Lesezeichen
 

Sägewerkpunks im Bibelgürtel

Huch, was ist das? Trompeten und Posaunen? Cursive haben das Cello in den Schrank gestellt und mischen auf „Happy Hollow“ Blechbläser in ihre verschrobene Gitarrenmusik. Ein wenig abenteuerlich klingt das schon

Cover Cursive

Ein Holzfällerhemd, Dreitagebart, nachlässig geschnittenes Haar, ein gewitztes Grinsen. Tim Kasher ist kein Hochglanzrocker, eher Sägewerkpunk. Seit zehn Jahren erfreut er mit seiner Band Cursive aus dem US-Bundesstaat Nebraska Liebhaber trauriger, dissonanter Lieder. Ein introspektives, zynisches Konzeptalbum widmete er der Misere seiner Scheidung. Auf der letzten Platte The Ugly Organ verarbeitete er die Probleme, die die Bekanntheit als Popstar mit sich bringt.

Von Tim Kashers Selbstkasteiungen ist auf Cursives neuem Album Happy Hollow nichts zu hören. Seine Texte nehmen sich dieses Mal die ländliche Tristesse des Bibelgürtels vor, die Staaten von Nebraska bis Virginia. Im ersten Stück Opening the Hymnal heißt es nun: „Welcome one and welcome all to our small town“. Sie unternehmen einen Rundgang durch diese amerikanische Kleinstadt, führen uns in Hinterhöfe, Schlafzimmer, Fabriken und Kirchen, zeigen uns die zerbrochenen Träume der Einwohner. Die von Dorothy zum Beispiel, die darauf wartet, dass ein Wirbelsturm ihr Haus einfach davonträgt in die Smaragdstadt, in der alles besser wird – ähnlich wie in dem Buch Der Zauberer von Oz.

Das Landleben Amerikas wird nicht glorifiziert, nicht die endlosen Weiten der Felder, der klare Sternenhimmel und der alte rote Pick-Up romantisch verklärt. Cursive erzählen von der Hoffnungslosigkeit, der religiösen Bigotterie und anderen Schrecken, die sich jenseits der Millionenstädte finden. Das verpacken sie in verschrobenen Rock. Aus den Gitarren brechen windschiefe Töne hervor. Laut und ungehalten, treibend und dissonant, umtanzen sie Tim Kashers gepressten, labilen Gesang.

Ein bestimmendes Element der letzten Alben fehlt, das Cello. Es verlieh den Liedern Eindringlichkeit. Ein großer Verlust. Doch was klingt da zwischendrin? Das sind Blechbläser! Ein Ensemble aus Saxofon, Trompete und Posaune schnarrt und quietscht wie ein manischer Spielmannszug. Die Einsätze sind rhythmisch und perkussiv und fahren Weckrufen gleich durch die Holzhäuschen von Happy Hollow, die sich auf der Albumhülle in Sepia ducken zwischen dörrendem Gestrüpp. Ehe Kasher allen Einwohnern „This City is killing us“ in die Gesichter brüllt. Die Kombination aus verzerrten Gitarren und Blechgebläse klingt bisweilen ein wenig abenteuerlich, stellenweise sogar anstrengend.

Was im Vergleich zu früheren Aufnahmen auch fehlt, ist das Dräuende, Mystische – das, was Cursive auf The Ugly Organ auszeichnete. Das liegt an der zuweilen fahrigen Struktur der Lieder. Hier klingt ein wenig rauchiger Stampfblues durch, wie in Dorothy Dreams Of Tornados, dort Gospel in Retreat!, aber selten zeigt sich die schroffe Gitarrenmusik, die so orchestral und schaurig klingen kann. Musik, die irgendwo eine leiernde Drehorgel hervorzauberte und trotzdem nicht überladen oder aufgesetzt klang.

Auf Happy Hollow lassen sich ab und zu auch noch Spuren dieser Brillanz finden. Man muss nur genau hinhören.

„Happy Hollow“ von Cursive ist als LP und CD erschienen bei Saddle Creek

Hören Sie hier „Dorothy At Forty“

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Sport: „Aufstieg und Fall der Gruppe Sport“ (Strange Ways 2006)
Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (Eigenverlag 2005)
Cpt. Kirk &. „Reformhölle“ (Whats So Funn About 1992)
The Mothers Of Invention: „Absolutely Free“ (Ryko 1967)
Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (EMI 1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Und dann ein tabuloses Gitarrensolo

Sport beherrschen viele Disziplinen. Auf ihrem zweiten Album „Aufstieg und Fall der Gruppe Sport“ überfliegen die Hamburger den Trümmerhaufen der Rockmusik

Cover Sport

Gerade mal zwei Alben in zehn Jahren Bandgeschichte. Da liegt der Verdacht nahe, das Metier der Gruppe Sport sei die Gemütlichkeit. Ein paar große Worte korrigieren diesen Eindruck schon im Eröffnungsstück: „Wir bauen Dinge, die noch niemand kennt. Kein Umbau, das hier geht ans Fundament. Und wenn es klappt, die Schwerkraft aufzuheben, wird Isaac Newton sich im Grab umdrehen.“ Den absoluten Anspruch flankiert eine Ladung tonnenschwerer Gitarrenriffs. Es scheint, als hätten Sport die Zeit genutzt, um Kraft zu sammeln. Jedenfalls besitzen sie davon jede Menge.

Das Trio pflegt einen liebevollen Umgang mit dem Trümmerhaufen des Grunge, dieses zotteligen Zombies der frühen neunziger Jahre. Während uns ausschließlich die entsetzlichen Frisuren der damaligen Protagonisten im Gedächtnis blieben, haben sich Sport der musikalischen Innovation von Bands wie Soundgarden erinnert. Doch die Schönheit des Strähnigen ist nur eine der Fährten, die dieses Album legt. Es versammelt zehn Lehrstücke darüber, was sich alles mit einem Lied anstellen lässt – textlich, musikalisch und in der Wechselwirkung beider Sphären.

An der Grenze zum Hörspiel bewegt sich etwa das Stück Wie Ameisen: Eine erfolglose Vorband muss erleben, wie erst die Hauptband das Publikum in Raserei versetzt. Der Stadionsprecher kündigt „the fantastic Gruppe Sport“ an, dann erklingt ein tabuloses Gitarrensolo, und Sänger Felix Müller mimt den überspannten Glamrocker. An anderer Stelle werden Flugkörper mit musikalischen Morsezeichen kontaktiert („S-P-O-R-T“). Man hört das Gas im Heißluftballon und das Klatschen der Hände, die sich von ihren Zwängen befreien. Dass Klangmalerei derart mitreißen kann, mag naturwissenschaftlich irrelevant sein – künstlerisch haben Sport hier ein ganz neues Ding gebaut.

Aufstieg und Fall der Gruppe Sport handelt von der Ambivalenz des Höhenrausches und vom Versprechen der Ebene. Es ist hübsch mit anzuhören, wie sich im melancholischen Sinkflug die klarsten Gedanken einstellen: „All die Bilder, all die Filme, all die Melodien, die uns andere Räume bilden – bloß Momente, die uns blasengleich umhüllen in der Nacht.“ Dazu schalten auch die Klänge einen Gang runter, kreisen eine Weile, sammeln sich neu. Sport beherrschen viele Disziplinen.

„Aufstieg und Fall der Gruppe Sport“ von Sport ist als CD und LP erschienen bei Strange Ways

Hören Sie hier „Die Hände“

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (Eigenverlag 2005)
Cpt. Kirk &. „Reformhölle“ (Whats So Funn About 1992)
The Mothers Of Invention: „Absolutely Free“ (Ryko 1967)
Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (EMI 1980)
The Low Frequency In Stereo: „The Last Temptation Of… Volume 1“ (Rec90/Cargo 2006)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Tu die Träume in die Flasche

Über die Jahre (13): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Zum Abschluss: Vor fast vier Dekaden sang Nico über das „Chelsea Girl“. Bis heute ist sie ein Vexierbild der modernen Frau. Ihr Schwanken zwischen Exzess und Melancholie kann noch jeden Hörer aus der Fassung bringen

Cover Nico

Die junge Christa Päffgen, in Paris lebend, hat zwischenzeitlich einen zwanzig Jahre älteren griechischen Freund namens Nico Papatakis. Er ist Filmemacher beziehungsweise Nachtklubbesitzer. Sie zieht zu ihm, nennt sich nach ihm. Päffgen war ihr zu piefig.

Nico kommt zur Welt 1938 in Köln und 1940 in Budapest, denn über Nico gibt es immer zwei Geschichten. Sie wächst auf in Lübbenau bei Berlin im Schatten ihres „wahnsinnigen, faschistischen Vaters“, wie im New Musical Express zu lesen ist, und als Halbwaise, „deren Vater im Konzentrationslager umkam, als sie zwei Jahre alt war“, was Frau im Spiegel schreibt.

Nico stirbt an einem Sommertag 1988 auf Ibiza an einem Hitzschlag, mittags, auf einer Radtour. Und sie stirbt, ebendort, an einem Gehirnschlag, als sie Haschisch holen will.

Nico liebt, und Nico liebt nicht. Sie will doch nur spielen mit Brian Jones von den Stones, mit Jimmy Page von Led Zep, mit Jim Morrison von den Doors, mit Tim Buckley, Tim Hardin, Iggy Pop, Jackson Browne, Bob Dylan und Leonard Cohen. Einen Sohn hat sie von Alain Delon, aber Alain Delon hat keinen Sohn mit ihr. Sie ist einsachtzig, knochig, tiefe Stimme, die Sinne vernebelnd. Sie ist schwarz, schwarz, schwarz und so weiß und deutsch wie nur was. Sie singt auf der ersten Velvet-Underground-Platte, der mit der Banane – „einem sehr vergnüglichen Album über Tod, Drogenabhängigkeit und Sadomasochismus“, findet die New York Times Book Review.

Sie gibt 1200 Konzerte in sieben Jahren. Sie lebt in Paris und New York und Rom und legt sich schließlich in Manchester in einer Einzimmerwohnung mit Spritzen auf eine Matratze. Japan jubelt ihr zu, Frankreich trauert um sie. Sie singt die drei Strophen des Deutschlandlieds und widmet sie Andreas Baader. Sie ernährt ihren Kleinen mit Kartoffelchips und, nachdem er trotzdem groß wird, mit Heroin. Als sie stirbt, küsst er ihre Stirn, dann geht er nach draußen und kotzt hinter ein Auto.

Wenn der Kölner Sender RTL im Jahre 2008 nach Deutz zieht, soll der Platz vor dem Funkhaus nach ihr benannt werden, „Christa-Päffgen-Platz.“ Das fordert Kasper König, der Mann vom Museum Ludwig. Ob das was wird? „Muss die Bezirksvertretung entscheiden“, schreibt die Lokalzeitung.

Entdeckt wird Nico mit fünfzehn, beim Bummeln auf dem Ku’damm. Coco Chanel begeistert sich für ihre makellose Erscheinung. Fellini holt sie in La Dolce Vita vor die Kamera. „Eine schöne Frau, die nicht viel sagte, selbst wenn sie einmal lange sprach“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. „Sie wollte hässlich sein.“ Jetzt lächelt Nico mit schwarzen Zähnen: „Der einzige Grund, warum ich mich nicht erschieße, ist, dass ich wirklich einzigartig bin.“

„Heroin hat ein Deutscher zur Jahrhundertwende erfunden“, recherchiert die englische Presse: „Vielleicht konnte Nico der Vergangenheit wirklich nicht entkommen.“ Der französische Philosoph Jean Baudrillard vermutet, sie „schien nur deshalb so schön, weil sie von einer absolut gespielten Weiblichkeit war. Und es lag etwas Enttäuschendes darin, zu erfahren, dass sie ein falscher Transvestit war, eine echte Frau, die den Transvestiten spielte“.

Andy Warhol dreht in einem fiktiven Hotel The Chelsea Girls, da wohnt sie auf der Leinwand und isst einen Schokoriegel. Susanne Ofteringer dreht die Hommage Nico-Icon, da ist sie schon tot. Lou Reed, der sie hasste und liebte, sieht sich das gleich zweimal an. John Cale, der ihr Lied um Lied schrieb, sagt: „Sie war eine tolle Frau. Ich vermisse sie.“

Vergessen wir das alles für eine magische Dreiviertelstunde. Legen wir Nico auf, Chelsea Girl. Ihre erste Platte nach der Banane, von 1968. Man hört sie zweimal, dreimal, dann hört man sie für immer, auch ohne Gerät. Diese Traurigkeit, diese Lust, dieses Ganz-bei-sich- und Ganz-außer-sich-sein.

„Wrap your troubles in dreams“, singt Nico, „Send them all away // Put them in a bottle // And across the sea they stay.“

„Chelsea Girl“ von Nico ist erhältlich bei Polydor/Universal

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Wrap Your Troubles In Dreams“

Damit endet unsere alten Tonträgern gewidmete Sommerserie. Künftig wollen wir ins laufende Programm gelegentlich Platten einstreuen, die es über die Jahre immer noch wert sind, gehört zu werden.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(12) Byrds: „Sweetheart Of The Rodeo“ (1968)
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Pilgerväter im Glitteranzug

Über die Jahre (12): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Die Byrds nehmen 1968 mit dem jungen Countryfreak Gram Parsons „Sweetheart Of The Rodeo“ auf. Und verleihen damit der Hinterwäldlermusik der Amerikaner ersten Popglanz

Cover Byrds

Als Countryfan hat man es schwer. Schnell gilt man mindestens als langweilig, wenn nicht gar als hochgradig reaktionär, wenn das Herz für die Klänge von Steel Guitar, Fiddel und Mandoline schlägt. Erfuhren solche Instrumente im Neo Folk Anfang der 90er Jahre noch neue Aufmerksamkeit, so sind dessen Anhänger mit ihren Bands gealtert. Der Pioniergeist anfangs großartiger Formationen wie zum Beispiel Lambchop hat sich leider sowohl in deren aktuellen Darbietungen als auch bei ihrem Publikum verflüchtigt.

Aber Halleluja, wenn es um alte Veröffentlichungen geht, findet sich das gewisse Etwas, das Kribbeln über eine besondere Band oder Platte, natürlich in reicher Auswahl. Das latente Unbehagen am konservativen Image von Country&Western einmal zum Anlass genommen, bietet sich hier ein Außenseiteralbum der Byrds an, um ein wenig über die Popwerdung des Country zu philosophieren. Sweetheart Of The Rodeo erscheint 1968, Popmusik hat den Rock’n’Roll längst als Ausdruck subversiver Jugendkultur beerbt.

Mit ihrer Version von Folk-Rock feiern die Byrds ab 1965 erste Erfolge. Markenzeichen der ersten Jahre ist die dreifache Gitarrenbesetzung und der unvergleichliche dreistimmige Harmoniegesang von Roger McGuinn, Gene Clark und David Crosby. Doch Folk ist ja nicht Country. Obwohl viele junge Musiker der Protestgeneration mit Country und Bluegrassmusik aufgewachsen und emotional tief in ihr verwurzelt sind, suchen sie in den 60er Jahren nach neuen Wegen hinaus aus dem Traditionalismus. Das führt auch dazu, dass der gelernte Mandolinenspieler Chris Hillman bei den Byrds nur den E-Bass spielt.

Als 1966 zuerst der sensible Gene Clark das Handtuch wirft und 1967 schließlich der zickige, herrschsüchtige David Crosby von den Übrigen gefeuert wird, ist die Zeit reif für einen neuen Rebellen. Durch Vermittlung Hillmans stößt der verträumte, aber künstlerisch sehr selbstbewusste Songschreiber und Multiinstrumentalist Gram Parsons zu den Byrds. Er übernimmt Gitarre, Keyboards, Gesang – und bringt den Country mit. Er ist von Anfang an eine Art Lichtgestalt in einer sich neu orientierenden Szene junger Countrymusiker. Er singt und spielt inspiriert von den alten sehnsüchtigen Melodien der Hinterwälder und der Musik des Südens, aber er fühlt wie ein rebellischer Popheld und gibt damit der Sehnsucht eine neue Richtung.

Die Stücke auf Sweetheart Of The Rodeo wirken etwas zusammengewürfelt. Letztlich aber sind die vielen Coverversionen, von Dylan-Hits und Klassikern des Gospelsoul wie You Don`t Miss Your Water bis zu Countryballaden von Woodie Guthrie und Merle Haggard, nicht einmal untypisch für ein Byrds-Album. Dafür ist der Stilbruch der musikalischen Mittel umso heftiger, nie zuvor hat eine Rocktruppe plötzlich mit einem Ensemble von Studiomusikern aus Nashville und Instrumenten wie Steel Guitar, Geige, Banjo, Mandoline eine Popplatte aufgenommen.

Begeisterte Kritiken, aber schlechte Verkaufszahlen sind das zwiespältige Echo auf einen nun ganz anderen Byrds-Schmelz. Von religiöser Bedächtigkeit und Schwere befreit, hängt I Am a Pilgrim seine Fahne in den Wind popfrisch geschmetterter Wehmut, die melodischen Arrangements selbst des trippelnden Banjos wollen vorwärts, anstatt in grüblerischem Blues zu verharren. Besonders die von Gram Parsons mitgeschriebenen Songs Hickory Wind und One Hundred Years From Now, aber auch das adaptierte Blue Canadian Rockies kommen seiner Idee vom „Cosmic Rock“ am nächsten: Angelehnt an die psychedelische Stimmung der vorangegangenen Byrds-Platten seit Fifth Dimension, lehren sie den vom Bluegrass aufgewirbelten Straßenstaub das Fliegen.

In diesem Sinne ist Sweetheart Of The Rodeo vor allem der Funke, an dem sich der Geist für legendäre Platten anderer Bands der folgenden Jahre entzündet. Das Besetzungsdrama bei den Byrds führt unterdessen nur zu weiteren persönlichen Zerwürfnissen, bis auch der duldsame Chris Hillman die Nase voll hat und die Band kurz nach Gram Parsons Ausstieg verlässt. Zusammen reorganisieren die beiden die Gruppe The Flying Burrito Brothers. Das Debüt The Gilded Palace Of Sin kommt schon 1969 und bringt Parsons Träume endlich auf den Punkt: Abgefahrener als mit diesen zwischen Himmel und Hölle kurvenden, vom Fuzzpedal verzerrten Gitarrenslides zu zuckrigem Mandolinengezirpe kann keine Formation das Establishment erschüttern und Spottlieder dichten über Sin City, das allzu feine San Francisco.

Im selben Jahr taucht auch Ex-Byrd Gene Clark mit einer neuen Countryplatte auf, gemeinsam mit Doug Dillard von den Dillard-Brüdern spielt er einen Meilenstein modernster Hillbilly-Musik ein: The Fantastic Expedition Of Dillard & Clark. Mit von der Partie ist Bernie Leadon, der später als Gründungsmitglied der Eagles die Popularisierung von Country Rock als kulturellem Aushängeschild Amerikas betreibt.

Musikalisch überflügeln The Gilded Palace Of Sin und The Fantastic Expedition Of Dillard & Clark den Countryausflug der Byrds. Doch irgendwo im Dreiklang dieser ungeplanten Trilogie liegt der Wendepunkt, der interessanter ist als das meiste, was danach noch kommt. Die Byrds hangeln sich mit mehr Irrungen als Höhepunkten bis zu ihrer Auflösung 1973, im selben Jahr stirbt Gram Parsons nach kurzer Solokarriere mit 26 an Drogen und Alkohol den frühen Heldentod eines Popmessias.

Es ist das Geheimnis solcher Geschichten und ihrer Platten, dass sie noch heute nach Abenteuer und Aufbruch klingen, an manchen Tagen sogar mehr als die Neuerscheinung, die einem vorgestern noch so aufregend erschien.

„Sweetheart Of The Rodeo“ von den Byrds ist erhältlich bei Columbia/Sony BMG

Hören Sie hier Ausschnitte aus „Blue Canadian Rockies“ und „I Am A Pilgrim“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(11) Sender Freie Rakete: „Keine gute Frau“ (2005)
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Einfach Ideal

Über die Jahre (11): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: „Keine gute Frau“, das packende Debüt des Berliner Duos Sender Freie Rakete. Intelligente Texte, eine wahnsinnige Stimme und eingängige Melodien. Was kann man mehr erwarten?

Cover Sender Freie Rakete

Selten hat mich Musik so gepackt wie diese: Mitten im Berliner Spätfrühling erwischten mich Sender Freie Rakete, ein Duo aus der Spreestadt. So wie Musik heutzutage den Musikschreiber erwischt: ein Hinweis hier, ein Reinhören da. Täglich stochert man im digitalen Brei zwischen MySpace, PureVolume, Radioblogclub und BeSonic. Immer auf der Suche nach den Trüffeln, die einem die Werbe-Maschinerie der großen Plattenfirmen nicht präsentieren kann – weil sie die Künstler nicht unter Vertrag hat. Ich stolperte über das Lied Uncool, und war sofort gefangen. Keine Gute Frau musste her, ein Minialbum mit sechs Stücken, die damals noch einzige Veröffentlichung aus dem Jahr 2005.

Emma Berit Ott und Stefan Machalitzky sind die beiden Raketenmusiker. Sie singen auf Deutsch. Sie stellen viele Fragen – und geben gleich noch Antworten, ohne dabei in den Irrgarten der Banalitäten abzugleiten. „Ist es normal“, fragt die Sängerin, „dass ich alle Bands viel besser fand, als sie noch arm und unbekannter waren?“ Aufgrund des gewaltigen Drucks in ihrer Stimme wird sie oft mit Ideal-Sängerin Annette Humpe verglichen. Glatt und rau zugleich ist sie, rotzig frech und doch einfühlsam. Derweil flitzen Machalitzkys Finger gekonnt die Saiten hinauf und hinunter, spielen eingängige Linien, einfach, aber nie anspruchslos. Jedes Lied hinterlässt tiefe Spuren in meinen Gehörwindungen.

Vorbei sind offenbar die Zeiten, in denen der Wortschatz deutschsprachiger Rockbarden nicht größer sein durfte als der seiner Hörer. Die Texte von Emma Berit Ott sind gut und intelligent. Sie sind ironisch, die Doppeldeutigkeiten sind an Eindeutigkeit nicht zu überbieten. „Meine voll emanzipierte Mutter denkt, ich spinne – weil sie merkt, ich will anders als sie sein.“

Sie verstehen sich auch auf die ruhigen Stücke. Bestes Beispiel: Wir sind drüber. Leise, einfühlsam – und doch nicht einfach nur ein Liebeslied. Sondern ein Stück über das Ende einer Beziehung. Immer wieder thematisieren sie die spannungsgeladenen Nebenwirkungen des Alltags. Dabei klingen sie wie eine zeitgemäße, rockige und zugleich intelligente Ausgabe von Ideal.

Solche Werke sind selten. Und noch seltener knüpfen Künstler nahtlos an diese an. Das 2006 erschienene zweite Minialbum Nadine ist leider Opfer dieser Regel.

„Keine gute Frau“ von Sender Freie Rakete ist im Eigenverlag veröffentlicht worden, es ist über die Website der Band und bei Finetunes erhältlich

Hören Sie hier „Uncool“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(10) Herbie Hancock: „Sextant“ (1973)
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Ein Raumschiff fliegt vorbei

Über die Jahre (10): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Wir schreiben das Jahr 1973, Herbie Hancock bricht mit „Sextant“ auf eine weitere Reise in die unendlichen Weiten des Elektrischen Jazz auf

Cover Sextant

Herbie Hancocks Sextant ist ein Juwel des Fusion-Jazz, eine einzigartig konsequente Verschmelzung von Jazz und frühelektronischen Klangexperimenten. Heute ist das Genre zum Synonym für selbstverliebtes Gegniedel und Gedaddel geworden. Bei Hancock ging es um Sinnlichkeit.

Der Beginn des ersten Stücks Rain Dance legt eine irreführende Spur in Richtung Studio für Elektronische Musik und Karlheinz Stockhausen. Analoge Synthesizer pluckern und tropfen einen Rhythmus. Sie klingen nach Weltraum, nicht nach Jazzkeller. Trompete, Bass und Schlagzeug kommen hinzu, alles ist wunderbar auskomponiert. Wenn Hancock schließlich mit seinem leichtfüßigen, eleganten E-Pianospiel Tupfer dazusetzt, steht das Stück in voller Blüte.

Neben Hancock wichtigster Teil des Sextetts ist Dr. Patrick Gleeson. Er bedient die ARP-Synthesizer, komplizierte Stecksysteme, die in Größe und Umfang Wohnzimmerschrankwänden in nichts nachstehen. Auf Sextant baut er Flächen und Klanglandschaften und harmoniert mit dem Rest der Band. Die Elektronik ist beim ihm kein Kunstgriff sondern integraler Bestandteil der Musik.

Das Ergebnis dieser Verschmelzung ist futuristisch. 1973 muss Sextant geklungen haben, als sei gerade ein Raumschiff vorbei geflogen. Entsprechend kritisch waren auch die Reaktionen. Dreiunddreißig Jahre später gilt das Album als Klassiker. Es ist aktuell, wegweisend und ein beeindruckendes Beispiel dafür, was entstehen kann, wenn man von bestehenden Rezepten abweicht und unterschiedliche Klangquellen mutig mischt.

„Sextant“ von Herbie Hancock ist erhältlich bei Columbia/Sony BMG

Hören Sie hier einen Ausschnitt aus „Rain Dance“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(9) Depeche Mode: „Violator“ (1990)
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Lass mich in deine Welt, Dave!

Über die Jahre (9): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: 1990 überraschten Depeche Mode mit behutsamem Pluckern und sanften Aquarelltönen. Dabei ging es auch auf „Violator“ nur um Sex

Cover Violator

Boris mochte Depeche Mode, ich U2. Er hielt People Are People für einen großartigen Song, ich With Or Without You. Wir verbrachten viel Zeit damit, uns gegenseitig die Platten unserer Lieblingsgruppen vorzuspielen und sie zu diskutieren. Mir waren Depeche Mode zu künstlich, zu banal, ihn störte der Predigergestus von Bono, seine Lieder waren ihm zu aufgesetzt. Ich konnte nicht anders, als Depeche Mode zu hassen. Wir schenkten uns gegenseitig T-Shirts und Poster, Platten und Aufkleber der jeweils ungeliebten Gruppe, um uns zu ärgern. 1990 überreichte ich ihm die grausame U2-Single When Love Comes To Town zum fünfzehnten Geburtstag. Im Gegenzug drückte er mir einige Tage darauf eine Kassette mit einer selbst gemalten Rose in die Hand, Violator von Depeche Mode.

Ich hörte das Album zum ersten Mal auf dem langen Weg in den Südfrankreich-Urlaub. Vorne meine Eltern, auf der Rückbank ich mit meinem Walkman. Ich hörte sie immer und immer wieder, die neun Stücke nahmen mich gefangen. Das anstrengend Epische war verschwunden, der Hall, das Glatte, Fassadenhafte. Violator kam mir rau und düster vor, es traf meine Stimmung. Ich hatte das Gefühl, mitgenommen zu werden. „Let me show you the world in my eyes“ singt Dave Gahan, und ich hatte das Gefühl, wir könnten in der selben Welt leben. Einer Welt voller Verletzlichkeit und Introvertiertheit.

Damals war Techno groß, Violator klang wie das Gegenteil. Die Synthesizer pluckerten zart und behutsam vor einem in sanften Aquarelltönen ausgemalten Hintergrund. Das Schlagzeug klang – einmal abgesehen von dem organischen Stück Personal Jesus – nur angehaucht. Dazwischen tummelten sich unzählige kaum definierbare Geräuschfragmente und Klangskizzen, der Gesang ist zurückhaltend und getragen.

Violator war mein Warum geht es mir so dreckig? Es definierte mein Verhältnis zu meiner Umwelt, legitimierte meine Ängste und Hoffnungen. Die Zeilen wurden zu Schlagworten, Phrasen, in die ich mich zurückziehen konnte. „I’m waiting for the night to fall, when everything is bearable“, ich konnte das so sehr nachvollziehen. All meinen pubertären Weltschmerz fand ich wieder, „There’s a pain, a famine in your heart, an aching to be free“. „Can’t you understand?“ in Blue Dress wurde eine Art Schlachtruf für mich gegen diese Welt, denn genau das war ja das Problem.

Enjoy The Silence wurde ein Hit, mir bedeuteten andere Stücke mehr. Waiting For The Night und Halo, Sweetest Perfection und Blue Dress. Die vielen sexuellen Konnotationen der Stücke sind mir erst später richtig bewusst geworden, heute staune ich darüber, denn viel offensichtlicher kann man nicht immer und immer wieder über das Gleiche singen. Mein Englisch war offenbar glücklicherweise so schlecht, dass es mir die Begeisterung für Violator nicht nehmen konnte. Denn das war ja nun gar nicht mein Thema, ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Beinahe zwei Jahre lang blieb Violator meine Lieblingsplatte, auch noch, als Boris mir kurze Zeit darauf von Achtung Baby von U2 vorschwärmte. Ich fand das künstlich und banal.

Bis heute ist Violator das einzige wirklich großartige Album von Depeche Mode. Es klingt wie ein Bericht aus dem tiefen Loch, in das sie nach der Music For The Masses-Tour vom Gipfel der Popularität gefallen waren. Danach kämpften Depeche Mode weiter, vornehmlich gegen die Drogen, die Ideenlosigkeit und die Erwartungen. In der fünfundzwanzigjährigen Bandgeschichte ist Violator leider ein Flackern geblieben. Ein sehr helles immerhin.

„Violator“ von Depeche Mode ist erhältlich bei Mute, kürzlich wurde es gemeinsam mit dem ersten Album „Speak and Spell“ und „Music For The Masses“ in hervorragendem Klang und mit Bonusstücken wiederveröffenlicht

Hören Sie einen Ausschnitt aus „Waiting For The Night“

Sehen Sie hier Bilder vom Konzert der Band am 15.1.2006 in Hamburg

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(8) Stevie Wonder: „Music Of My Mind“ (1972)
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Zottelmonster, du mein Augapfel!

Über die Jahre (8): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Mit seinem Album „Music Of My Mind“ bewies Stevie Wonder 1972, dass er sich nicht auf die Rolle der Kitschbacke am E-Piano festlegen lässt. Sein schmeichelnder Soul grunzt und zirpt

Cover Stevie Wonder

Es ist schon ein bisschen her, da brachte man auf Privatpartys noch seine eigenen Platten mit. Einen erklärten DJ gab es nicht, jeder durfte mal abspielen, was er liebte. Heute findet man überall, wo gefeiert wird, ein Laptop oder zwei Plattenspieler. Und dahinter thront der Mitbewohner, Bruder oder Nachbar des Gastgebers als mehr oder weniger umgänglicher Musikdiktator.

Als die musikalische Abendgestaltung noch demokratisch war, bestand mein Partygepäck nicht aus Zigaretten, Puder und Lippenstift, sondern aus Musik. Bereits am Abend vorher hatte ich die Hüllen meiner CDs – ich gebe zu, als Kind des digitalen Zeitalters besitze ich fast kein Vinyl – mit meinem Namen versehen. In der Hoffnung, sie würden nach der Feier wieder zu mir zurückfinden.

Ich brachte immer etwas von Stevie Wonder mit, und die anderen guckten mich ungläubig an: „Häh, wie bist du denn drauf? Das ist doch diese alte Kitschbacke!“ Dann fingen sie an, den Kopf zu wiegen und zu leiern… „I just called to say I love you …“ oder „You are the sunshine of my life“.

Ja, mit You are the sunshine … fing meine – leider einseitige – Beziehung zu Stevie an. Als Zwölfjährige verbrachte ich fünf Tage in einem musikalischen Sommerferienlager, ich spielte im Orchester und sang im Chor. Hundert Kinder übten zusammen eine große Show für die Eltern ein, man nannte es ein „buntes Potpourri“. Wir sangen Stevie Wonders Lied von Sonnenschein und Augapfel, ich war infiziert.

Ein paar Jahre Inkubationszeit, dann legte ich los mit dem Plattenkauf. Über die Greatest Hits näherte ich mich dem Großmeister des Soul. Ich stieß auf Music Of My Mind und war hingerissen: Wie vielgesichtig ist der schwarze Mann mit der Sonnenbrille, wie schlicht sein Kitsch, wie druckvoll sein Funk und wie modern sein Klang!

Bis heute passt Music Of My Mind zu jeder Hörgelegenheit und wird nie langweilig: Es gibt schnelle und langsame Nummern, Herziges und Tanzbares, spannende Arrangements und einen wunderbaren Sänger. Wie Stevie Wonders Stimme sanft durch die Oktaven gleitet, sich hier und da verschnörkelt, in den Höhen strahlt und in den Tiefen wärmt, beeindruckt ganz beiläufig. Humor hat er auch. Vordergründig wirken seine Lieder klar und poppig. Im Hintergrund aber rumpelt und rödelt es, und Stevie verwandelt sich in ein zotteliges Sesamstraßenmonster. Er keucht und zischt, lässt die Orgeln grunzen, die Mundharmonika zirpen. Bis auf wenige Passagen hat er dieses Album ganz allein eingespielt.

Dass er so gerne über das Glück der Liebe und seine Mädchen singt, mag ich ihm nicht verübeln – das ist eben Soul. Wer in ihm dennoch nur die Kitschbacke am E-Piano sieht, hat möglicherweise in den 80ern zu viel Dudelfunk gehört. Mein Stevie jedenfalls ist ein anderer.

„Music Of My Mind“ von Stevie Wonder ist erhältlich bei Motown/Universal

Hören Sie hier Ausschnitte aus „Love Having You Around“ und „Superwoman“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(7) Tim Hardin: „1“ (1966)
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Der Mann vor dem Fliederbusch

Über die Jahre (7): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Tim Hardins erstes Album von 1966, eine Sammlung sparsamer und schüchterner Lieder

Cover Tim Hardin 1

Als Tim Hardin 1980 an seiner Heroinsucht starb, war ich gerade ein paar Monate alt. Seine wenigen Platten waren längst aus den Musikläden verschwunden, auf Flohmärkten gelandet oder in den Sammlungen eitler Liebhaber. Unbezahlbar waren sie allemal. Seine Lieder haben andere bekannt gemacht. Rod Stewart zum Beispiel, Scott Walker, Joan Baez und Bobby Darin. Über 20 Jahre vergingen, ehe ich Tim Hardins Musik kennen lernte. Auf einem Umweg.

Der Umweg hieß Christine. Wir fuhren morgens manchmal gemeinsam zur Universität mit Christines altem braunen Golf. Wir ließen Kassetten ins Radio schnappen und drehten laut auf, damit sie gegen das Fahrtgeräusch ankamen. Eines nebligen Frühlingsmorgens wartete Christine mit offener Tür an der Straße. Don’t Make Promises von Tim Hardins Album 1 drang aus den Türlautsprechern. Von einer rauschenden Chromkassette. Rückblickend ganz schön unwürdig.

Aber er nahm mich gefangen.

Vielleicht war es seine Beharrlichkeit. Sein zuweilen zittriges Tremolo. Seine sparsam angeschlagene Gitarre. Die Art, wie er „It will never happen again“ singt. Man muss es ihm glauben. Tim Hardin singt sparsam betextete Lieder. Oft so leise, als ob er niemanden stören wolle. Als singe er nur für sich. Man darf sich aber dazusetzen. Im Auto schwiegen wir uns durch die zwölf Lieder. Ich sah aus dem Fenster und wunderte mich, wie kurz das Album ist. Kaum ein Lied ist länger als zwei Minuten.

Die Lieder auf dem Album hat Tim Hardin in einem Zeitraum von 19641966 geschrieben. Eine Mischung aus Demos und neueren Aufnahmen. Hardins musikalische Entwicklung lässt sich deutlich erkennen. Die Einflüsse reichen von Blues über hemdsärmeligen Country bis zu zaghaften Rockballaden. Bei Ain’t Gonna Do Without swingt es sogar.

In diese kleine Welt von Tim Hardin finden nicht viele Instrumente Einlass. Eine schüchterne Mundharmonika, ein fernes Klavier. Sie wattieren seine Lieder lediglich, selten stehen sie im Vordergrund, wie die melodramatischen Streicher in einem seiner bekanntesten Songs Hang On To A Dream. Der einzige Song, in dem so etwas wie Kitsch aufkommt. Hardin war selten anwesend, wenn die Instrumente eingespielt wurden, sondern meistens betrunken oder anderweitig betäubt. Als er sein Album zum ersten Mal hörte, soll er einen Wutanfall bekommen haben.

Von den Streichern hörte ich im Auto nichts. Erst später, als Christine mir die Schallplatte vorspielte. Ein junger Mann in leuchtend rotem Hemd sitzt vor einem Fliederbusch und blickt mich an. Mit traurigen Augen. Ein paar Strähnen sind ihm aus dem Scheitel entwischt. Ob ich mir die Platte leihen könnte, fragte ich Christine. Sie lachte mich aus.

Das gleiche Lachen schallt mir heute oft entgegen, wenn ich in Plattenläden nach „der ersten von Tim Hardin“ frage. Immerhin schenkte Christine mir die Kassette.

„1“ von Tim Hardin ist erhältlich auf der bei Universal erschienenen Doppel-CD „Hang On To A Dream – The Verve Recordings“. Darauf vollständig enthalten sind auch seine beiden Alben „2“ und „4“

Hören Sie hier „Reason To Believe“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(6) Cpt. Kirk &.: „Reformhölle“ (1992)
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Unentspannte Musik für unentspannte Typen

Über die Jahre (6): Im August widmet sich der Tonträger Platten aus vergangenen Tagen. Heute: Das 1992 erschienene Album „Reformhölle“ der Hamburger Band Cpt. Kirk &., ein stilbildender Koloss voll schlecht gelaunter Lyrik und musikalischem Sturm und Drang

Cover Cpt. Kirk &

Ich bin Musiker. Die Reformhölle von Cpt. Kirk &. ist meine Lieblingsplatte. Keineswegs aber lege ich sie in besonders schönen Momenten auf, noch schwelge ich beim Hören in angenehmer Erinnerung. Für mich verbindet sich die Reformhölle weder mit der ersten Liebe noch mit einem schönen Urlaub oder sonst einer verklärten Episode. Sie war immer nur ein geliebter Feind. Alle paar Jahre habe ich sie zögernd aus dem Regal gezogen, den Kopfhörer aufgesetzt – und hätte sie 38 Minuten später am liebsten gegen die Wand gefeuert. Wieder einmal war ich der Reformhölle in meiner eigenen Musik nur hinterher gelaufen. Übrigens befinde ich mich in guter Gesellschaft: Manch unentspannter Musiker teilt meine Verzweiflung, und selbst Cpt. Kirk &. sind im mächtigen Schatten ihrer zweiten Platte weitgehend verstummt. Was das Album so unerreichbar macht? Weiß ich nicht, lass mich in Ruhe.

Vermutlich liegt das Geheimnis in Tobias Levins Gesang der flüssigen Nuancen. Gerade noch hat er in schmeichelndem Sing-Sang die falsche Sehnsucht nach behüteten Orten beschrieben, „wo Sonne und Mond scheint und wo Sonne den Mond nicht vertreibt“. Einen Moment später kippt die zerbrechliche Litanei mühelos in eine verbale Großattacke: „Schau, in allem was sich ändert, hat ein Kaufmann investiert.“ Levins hohe Stimme nimmt den Wechsel im Gleitflug, sie verwischt die Struktur und dehnt die Metren. Dazu spielt der Bass weite Bögen, und das Schlagzeug treibt sein eigenes, entfesseltes Spiel. Alles fließt.

Textlich gesehen ist Reformhölle poetisch verklausulierte Politik. Die Deutsche Einheit war erst wenige Jahre alt, und Levin schimpft auf neuen Nationalismus, auf Pseudofreiheit und die Selbstherrlichkeit des Kapitals: „Ohne Geld trifft hier die leergebeutete Welt auf reiches Gewissen“, heißt es in Kommt Alle Zugleich Nach D. Doch konkrete Beschwerden bilden die Ausnahme. Stattdessen hagelt es Zitate, Wortverdrehungen und kryptische Stabreime, die sich verquast lesen, doch begleitet von seiner Band ungeheuer elegant klingen.

Die Stücke bersten vor Dringlichkeit. Sie sind überschäumender Undergroundrock, wie er nur von empfindsamen 20ern gespielt werden kann – aber mit reichem historischen Hintergrund: Vom Jazz ist die emanzipierte Rhythmusgruppe entliehen, im Gesang tauchen HipHop-Phrasierungen auf, manche Klavierpassage erinnert an die Minimal Music, dazu rauscht ein romantisches Melodienmeer. Dass die Musik in ihren tausend Details alle Rahmen sprengt, deutet schon das sechsfache Wechselcover an. Nichtsdestotrotz hat das kollektive Popgedächtnis diese Platte in den trüben Topf „Hamburger Schule“ geschmissen.

Tobias Levin hat in früher Blüte sein musikalisches Vermächtnis abgelegt. Bald darauf wechselte er die Seiten und produziert heute Bands im Hamburger Electric Avenue Studio – darunter manch eine, die seinem Meisterwerk weit hinterhertrabt.

„Reformhölle“ von Cpt. Kirk &. ist als LP und CD erhältlich bei What’s So Funny About

Hören Sie hier „Hotel Ruhe“

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(5) Chico Buarque: „Construção“ (1971)
(4) The Mothers of Invention: „Absolutely Free“ (1967)
(3) Soweto Kinch: „Conversations With The Unseen“ (2003)
(2) Syd Barrett: „The Madcap Laughs“ (1970)
(1) Fehlfarben: „Monarchie und Alltag“ (1980)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik