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Die lächerliche Finsternis

Verspielter Wahnsinn: Wolfram Lotz’ Stück in der Inszenierung von Christopher Rüping läuft am 16., 19. und 30. Dezember im Thalia in der Gaußstraße.

Die lächerliche Finsternis geht als Radioshow per Stream um die Welt. Geschrieben als Hörspiel, ist es vom Thalia Theater als spielfreudiges Bühnenstück inszeniert. Die fünf furiosen Darsteller gebärden sich, singen und moderieren auf ihrer rauschhaften Fahrt durch einen Dschungel in die Abgründe von Krieg und Globalisierung. Sie wenden sich immer wieder an die Zuschauer und verwickeln sie in ein perfides Spiel um Nachrichtenweisheit und Betroffenheitskultur, Michael Jackson inklusive. Das macht richtig Spaß. Ein wenig Günter Eichs Träume, sehr viel Coppolas Apocalypse Now, im Kern Joseph Conrads Herz der Finsternis. Regisseur Christopher Rüping praktiziert mit den Schauspielern formalen Pluralismus und den fortlaufenden ästhetischen Bruch, man geht ihnen schnell auf den Leim und lacht mit. Doch ebenso schnell vergeht das Lachen. Wolfram Lotz’ Stück zeigt eine neokoloniale Wirklichkeit aus geschäftstüchtigen Blauhelmsoldaten und höflichen somalischen Piraten und spielt mit dem lächerlichen Urgrauen vor dem Fremden. Von der Unmöglichkeit, aus privilegierter Perspektive die Lebenswirklichkeit eines Piraten zu verstehen, gleitet es umstandslos zu dem Unvermögen, das Allernächste zu verstehen. Menschwerdung und Menschsein ist das Ziel, am Ende fallen doch fast alle dem Wahnsinn anheim.

Text: Reimar Biedermann

 

„Die große Verweigerung“

Das Künstlerkollektiv Ligna inszeniert auf Kampnagel ein historisches Ereignis, zu dem es nie gekommen ist.

Singuläre Wahrheiten waren noch nie so sehr Behauptung wie heute. Doch das Leben braucht Träume, es braucht Utopien. Das Künstlerkollektiv Ligna probt in Die große Verweigerung die imaginäre Wendung eines historischen Ereignisses: Was wäre gewesen, wenn der Erste Weltkrieg dem Aufruf zum europaweiten Generalstreik auf dem Kongress der Zweiten Sozialistischen Internationale 1914 in Wien nicht zuvorgekommen wäre? Keine Geschichtsklitterung soll betrieben werden, sondern Reenactment fiktiver Geschichte als Akt der Befreiung zu einer alternativen Realität unter neuen Bedingungen. Was bedeutet eine Totalverweigerung für das Politische und das Kollektiv? Ligna steht insbesondere für Teilnehmertheater und Performances, die sich mit der Spannung zwischen Kollektiv und Individualität beschäftigen und in denen die Teilnehmer die Konsequenzen ihres Handelns am eigenen Leib erfahren. Dieses Mal machen sie das Publikum zu lauschenden Akteuren. In einer phasenweise fast hörspielartigen Inszenierung werden diese zu Verfolgern ihrer ganz eigenen Audiospur.

Text: Reimar Biedermann

 

Boiler Room

Die Internetbroadcasting-Party macht erstmals Halt in Hamburg – zu Gast: Carl Craig, Francesco Tristano, Gregor Schwellenbach und Brandt Brauer Frick.

Nachdem er in über 50 Metropolen der Welt unterwegs war, macht der Boiler Room diesmal Halt in Hamburg. Das Konzept der Party-Internetbroadcasting-Reihe: Meist hochkarätige DJs legen in Off-Locations auf, deren Set wird per Livestream ins Web übertragen – und das ganze ausstaffiert mit exklusiven Gästen. Beim Boiler Room-Gastspiel in der Hansestadt trifft elektronische auf klassische Livemusik. Als Headliner wird Produzent und Detroit-Techno-Veteran Carl Craig erwartet, der sich seit geraumer Zeit auch an den Schnittstellen von Pop, Jazz und Klassik abarbeitet. Außer ihm treten noch auf die Bühne beziehungsweise ans Pult: der luxemburgische Experimental-Pianist Francesco Tristano (Foto), Komponist und Multiinstrumentalist Gregor Schwellenbach sowie das Techno-Klassik-Crossover-Projekt Brandt Brauer Frick aus Berlin. Wer keine exklusive Einladung zu dem Event hat, feiert via Livestream mit, in der eigenen Elektro-Küche.

 

Sven Kacirek

Spieluhr-Beat: Rechtzeitig zu Weihnachten interpretiert der Hamburger Musiker Tschaikowskys „Der Nussknacker“ um zur „Nutcracker Session“.

Die Musik des Hamburgers Sven Kacirek klingt wie aufgezogen: Bei seiner Bearbeitung des Nussknacker-Ballett scheint eine ungeduldige Spieluhr den Beat anzugeben. Der Hamburger Perkussionist hat den Klassiker gründlich auseinandergenommen und etwas luftiger wieder zusammengeschraubt – es klappert, klickt und klöppelt an allen Enden der Nutcracker Sessions. Mit Akribie fügt er akustische Patterns zusammen, die elektronisch klingen. Ikonische Melodien wie der Tanz der Zuckerfee (Sugar Plum Fairy) klingen dabei unerwartet frisch. Im Grunde sind The Nutcracker Sessions der Versuch einer Zeitreise – nicht ins späte 19. Jahrhundert, in dem die Musik entstand, vielmehr wird die Komposition von der Vergangenheit in die Gegenwart gezogen. Auf dem Weg verschluckt sie, was in der Zwischenzeit alles passiert ist: Musique-concrète-Zitate, Zwölftonmusik, Jazz, die dekonstruierte elektronische Musik des Warp-Labels. Gemastert hat die Nutcracker Sessions der Klavier- und Elektronikkünstler Nils Frahm – noch ein großer Name des Neo-Klassik-Genres. Der bezeichnet die Platte gleich als „Wunder“. Gleich zweimal kann man Kacirek in der Vorweihnachtszeit zusehen, wie seine Musik entsteht: am 11. Dezember bei einem Schaufensterkonzert bei Michelle Records, eine Woche später im Golem.

Text: Michael Weiland

 

Metronomy

Das britische Quartett um Sänger und Gitarrist Joseph Mount präsentiert die Stücke des aktuellen Albums „Love Letters“ live im Docks.

Mit dem Hit-Album The English Riviera hatten Metronomy ihren Stil gefunden, auf Love Letters aus diesem Jahr wurde dann die Feinarbeit gemacht: Die Band um ihren Leader Joseph Mount spielt perfektionistischen Softrock mit hohem Elektropop-Anteil, ein bisschen wie Phoenix, aber mit weniger Ambition. Das ist gar nichts Schlechtes: Metronomy sind in ihren aufeinander abgestimmten Bühnenoutfits einfach auch eine sehr gute Party-Kapelle. Oder, um es mit den Worten der Veranstalter zu formulieren: „Metronomy entfesseln das Groove-Monster und stehen verwandten Acts wie LCD Soundsystem oder den Talking Heads zu ihren besten Zeiten in nichts nach: Selten hat man derartig viel nackte Euphorie in verschwitzten Gesichtern gesehen!“ Bei so vielen Vorschusslorbeeren wird die Band sich aber ganz schön ranhalten müssen…

 

„Das engagierte Bild“

Ausstellungskurator Sven Schuhmacher führt durch die Schau im MKG und erklärt den Bildjournalismus der Nachkriegszeit.

Die Ausstellung Das engagierte Bild richtet den Blick auf den Fotojournalismus der Nachkriegszeit. Sie stellt darüber hinaus einen Schwerpunkt der Sammlung Fotografie und neue Medien des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg (MKG) vor, der mit ersten Ankäufen schon in den 1960er Jahren begründet wurde. Gezeigt werden über 40 Arbeiten von namhaften Zunftvertretern wie Jürgen Heinemann, Ryuichi Hirokawa, Thomas Hoepker, Kaku Kurita, Robert Lebeck, Peter Magubane, Marc Riboud und Max Scheler. Auch die Arbeiten des wohl berühmtesten Reportagefotografen der Welt, Sebastião Salgado, sind in der Schau zu sehen, die sich mit der Arbeit der Bildjournalisten in Krisengebieten beschäftigt. Sven Schuhmacher, Kurator der Ausstellung, erzählt in der Führung am 11. Dezember die Geschichten hinter den Bildern und beleuchtet das Genre.

 

KunstHasserStammTisch

„Fensterln“ bis die Seelöwen applaudieren: Der Hamburger Künstler Baldur Burwitz zu Gast bei Noroom-Galerist Jan Holtmann.

Diesmal nimmt der Hamburger Künstler Baldur Burwitz am KunstHasserStammTisch Platz. Doch dass er sich dabei einfach brav zu einem kleinen, entspannten Plauderstündchen niederlässt, kann der Zuhörer bei „Hamburgs Impresario des Absurden“, wie Burwitz auch genannt wird, kaum erwarten. Das kann man aus seinen vergangenen Aktionen und Werken schließen: Legendär ist zum Beispiel, wie er die Besucher einer seiner Ausstellungen über glühende Kohlen laufen ließ. Ein anderes Mal engagierte er klatschende Seelöwen, um die Eröffnungsrede der Karlsruher Kunstmesse in Szene zu setzen. Diesmal wendet er sich dem KunstHasserStammTischler und Noroom-Galerist Jan Holtmann selber zu – und versucht mit „Fensterln“, wie man in Süddeutschland das Brautwerben per Leiter nennt, die Arbeitswelt Holtmanns zu entblättern… Wenn das nicht lustig wird, dann wenigstens schrecklich interessant.

 

Niels Frevert

Kleine Geschichten in Liedform: Der Singer/Songwriter aus Hamburg präsentiert sein aktuelles Album live im Mojo Club.

Niels Frevert schreibt Songs wie Kurzgeschichten: Auf seinem aktuellen Album landet ein UFO auf dem Uebel & Gefährlich, ein Mann hat nach dem Einkaufen einen Unfall und spricht aus dem Koma, ein anderer telefoniert mit seinem Freund in der Psychiatrie. Die Platte heißt Paradies der gefälschten Dinge, weil das Ganze ja eine Kopfgeburt ist: Himmlisch, diese Lügen! Dazu singt Frevert mit seiner warmen, angerauten Stimme, die im Alter immer besser wird; die Kompositionen dazu sind ebenso eigentümliche Singer-Songwriter-Stücke mit leiser Band, die gelegentlich zu Kammerpop und gebändigter Rockmusik aufgerüscht werden. Überhaupt kommt die E-Gitarre wieder häufiger zum Einsatz als auf den nahezu komplett akustischen Alben Du kannst mich an der Ecke rauslassen und Zettel auf dem Boden – auch wenn sie live immer in Greifweite war. So wird es auch im Mojo Club sein, wenn er mit seiner Band auftritt.

Text: Michael Weiland

 

Sophia Kennedy

Die Soul-Pop-Sängerin und diesjährige Gewinnerin des Hamburger Musikwettbewerbs „Krach & Getöse“ kommt ins Nachtasyl.

Es soll Menschen geben, die dem Charme der in den USA geborenen und inzwischen in Hamburg lebenden Sophia Kennedy widerstehen können. Es können nicht viele sein. Denn die Sängerin braucht fast nichts um ihre Stimme herum, um aus ein paar Zeilen einen betörend-eindringlichen Song zu formen, wie den Ende 2013 mit Carsten Meyer (Erobique) aufgenommenen und auf Staatsakt veröffentlichten Knock On My Door. Eine leise summende Orgel im Hintergrund genügt, um Kennedys Stimme die Fläche zu bestellen, auf der sie wirken kann. Vermutlich könnte man auch diese schon sparsame Orgel stumm schalten und sie durch eine leise scheppernde Geschirrspülmaschine ersetzen, wir würden der diesjährigen Krach & Getöse-Gewinnerin und neuen Königin des Schlafzimmer-Soul-Pops trotzdem unser Herz zu Füßen legen. Hätte sie nicht schon eh eines auf dem Sofa neben sich sitzen.

Text: Miriam Mentz

 

Frauenmörder Honka

Spaß, der im Hals stecken bleiben könnte: Die Geschichte um den „Frauenmörder von Altona“ läuft im Lichthof-Theater als reißerische Heimatoperette.

Das Leben schreibt dann doch immer noch die hässlichsten Geschichten: Als 1975 bei einem Wohnungsbrand in Ottensen die zerstückelten Überreste mehrerer Hamburger Prostituierten gefunden wurden, verpackt in blaue Abfallsäcke, stürzten sich die Zeitungen auf den schnell gefassten Serienmörder Fritz Honka. Nicht nur der Boulevard überschlug sich darauf in unmenschlichen Beschreibungen des Killers und stattete den „Blaubart von Altona“ mit „riesigen Fingernägeln“ und „Händen wie Schaufeln“ aus. Das True-Crime-Drama von nebenan bringt das Lichthof Theater nun als Heimatoperette auf die Bühne, die ihre eigene Mordlust satirisch kommentiert: Honka – Der Frauenmörder von Altona basiert auf Fakten und Hörensagen und gefällt sich als reißerisches Singspiel, das in der Bloßstellung von Voyeurismus und Sensationsgier selbige genussvoll befriedigt.

Text: Michael Weiland

HONKA – Frauenmörder von Altona from Fritz Honka on Vimeo.