik mit ihren Schiffen in die eine Richtung, Rückkehrer, Intellektuelle und andere karibische Emigranten in die andere. Der in England praktizierte HipHop ist folglich keine berechenbare Mischung aus britischer und jamaikanischer Kultur, er ist ein Produkt der untrennbar verwobenen und sich fortsetzenden Geschichten Großbritanniens und der Karibik. An England Story – ein Liter Wasser aus dem Black Atlantic.

In den Siebzigern tönten in England überall jamaikanische Soundsystems, in den frühen Achtzigern begannen MCs, den Reggae zu Bereimen. MCs wie Papa Levi und Jah Screechy erzählten in flotter Mundart von ihrem Alltag als Fremde im eigenen Land. Ihre Bässe saßen tief, sie hatten wenig gemein mit den scheppernden Rhythmen aus der New Yorker Bronx. Und was dort rappen hieß, wurde in England meist MCing genannt. Das Genre wurde vielgestaltiger, die Rhythmen komplexer, mal schneller, dann wieder langsamer. Jamaica wurde zum Stil. MCs gaben sich karibische Fantasienamen und kopierten den Zungenschlag der Soundsystems.

Etliche Spielarten des britischen HipHop sind auf An England Story zu hören, hier das luftige Complain Neighbour von Tippa Irie, dort der hektisch flirrende Bass von Jakes & TCs Deep, hier das schwerfällige So You Want More von Ty & Roots Manuva, dort Suncycles soulig treibendes Somebody. Das Album erzählt kurzweilig und kenntnisreich die fünfundzwanzigjährige Geschichte des britischen HipHop. Große Namen sind für diese Geschichte nicht so wichtig, hier geht es um die Meilensteine der Entwicklung des Sprechgesangs, von Dancehall über Jungle und Garage hin zu Grime und Dubstep.

Dies alles auf vermeintliche kulturelle Wurzeln zurückführen ist sinnlos, auch das lehrt diese Zusammenstellung. Nicht einmal auf den fremden Klang der Namen Roots Manuva und Tippa Irie kann man sich verlassen: Bürgerlich heißen sie Rodney Smith und Anthony Henry.

„An England Story“ ist auf Doppel-CD sowie zwei Doppel-LPs bei Soul Jazz Records/Indigo erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie HIPHOP
Buck 65: „Situation“ (Warner 2008)
Missill: „Targets“ (Discograph/Rough Trade 2008)
Percee P: „Perseverance“ (Stones Throw 2007)
Common: „Finding Forever“ (Geffen/Universal 2007)
Wiley: „Playtime Is Over“ (Ninja Tune/Rough Trade 2007)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik