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Amerika ist ein Vorort von Paris

Helena Noguerra ist Romanautorin, TV-Moderatorin, Fotomodell und Musikerin. Unter dem Pseudonym Dillinger Girl träumt sie zusammen mit Federico Pellegrini alias Baby Face Nelson von Liebe, Gangstertum und amerikanischen Weiten

Cover Dilinger Girl

Bang! So karg wie der Name ist das ganze Album: Akustikgitarre und Stimme, mehr braucht Popmusik nicht. Eine dunkelhaarige Schönheit und ein Glatzkopf mit einem Geldschein zwischen den Lippen posieren auf der Hülle. Bonnie & Clyde sind wieder da. Fast 40 Jahre nach Serge Gainsbourg: ein Lächeln in den Augen und das Herz voller Verse. Zärtlich, brutal, ein musikalischer Gangsterfilm in Technicolor.

„Schlag mich hart“, haucht die unschuldige Schönheit, „damit ich ein wenig Traurigkeit in deinen Augen sehen kann.“ Später singt sie von der verlorenen Zeit, von all den Liebkosungen ihres Geliebten. „Wenn es einen Gott gibt, dann wirst du es sein, mon amour.“ Bars gibt es viele in diesem Liederreigen, zu trinken reichlich. Und irgendwann ist es Zeit, Veränderungen herbeizuführen, „Schweine fliegen zu lassen“.

Geschrieben und komponiert hat das Federico Pellegrini, der früher mit der französischen Rockband The Little Rabbits Musik machte und dessen aktuelles Projekt The French Cowboy heißt. Helena Noguerra und er – nur zwei Stimmen und eine Handvoll Akkorde. Ein leichter Hall bildet den Chor, eine Melodie wird gezupft für eine Ewigkeit, für die Wüste von Arizona. Dort, in Tucson, ist das Album eingespielt worden. Man hört es ihm an. So klingt Amerika in Frankreich.

„Ich hatte Lust auf ein amerikanisches Album, so in der Art von Hope Sandoval und Jessy Sykes“, sagt Helena Noguerra im Interview. Mit ihrem Mann, dem Musiker Philippe Katerine, hat sie bereits den Bossa Nova und den Pop erkundet. Kylie Minogues Can’t Get You Out Of My Mind verzärtelten die beiden auf dem Album Née Dans La Nature. „Ich versuche mich ständig neu zu definieren“, sagt sie. „Deshalb habe ich mich am Bossa Nova versucht, am Chanson, am Rock. Ich finde es zu schwierig, endgültig, definitiv jemand zu sein.“ Ihre Eltern haben sie in die Filme von Ingmar Bergman und Jean-Luc Godard geschleppt. In die von Spielberg nicht. „Ich bin das Produkt meiner Epoche“, sagt sie. Mit Dillinger Girl & Baby Face Nelson strebt portugiesisch-belgisch-französische Sängerin einem neuen Höhepunkt zu.

Dabei hatte sie als Kind doch Schauspielerin werden wollen, „so wie Shirley MacLaine“. „Ich wollte singen, tanzen und Filme drehen. Deshalb habe ich mir eine Persönlichkeit erfunden. Ich spielte Schriftstellerin, Sängerin, Schauspielerin, Fernseh-Moderatorin. Ich spiele!“ Die Rolle als Sängerin füllt sie überzeugend aus. In Saint-Malo steht sie mit Blick aufs Meer am Mikrofon und singt. Wie ein trotziges Mädchen, das sich die Jeans über den nassen Badeanzug gezogen hat. Shirley MacLaine ist weit weg. Vergessen sind die Plastik-Pop-Momente, ihre Anfänge, das Album Projet Bikini.

Bang! schwebt in einer anderen Dimension. Pellegrini wollte das Album opulent orchestrieren. Aber Nogiuerra verliebte sich in die ersten Aufnahmen, in das Band, das er ihr geschickt hatte.

„je serai là où tu iras mon amour
là où tu iras, je serai mon amour
s’il y a un dieu, ce sera toi
s’il y a un dieu,
ce sera tout, mon amour“

„Bang!“ von Dillinger Girl & Baby Face Nelson ist erschienen bei Emarcy/Universal

Hören Sie hier „Love“

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Schreib auf meinen Po

Mit hohen Hacken und zur Schau getragenen Blessuren inszeniert sich die Berlinerin Trost auf „Trust Me“ als Diva und Mädchen zugleich. Ihr Spiel mit Männerphantasien wandelt auf schmalem Grat, klingt aber klasse

Cover Trost

Auf hohen Absätzen und im kurzem Rock stöckelt sie auf die Bühne, drückt energisch auf ein paar Knöpfe am Sampler und beginnt ihre verstörende Aufführung. Sie überschüttet sich mit einer Flasche Rotwein und wälzt sich über die Bühne. Sie kramt einen Hula-Hoop-Reifen hervor und schwingt ihn rasant um die Hüfte zum Rhythmus der schön schlecht aufgenommenen elektronischen Musik.

Ich sehe Annika Trost im Jahre 2003 zum ersten Mal. Mit der überhohen und nervig kieksenden Stimme einer Göre singt sie und klopft sich zum Lied Tattoo Your Name On My Ass auf den Hintern. Souverän tritt die junge hübsche Frau mit Betty-Page-Frisur auf und provoziert Männerphantasien. Eine Sexbombe! Das Publikum verstummt, ich bin beeindruckt.

Zwei Jahre darauf: Mit hohen Erwartungen besuche ich das Konzert von Cobra Killer, dem Duo aus Trost und Gina V. D‘Orio. Aber wie wackelig ist die Balance zwischen Souveränität und Lustobjekt jetzt! Annika Trost steckt das Mikrofon tief in den Mund, ihre Kollegin trägt ein Kleid, das die Hälfte des Pos freilässt. Die Männer im Publikum pfeifen und grölen und folgen mit leuchtenden Augen einer Show, die in den Medien als „sexy“ angepriesen wird. Das Konzept kippt, funktioniert nicht mehr. Niemand scheint mehr auf die Musik zu achten, die aus einer Maschine am Bühnenrand kommt und richtig gut ist.

Nun hat sie ihr zweites Soloalbum, Trust Me, aufgenommen. Dafür hat sie sich mit erfahrenen Musikern umgeben, Thomas Wydler von Nick Caves Bad Seeds ist dabei und F.J. Krüger von Ideal. Herausgekommen ist eine Mischung aus Filmmusik, tanzbaren, elektronischen Liedern mit Gitarre, Schlagzeug und Klavier. Manche Lieder werden von Cello, Posaune und Kontrabass veredelt. Auf deutsch, englisch und französisch singt Trost mal mädchenhaft lieblich, mal kühl von Selbstzweifeln, flüchtiger Geborgenheit und Liebe. Besonders gelungen ist das Stück Cowboy, das an Filme aus den sechziger Jahren erinnert. Oder das humorvolle In diesem Raum oder Filled With Tears, ein tristes Gute-Nacht-Lied zur letzten Ruhe.
Das Mädchen mit den zur Schau getragenen Blessuren, die sie sich auf der Bühne zugezogen hat, gibt auf ihrem neuen Album die Diva mit schmuddeligem Fußverband, brilliant fotografiert an der Seite eines ausgestopften Schwans. Das passt zu der düsteren Stimmung von Trost, ihrer hörenswerten Musik.
„Trust Me“ von Trost ist als CD erschienen bei Four Music

Hören Sie hier „I Was Wrong“

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Züge rumpeln durchs Zimmer

Über die Jahre (14): „Tago Mago“ zeigt die Krautrockband Can 1971 auf ihrem Höhepunkt. Der Weitblick dieser Platte ist fünfunddreißig Jahre nach ihrer Veröffentlichung erstaunlich

Cover Can

Wenige große Erfinder im Jazz und im Rock’n’Roll kamen in den Siebziger Jahren aus Deutschland. Sonst kulturell gerne vorneweg, entwickelte sich hierzulande wenig an Jugendkultur, Typen wie Peter Kraus waren Klone amerikanischer und britischer Vorbilder. Das mag an der Verstörung und kulturellen Orientierungslosigkeit liegen, die dem Zweiten Weltkrieg folgte.

Eine Ausnahme war der Krautrock. Mit ihm entstand eine dem Jazz und Rock’n’Roll zwar verwandte, aber doch unabhängige Ästhetik. Bands aus Deutschland fanden im Krautrock eine eigene Sprache. Die Improvisationslust des Jazz und die Durchschlagskraft des Rock verbanden sie mit elektronischen Klangexperimenten, die Stücke – oft Sessions genannt – wurden länger und länger. Die Psychedelik folgte dem Hippietum.

Als einflussreichste Krautrockband gelten Can. Was sie von anderen Krautrockgruppen abhob, war die Qualität ihrer Komposition und das Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Charaktere. Ihren guten Ruf verdanken sie nicht zuletzt dem Album Tago Mago von 1971. Präzise wie ein Uhrwerk treibt Jaki Liebezeit die Platte mit hypnotischer Repetition an, er ist die Rolex unter den Schlagzeugern. Holger Czukay führt mit seinem Bass sowohl den Rhythmus als auch die Melodie. Die Rhythmusarbeit auf dieser Platte nimmt viele Aspekte moderner Tanzmusik vorweg.

Gitarrist Michael Karoli und Irmin Schmidt am elektrischen Piano fügen sich in das Klangbild. Wenn sie doch einmal ein Solo spielen, dann ist es auf den Punkt. Erstmalig an den Aufnahmen beteiligt ist der japanische Sänger Damo Suzuki. Czukay und Liebezeit hatten ihn entdeckt, als er in München auf der Straße musizierte. Seine Stimme ist die perfekte Ergänzung zu den Klang- und Rhythmuskaskaden der Band.

Seite 3 des Doppelalbums, das Stück Aumgn, kann man getrost vergessen. Hier wird die Band zu sehr von ihrer Begeisterung für die Technik getrieben. Die Musik verliert sich in Hallschwaden, ohne dass sich ein Zauber einstellte.

Sei’s drum. Stücke wie das achtzehnminütige Halleluwah und Paperhouse rumpeln wie Züge durchs Zimmer und zeigen, wie sich Improvisation mit Komposition und der Detailverliebtheit des Studioschnitts verbinden lassen. Der Weitblick dieser Platte ist fünfunddreißig Jahre nach ihrer Veröffentlichung erstaunlich. Bereits das Cover ist sagenhaft. Tago Mago zeigt Can auf ihrem Höhepunkt.

„Tago Mago“ von Can ist erhältlich bei Spoon Records

Hören Sie hier „Paperhouse“

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Ein warmes Klagen

Das Gesamtwerk des Will Oldham alias Bonnie Prince Billy lässt sich kaum überschauen – dabei ist der eigensinnige Country-Musiker gerade mal 36 Jahre alt. Sein jüngster Streich, „The Letting Go“, wird die Puristen einmal mehr schockieren

Cover Bonnie Billy

Als was soll man diesen Mann aus Louisville bezeichnen? Countrymusiker ist er. Ein Phänomen, ein bisschen verrückt. Fleißig, manisch. Sein Werk besteht aus zahllosen Alben, Mini-Platten, Singles, Kooperationen und Filmmusiken. Von der Menge her könnte er es wohl mit Bob Dylan aufnehmen. Dabei ist Oldham gerade mal 36.

Der Wiener Standard nannte ihn „den hässlichsten Mann der Musikgeschichte“. Nun, es lassen sich viele Namen für Will Oldham finden. Er denkt sich auch immer wieder neue aus. Palace nannte er sich, Palace Brothers oder jetzt, seit einiger Zeit, Bonnie Prince Billy – eine Mischung aus Hochadel und dem Revolverhelden William Bonnie alias Billy the Kid.

Seit über einem Jahrzehnt schon begeistert er eine wachsende Gemeinde; er führt ein junges Publikum heran an ein Genre, dem der Mief und Pief amerikanischer Südstaaten anhaftet. Country-Puristen sind oft schockiert, wenn sie von ihm hören. Will Oldham hat sich nie geschert um das Klischee vom kautabak-spuckenden Cowboy und seiner Gitarre. Er hat Hank Williams nie gemocht, wuchs auf mit Rock und Punk, den Ramones und Dinosaur Jr. Und auf seinen Platten musiziert er oft mit einer opulenten Band. Während seine allgemein bekannten Kollegen inzwischen so alt klingen und werden, wie ihre Fans schon lange sind, bricht er mit den Traditionen. Nicht nur formal, auch textlich.

Oldhams Sprache ist poetisch, barock, anrüchig, kryptisch. Nie käme er auf die Idee, die Liebschaft zu einer vollbusigen Hinterwäldlerin zu besingen. Seine Texte handeln von Identitätskämpfen, von Gott und Verlust. Manchmal haben sie sexuelle Pointen. Johnny Cash bewunderte ihn dafür, bat ihn sogar, ein Lied für seine American-Recordings-Reihe zu schreiben. Björk nahm ihn mit auf ihre Welttournee.

Eine amerikanische Zeitung warf ihm zu seinem letzten Studioalbum Superwolf vor, er verschmutze die Countrymusik mit seiner Zügellosigkeit, den morbiden Wortspielen und den seltsamen religiösen Hinweisen. Oldham gab zurück, amerikanische Intellektuelle hätten vor Religion so viel Angst wie vor ihren Eiern. Was Journalisten oder Fans über ihn denken, scheint ihm schon lange egal zu sein. Und wie es unter seinem strähnigen Vollbart hervorgebrummt kommt, will man es ihm auch gerne glauben: „It’s only about the music“.

Also hören wir ihm zu auf The Letting Go. Folgen wir den ersten Geigenstrichen. Eine akustische Gitarre wärmt die Stimmung an, dann Oldham: „When the Numbers / get to high / of the dead / flying through the sky / Oh I / Don’t know why / Love comes to me.” Dann, aus dem Nichts, die Folksängerin Dawn McCarthy. Sie umgarnt jede Silbe, ihre Worte werden zur Versuchung. Nie zuvor hat Will Oldham eine andere Stimme so nah an seine gelassen. Das ist ja schon fast ein Duett!

Lassen wir uns weitertragen, zum Blues von Cold and Wet, hören in The Seedling den Balanceakt von beseeltem Nashville und Folklore. Immer wieder brechen Kleinigkeiten die melancholische Grundierung der Lieder auf. Da bläst plötzlich ein Flügelhorn, eine Strophe später summt eine Orgel. Der herkömmliche Country wird bis an seine Grenzen ausgeleuchtet, franst immer weiter aus. Sogar auf digitale Experimente lässt Oldham sich ein.

So ist der Mann mit den vielen Namen ein Musiker, der eine ganze Richtung wieder interessant machen kann.

„The Letting Go“ von Bonnie ‚Prince‘ Billy ist als LP und CD erschienen bei Domino Records

Hören Sie hier „No Bad News“

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Da gerinnt die Milchschaumhaube

Den Namen sollte man sich merken, wenn man kann: Auf dem Weg ins Kaufhaus erledigte ich noch einen kleinen Hauskauf. Unter diesem Pseudonym veröffentlicht der Münchner Matthias Lehrberger Platten, die voller schöner Einfälle und Anspielungen stecken und irgendwo zwischen Jazz und Elektronika leben

Cover Kaufhaus

Mein erster Gedanke: „Hach, was für eine schöne Kaffeehausmusik!“ Ein jazziges Schlagzeug gibt ein lässiges Tempo vor, alle paar Takte schlendert ein Klöppel fünf Töne auf dem Vibrafon hinauf, nur der Synthesizer brazelt einen etwas unruhigen Klangteppich drunter. Im Hintergrund säuselt ein leiser Chor, der ganz bestimmt kein echter ist, sein „Aahhhh-aahhhh“. Dann ein Bruch und das ganze läuft aus in einem entspannten Blues-Standard. B—Werk heißt das erste Stück auf dem neuen Album des Ein-Mann-Projektes mit dem sperrigen Namen Auf dem Weg ins Kaufhaus erledigte ich noch einen kleinen Hauskauf. Dazu kann man sich den Cappuccino schmecken lassen, denke ich.

Doch dann. Je weiter ich in Zufall für alle eintauche, in desto weitere Ferne rücken die Assoziationen zu Kaffee und Kuchen in entspannter Atmosphäre. Mit jedem Stück, mit jedem Hören entstehen stattliche Wellen auf der anfangs so glatten Oberfläche, kleine Stürme sogar. Schon im zweiten, Moftal, stören ein regelmäßiges dumpfes Brummen – vielleicht ein Klangschnipsel aus einem Film von David Lynch – und ein warnend aufjaulendes Klavier die Unterhaltung und lassen die Milchschaumhaube gerinnen. Ab und an klingt ganz leise eine wunderschöne Melodie durch, sie wird aber immer wieder zerstückelt und wandelt sich schließlich in ein dumpfes Kreischen. Nur das Schlagzeug tut, als wäre nichts geschehen.

Bei Low——überleben mischen sich Weltraumklänge mit einer gedämpften Trompete, das Schlagzeug wird mal ein bisschen hektischer, gibt zusammen mit dem Kontrabass das Tempo vor. Das Stück ist beinahe purer Jazz, der Anteil elektronischer Instrumente nur noch gering. Nester beginnt als ein sphärisches Rauschen mit meditativen Synthesizer-Klängen. Nach und nach schleichen sich ein elektronisches Schlagzeug, ein Bass und eine Melodika ein und geben den Klängen einen Körper. Fast alle Stücke sind voller Brüche, keines hält für die gesamten vier, fünf Minuten eine Stimmung, ein Tempo. Immer wieder werden die Instrumente neu kombiniert. Die Stücke taumeln hin und her zwischen Elektronika, Jazz und Pop.

Zufall für alle ist das dritte Album des Münchner Kunststudenten Matthias Lehrberger unter dem Kaufhaus-Pseudonym. Er spielt alle Instrumente selbst, auf Gesang muss man verzichten, man vermisst ihn nicht. Erstmals gibt er den Stücken Namen, auf seinen ersten beiden Alben waren sie einfach durchnummeriert. Liebevoll kombiniert er unzählige kleine Einfälle und Anspielungen zu einem kreativen wie eklektischen Sammelsurium. In Nester ertönt irgendein Klang aus einem Gassenhauer aus den Achtzigern, am Ende von Low——überleben wird man von einem jazzigen Schlagzeugsolo überrascht. In Mikromies säuselt eine sanfte akustische Countrygitarre mal kurz hinein, Wachsein zitiert eine melancholische Trompetenmelodie aus einem düsteren französischen Polizeikrimi der achtziger Jahre. Die Melodika in Dear Existenz scheint aus einem argentinischen Tangosalon zu schallen.

Wenn es auch natürlich lustig wäre, ins Kaufhaus passt die Musik so ganz und gar nicht. Und im Unterschied zu zahllosen anderen Instrumentalmusiken bietet sich diese auch kaum für Filme an. Es ist keine Musik, die begleitet, sondern Musik, die sich mit einem ganz eigenen Körper vor einem aufbaut. Man kann das ganze Album irgendwie als Collage enttarnen, in seine Einzelteile auseinander nehmen und an seinen Brüchen teilen. Man kann es aber mindestens genauso gut mit weit geöffneten Ohren von vorne bis hinten durchhören, als eine mutige, experimentierfreudige Spielart von Popmusik.

Vielleicht ist das ja doch die perfekte Musik für’s Kaffeehaus. Und ich habe nur das Richtige noch nicht gefunden.

„Zufall für alle“ von Auf dem Weg ins Kaufhaus erledigte ich noch einen kleinen Hauskauf ist als CD erschienen bei Schinderwies Productions und im Vertrieb von Broken Silence. Erhältlich ist sie auch bei Finetunes

Hören Sie hier „B—Werk“

Lesen Sie hier ein Portrait der Regensburger Plattenfirma Schinderwies Productions

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Schuhkauf hilft immer

Mit Elektropop und Stilbewusstsein zum Stimmungshoch: Soffy O. macht Musik für gebeutelte Großstädterinnen. Auf „The Beauty Of It“ singt sie vom verkorksten Gefühlsleben und bittet zum Tanz

Cover Soffy O

Es ist Samstagmittag. Ein paar Sonnenstrahlen schlängeln sich zwischen Fensterscheibe und Gardinen in Charlottes Bett und kitzeln ihre Wimpern. Augen auf, auch wenn es schwer fällt nach dieser durchtanzten Nacht. Draußen ist der Tag, ist das Leben, sind die Leute! Schnell den Schlaf weggewaschen, dann hinein in die Röhrenjeans, das Streifenshirt und Muttis abgetretene Schluppenstiefel. Rot auf die Lippen, Kajal auf die Lider, den Haarreif in die wilden Pony-Strähnen geschoben, Lederblouson und Täschchen geschnappt und aus der Tür. Ach, den iPod nicht vergessen!

Keinen Schritt mehr tut sie ohne ihr neues Lieblingsalbum: The Beauty Of It von Soffy O. Energisch, mädchenhaft, selbstbewusst – mit diesen Klängen im Ohr wird der rhythmisch wippende Marsch an den Milchkaffeebars entlang über den belebten Szenelaufsteg zum vollen Erfolg. Blicke sind garantiert. Hallo hier, Küsschen-Küsschen da. Manchmal auch Küsschen-Küsschen-Küsschen.

Bestens gelaunt und ein bisschen verwegen reserviert entert sie den angesagten Klamottenladen. Konsum wird helfen, dass die gute Stimmung bleibt. Ein kurzer Plausch mit der Verkäuferin über die neue Schuh- und Hosenlieferung, dann ein Besuch beim diensthabenden Boutiquen-DJ. Er legt gerade Soffy O. auf. Die spiele er hier oft, sie passe so gut zur Mode in den Regalen: Club-Kultur gemischt mit Sounds der 60er und 80er. Er freue er sich besonders, wenn mal jemand nachfragt. Soffy O. heiße eigentlich Sophia Larsson Ocklind und komme aus Schweden. In Deutschland habe sie schon 2001 einen großen Hit mit den Berliner Technojungs von Tok Tok gehabt, weiß er. Das Album habe Mocky mit ihr produziert. Und auf Don’t Go Away singe er auch.

Dazu kann Charlotte prima die Sonderangebote durchstöbern. Zum nächsten Lied Haven’t Had Much findet sie einen breiten Ledergürtel mit großer Metallschnalle, die passenden Cowboystiefel warten schon zu Hause. Everybody’s Darling empfiehlt einen gepunkteten Petticoat und rote Ballerina-Schühchen. Das kühle Let Me Care bleibt ganz in Schwarz, aber auf einer Seite schulterfrei. Während You Push Me läuft, probiert sie ein Oberteil mit Fledermausärmeln, Neon-Gelb mit pinkfarbenen Blitzen drauf. Vor dem Spiegel in der Umkleidekabine übt sie aufregende Tanzposen für den kommenden Disco-Abend ein, Fun Fun Fun.

Soffy O. spricht Großstadtmädchen wie Charlotte aus der zerwühlten Seele. Ihre naive, starke Stimme erinnert mal an eine generalüberholte Janet Jackson und mal an das knatternde Timbre von Louise Rhodes, der Sängerin des englischen Triphop-Duos Lamb. Sophia Ocklinds Pop ist mal fröhlich, mal düster, mal süßlich, mal herb, mal sehr organisch und dann wieder elektronisch. Das mögen auch die Jungs. Und um die und das ganze verkorkste Gefühlsleben geht es in den Texten: Machtspielchen, Rachegelüste, Unsicherheiten, Trennungen, Erniedrigungen, Sehnsucht. Da läuft die Kreditkarte heiß – Schuhkauf hilft immer.

„The Beauty Of It“ von Soffy O. ist als CD erschienen bei Virgin/EMI

Hören Sie hier „You Push Me“

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Der Duft von Umkleidekabinen

Mithilfe ziemlich vieler Freunde nahm Emanuel Lundgren ein überkandideltes Album voller vielstimmiger Na-Na-Na-, Ba-Ba-Ba- und La-La-La-Chöre auf. Selbst der Bürgermeister von Barcelona kennt die singende Freundesschar von I’m From Barcelona mittlerweile

Der amerikanische Filmemacher John Waters hatte vor Jahren eine schöne Idee. Für seinen Film Polyester belebte er das „Geruchskino“ wieder. Das Publikum erhielt Rubbelkarten, die zu einzelnen Szenen die entsprechenden Düfte verströmten. Odorama-Verfahren nannte man das. Würde es einen solchen Geruchsstreifen für das Debütalbum der schwedischen Band I’m From Barcelona geben, röche der vermutlich etwas verklärt nach Sommerwiese, Baumhaus und einer Schülerumkleidekabine in den 70ern.

Emanuel, Philip, Micke, Johan, Martin, Johan, Erik, David, Christofer, Daniel, Mattias, Tobias, Emma, Frida, Mathias, Jonas, David, Anna, Maria, Olof, Marcus, Cornelia, Tina, Julie, Rikard, Henrik, Jacob, Fredrik und Johan sind dem Pennäler-Alter längst entwachsen. Auf Let Me Introduce My Friends überführen Songschreiber Emanuel Lundgren und seine 28 Mitstreiter aus der Kleinstadt Jönköping ihren jugendlichen Übermut ins Erwachsenenalter. Warum zwei Freunde den Chor einsingen lassen, wenn 26 weitere vor der Türe stehen? Warum nur Gitarre, Bass und Schlagzeug zur Begleitung benutzen, wenn es doch in der Aula der Schule noch Glockenspiel, Piano, Klarinette, Banjo, Harmonika, Trompete, Ukulele, Flöte, Saxofon und diese leicht verstimmte Orgel gibt? Gut gelaunte Zeilen wie „Wir greifen nach den Sternen / Wir greifen nach deinem Herzen“ (We’re From Barcelona) geben die Richtung vor. Da sind Liebeslieder, die den überdrehten Gestus eines Freiluft-Schülerkonzerts in sich tragen; oder Schunkelnummern über Nischenthemen wie Briefmarkensammeln und Baumhäuser. Mit Rock’n’Roll hat das nichts gemein.

I’m From Barcelona startete nicht als ambitioniertes Musikprojekt, sondern als Hobbybeschäftigung eines Verliebten. Ein Scherz unter Freunden. „Wir haben diese Reise im Sommer 2005 begonnen. Niemand von uns wusste, dass wir eine Band werden würden“, heißt es im Beiheft zur CD. Der erste Auftritt der Gruppe im August 2005 hätte auch ihr letzter sein sollen. Es kam anders. Der FC Barcelona hat die Single We’re From Barcelona zur Hymne auserkoren und so kennt mittlerweile selbst der Bürgermeister der spanischen Stadt die singende Freundesschar. Eine skurrile Pointe; vor allem, weil der Bandname sich nicht auf die Stadt, sondern auf die englische Comedy-Serie Fawlty Towers bezieht. Der englisch radebrechende Kellner Manuel entschuldigt jeden seiner Fehltritte mit den Worten „I’m from Barcelona“.

Entschuldigen muss sich die Band längst nicht mehr: Die kindliche Anarchie der Stücke steckt an. Große Botschaften gibt es nicht zu entschlüsseln. Ein Popsong ist ein Popsong, eine Melodie eine Melodie. Zumindest einen Sommer lang werden diese vielstimmigen Na-Na-Na-, Ba-Ba-Ba- und La-La-La-Chöre im Ohr bleiben. Das musikalische Klassenfoto ist geschossen, der Winter noch fern. Nicht nur in Jönköping darf einen Augenblick lang gelächelt werden!

„Let Me Introduce My Friends“ von I’m From Barcelona ist als LP und CD erschienen bei Labels

Hören Sie hier „Collection Of Stamps“

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Heilen mit der Dosen-Ngoni

Der Bassist William Parker ragt heraus aus der New Yorker Szene schwarzer improvisierender Musiker. Einer seiner ungewöhnlichen Ausflüge hat „Long Hidden – The Olmec Series“ gezeitigt: Merengue trifft auf radikalen Free Jazz

Cover William Parker

„The Revolution Continues“ stand in diesem Jahr auf dem Festival-T-Shirt. Zehn Meter lang waren die zusammengestellten Tische, auf denen CDs angeboten wurden, die sonst nur schwer erhältlich sind – meist veröffentlicht von kleinen Plattenfirmen mit Büros in Wohnungen und einer Internet-Adresse. Auf der Empore gab es „William Parker’s Fried Chicken“, schräg gegenüber lag seine neue CD Long Hidden: The Olmec Series zum Verkauf. Zum elften Mal leitete der Bassist das Vision Festival in New York, andernfalls hätte er seinen Namen wohl kaum einer Hähnchenkeule geliehen.

Wie schon immer in der Geschichte des Festivals geht es auch dieses Mal um Mieten für Spielorte und Gagen für improvisierende Musiker – Kostbarkeiten in einer konsumorientierten Welt, die leider niemand zahlen will. Parker fordert das politische Engagement seiner künstlerisch tätigen Kollegen ein, „Parker predigt den Gospel“, heißt es.

Er hat sein neues Album den Olmec, den Ureinwohnern Mittelamerikas, und ihrer Verbindung mit Westafrika gewidmet. Im Zentrum stehen Kompositionen für ein Ensemble aus drei erfahrenen Free Jazz-Musikern und vier sehr jungen Merengue-Spielern. In dem Stück El Puente Sec spielt Parker Perkussion und eine sechssaitige Dosen-Ngoni, die traditionelle Jägergitarre aus Mali. Sein Bass-Solo in Compassion Seizes Bed-Stuy korrespondiert mit dem Parker-Klassiker In Order To Survive und seiner Lebenserfahrung während der Bush-Ära – das ganze Stück hindurch sei ein Aufschrei spürbar, schreibt er: „Lord have mercy, fill these young black men with your spirit, before they fill another prison with young black men.“

Zu jedem Stück hatte Parker eine Geschichte, die er den Musikern bei den Proben erzählte. Von den Olmecs erfuhr er zum ersten Mal während seiner Afrika-Studien Ende der 60er, in seiner Komposition Pok-a-Tok wolle er zum Ausdruck bringen, dass sie große kreative Denker waren, „den Jazzerfindern Thelonious Monk, Bud Powell und Charlie Parker durchaus vergleichbar“.

Die Musik auf der CD bewahrt trotz unterschiedlicher und teils ungewöhnlicher Instrumentierung immer ihren ganz eigenen experimentellen Charakter. Wie ihm das gelingt, ist Parkers Geheimnis. Das gibt er auch nicht preis, wenn er erklärt, in der gestrichenen Bassimprovisation Cathedral of Light käme seine gesamte Musiktheorie auf den Punkt: „Sound ist Licht, und Licht ist Sound.“ Long Hidden: The Olmec Series, das sind intime Töne eines Revolutionärs, der mit jedem Song Heilung verspricht.

„Long Hidden – The Olmec Series“ von William Parker ist als CD erschienen bei AUM

Hören Sie hier „El Puento Seco“

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Taschentücher für den Mann in Schwarz

Da ist kein Kitsch und keine Scham: Auf „A Hundred Highways“ singt Johnny Cash seine letzten Lieder, rau und direkt. Die Abschiedsgesänge sind ergreifend und traurig. Und manchmal kaum zu ertragen

Cover Hundred Highways

Mit Tränen in den Augen sitze ich auf dem Bett und suche Taschentücher. So viel Todesnähe spürt man selten in Musikstücken – da ist kein Kitsch, keine Scham. Die Lieder sind traurig und ergreifend, die Stimme vom Alter brüchig und immer noch eindringlich. Der Mann, der da singt, blickt voller Ruhe dem Tod ins Auge. Sein Abschiedsgesang lässt mich innehalten, ich kann ihn kaum ertragen.

Johnny Cash ist 2003 gestorben. Über ein halbes Jahrhundert lang hat er Lieder aufgenommen. Man muss kein Liebhaber des Genres sein, um den King of Country-Music zu mögen, eigentlich war er gar kein typischer Country-Musiker. Er war ein einsamer Rebell, der „Mann in Schwarz“. Er erzählte Geschichten vom Leben der Unterprivilegierten, vom Tod, von Gott und seelischen Abgründen. Einige seiner letzten Aufnahmen mit dem Produzenten Rick Rubin, der ihn Anfang der Neunziger Jahre aus der Versenkung geholt hatte, sind auf dem Album American V – A Hundred Highways versammelt. Zwölf Lieder, auf das Wesentliche reduziert: Johnny Cash und seine raue Stimme, zurückhaltend begleitet von einer Gitarre. Auf manchen Stücken ist auch ein Cembalo, eine Orgel und ein Klavier zu hören.

Warum nur stimmt mich dieses Album so schrecklich traurig? Elvis Presley war schon tot, als ich seine Musik wahrnahm, ich musste ihn nicht verabschieden. Johnny Cash aber war immer da, spielte unermüdlich über die Jahre. Und obwohl er nie einer meiner ganz großen Helden war, schätzte ich ihn immer. Er hat mich begleitet, vielleicht fällt der Abschied deshalb so schwer.

Cash thematisierte seinen nahenden Tod immer wieder. In dem Musikvideo zu Hurt sah man ihm 2002 seine Gebrechen deutlich an. In Bildern rauschen hier Stationen seines Lebens vorbei und er zieht Bilanz: Wenn er sein Leben erneut zu meistern hätte, er würde alles wieder genau so machen. Das ist vermutlich das Schönste, was man am Ende eines Lebens sagen kann.

Seine große Liebe und zweite Ehefrau June Carter stirbt im Mai 2003, Cash folgt ihr nur wenige Monate später, im Alter von 71 Jahren. Kurz zuvor, von schwerer Krankheit gezeichnet, besingt er den Tod im letzten Lied, das er selbst geschrieben hat: Like The 309. Einsam und müde bittet er Gott um Hilfe in Help Me und interpretiert das tragische Hank Williams-Stück On The Evening Train, in dem die Geliebte im Abendzug für immer „nach Hause“ gebracht wird. Johnny Cash nimmt Abschied. In Würde und in Schwarz.

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Ist das nicht der Typ von…?

Dass man ihn einen Tausendsassa nennt, daran ist Erlend Øye selbst schuld. Ob mit den Kings Of Convenience oder als DJ, stets gelingen ihm Überraschungen. Sein neuester Streich: The Whitest Boy Alive

Cover Whitest Boy Alive

Man kann sich das vielleicht so vorstellen: Vier Jungs daddeln in einem Studio in Berlin mit allerlei elektronischem Gerät vor sich hin. Sie drehen an ihren Knöpfchen und Rädchen, lassen die Synthesizer und Sampler knarren und fiepsen, bis sie heiß laufen, und grienen sich einen über die kuriosen Computerklänge, die sie erzeugen. So geht das erst ein paar Wochen, dann Monate, es kommt aber kaum Zählbares dabei raus. Sie beginnen sich zu langweilen.

Eines schönen Tages bringt einer von ihnen Three Imaginary Boys von The Cure mit ins Studio, alle sind begeistert. Sie hören die Platte immer und immer wieder, begeistern sich für die Direktheit der Stücke und die rohe Aufnahme. Beim nächsten Mal bringt ein anderer ein paar Schätze aus seiner Sammlung von Soul-Platten mit, wieder lauschen alle sprachlos. Ein paar Tage darauf ergeht es einer Anthologie der Gruppe Camper Van Beethoven nicht anders.

Als sie sich danach wieder treffen, wissen alle, was zu tun ist. Ohne weiter drüber nachzudenken, tragen sie ihre elektronischen Spielzeuge in den Keller und kramen die alten, verstaubten Instrumente aus dunklen Ecken. Ein Bass ist dabei, eine Gitarre, ein elektromechanisches Klavier und ein Schlagzeug. Sie fangen sofort an zu spielen, langsam gewöhnen sich die Finger wieder an die Saiten. Sie wollen The Cure und den Soul und vieles andere mehr. Das Aufnahmegerät läuft die ganze Zeit, abends sind alle beeindruckt davon, wie gut das klingt. So frisch.

Plötzlich geht alles ganz schnell. Die Vier nehmen alles live auf, spielen immer gemeinsam. Die Stücke entstehen fast von alleine. Ungeschliffen sind sie, manche flott, manche ruhig. Sie verströmen Wärme und Echtheit. Erlend Øye singt dazu mal wirr-verträumte, mal romantisch-süße und manchmal trocken-spöttische Texte. „Patience is just another word for getting old“, singt er und „I’m done with you, I’m selling my heart“. Solche Dinge.

Immer wieder müssen sie ihr Spiel unterbrechen, weil einer lacht. Manchmal über die Texte, ein anderes Mal, weil es so viel Spaß macht zu spielen. Meistens aber, weil sich einer verspielt. Marcin Öz zupft stoisch seinen Bass, von Stück zu Stück stellt er seinen Verstärker lauter. Sebastian Maschat spielt ein gelassenes Schlagzeug, während Daniel Nentwig seinem Rhodes-Klavier warme bis drollige Klänge entlockt. Erlend Øye spielt die Gitarre und lässt immer mal ein kleines Solo in Zeitlupentempo einfließen. Und jeden Abend loben die anderen ihn für seine schöne, sanfte Stimme.

Bald haben die Jungs zehn einfache, schöne Lieder beieinander und scherzen darüber, sie zu veröffentlichen. „Wir gründen eine eigene Plattenfirma und nennen die Platte Dreams, hihi, das wird niemand verstehen“, witzelt einer. Sie sind so mächtig stolz auf ihre handgemachten Töne, dass sie den Plan schließlich in die Tat umsetzen. Ganz am Ende, beim Mischen, lassen sie Lacher und blödsinniges Gequatsche an den Liedanfängen und -enden einfach drin. Die Verspieler sowieso. Und haben diebische Freude dran.

Schade eigentlich, dass es auch ganz anders gewesen sein könnte.

„Dreams“ von The Whitest Boy Alive ist als CD erschienen bei Bubbles

Hören Sie hier „Burning“

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