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105. Prozesstag – Mandy S. erneut als Zeugin geladen

Zwei Tage lang hatte sie bereits ausgesagt, nun ist sie erneut nach München geladen: die mutmaßliche NSU-Unterstützerin Mandy S. Sie soll das Trio nach dessen Untertauchen im Jahr 1998 bei ihrem damaligen Freund einquartiert und Beate Zschäpe ihre Krankenkassenkarte überlassen haben. Zudem nutzte Zschäpe den Namen von S. jahrelang als Tarnidentität. Gegen S. läuft ein Ermittlungsverfahren. Weil sie dennoch nicht die Aussage verweigerte, erhoffen sich die Prozessbeteiligten von ihr Einblicke in die Beziehung von Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt untereinander.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

104. Prozesstag – Gericht prüft weiter Mord an Halit Yozgat

Am 6. April 2006 wurde Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel erschossen, mutmaßlich von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Vieles an dem Fall ist bis heute ungeklärt – dazu zählt auch das Verhalten des zur Tatzeit anwesenden Verfassungsschützers Andreas T. Deshalb hört das Gericht am Mittwoch einen Vorgesetzten von T., den Verfassungsschützer Frank-Ulrich F. Dieser soll T. gelobt haben, dass er sich in einem Gespräch mit dem damaligen Behördenleiter Lutz Irrgang „nicht so restriktiv wie bei der Polizei“ verhalten habe. In der Vergangenheit hatte neben Irrgang bereits eine Mitarbeiterin T.s ausgesagt.

Weiterhin geladen ist ein Polizist, der nach den tödlichen Schüssen einen Zeugen aus dem Café befragte.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

103. Prozesstag – Ex-Freundin von André E. geladen

Der 103. Prozesstag ist allein für eine Zeugin reserviert: Anja S. soll über den als Unterstützer angeklagten André E. aussagen. Die Vernehmung dürfte Erkenntnisse über E.s Verbindung zum NSU liefern. S. war von 1997 bis 1999 dessen Freundin, gemeinsam besuchten sie Beate Zschäpe kurz nach dem Untertauchen des Trios im Jahr 1998 in Chemnitz. Die heute in Großbritannien lebende S. war bereits im Vorjahr geladen worden, jedoch nicht erschienen.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Ein Abschied für immer

Ilona Mundlos merkte nicht, wie ihr Sohn Uwe in die Nazi-Szene abdriftete. Als er mit seinen Kameraden untertauchte, konnte sie es nicht glauben. Nun hat die Mutter im NSU-Prozess ausgesagt.

Als Frau Mundlos ihren Sohn zum letzten Mal sieht, will sie gerade die Fleischtheke abdecken. Die Kaufhalle in Jena-Nord hat schon geschlossen, da tauchen Uwe und sein Kumpel André K. vor der Tür auf. Ilona Mundlos kommt heraus zu ihnen, trägt noch ihren Arbeitskittel. Er verschwinde jetzt, sagt Uwe. Polizisten hatten die Wohnungen von ihm und seinen Freunden Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt durchsucht, zudem in einer Garage Sprengstoff und Propagandamaterial gefunden. Ihm drohe eine Haftstrafe, sagt der Sohn, sieben Jahre, er müsse flüchten. Die Mutter fleht ihn an: „Ruf doch bitte deinen Vati an, tu mir den einzigen Gefallen.“ Dann verschwindet Uwe Mundlos.

Ilona Mundlos sagt, sie habe nicht geglaubt, dass es die letzte Begegnung war: am Mittwoch, den 28. Januar 1998, zwei Tage, nachdem Polizisten die Bombenwerkstatt des späteren NSU-Trios ausgehoben hatten. Und sie sei stets überzeugt gewesen, dass Uwe lebe, auch, als ihr Mann Siegfried sich schon sicher war, er sei tot. Tatsächlich starb Uwe erst am 4. November 2011 gemeinsam mit seinem Freund Böhnhardt, durch Selbstmord nach einem missglückten Banküberfall. Zwischenzeitlich sollen die beiden zehn Menschen erschossen haben.

Im NSU-Prozess spricht Frau Mundlos am 102. Verhandlungstag gefasst über ihr Schicksal, Mutter eines mutmaßlichen Mörders zu sein. Die Zeugin, schlank, schulterlange, blonde Haare, faltet die Hände auf dem Tisch. Die schwarze Stoffjacke mit dem Pelzaufsatz lässt sie den ganzen Tag über an. Gefasst wie nüchtern ist sie in ihren Antworten: Mundlos schmückt nicht aus, dramatisiert nicht, nimmt sich selbst zurück. Das ist fast schon eine Überraschung.

Die Mutter ist das fünfte Elternteil des NSU-Trios, das im Verfahren geladen ist. Als Zeugen waren bereits Brigitte und Jürgen Böhnhardt, Siegfried Mundlos und Annerose Zschäpe aufgetreten, letztere verweigerte die Aussage. Bei den anderen glich die Vernehmung in Teilen einer Tirade gegen Polizei, Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft. Die Eltern, geplagt durch den Tod ihrer Söhne, suchten Schuldige für deren Werdegang. Siegfried Mundlos ging sogar soweit, Richter Manfred Götzl zu beleidigen.

Im Laufe der Vernehmung wird allerdings klar, dass Ilona Mundlos kaum mitbekam oder mitbekommen wollte, wie Uwe in die rechte Szene abdriftete. Wie er sich mit Gesinnungsgenossen in der Kameradschaft Jena zusammenschloss und auf Demos marschierte, das scheint an der Mutter vorbeigegangen zu sein. „Wir sind… oder waren eine glückliche Familie“, sagt sie. Der Uwe habe nie Schwierigkeiten gemacht. Als er sich mit seinem schwerbehinderten Bruder Robert noch ein Zimmer teilte, seien sie Hand in Hand eingeschlafen.

Allerdings bekam die Mutter nur Ausschnitte aus dem Leben ihres Sohns zu sehen: „Uwe war nicht so ein Mutti-Kind, er brauchte mich nicht so“, erzählt sie. Sie sei eher für Robert dagewesen, Uwe habe sich meist an seinen Vater gehalten. Und dann waren da noch die langen Arbeitszeiten: „Ich war wirklich mit der Kaufhalle verheiratet.“

Gut in Erinnerung ist ihr allerdings Beate Zschäpe, die frühere Freundin von Uwe. Die sei „ein liebes, nettes Mädchen“ gewesen, habe sich aber nicht alles gefallen lassen. Als sie in eine Disco gehen wollten, zog Uwe seine Springerstiefel an – da habe sie zu ihm gesagt: „Zieh dich um, so können wir nicht gehen!“ Zwei bis drei Jahre dauerte die Beziehung, bis Uwe 1995 zur Bundeswehr ging. Da kam Zschäpe mit Böhnhardt zusammen. Ilona Mundlos sah sie nie wieder, bis zur Begegnung im Gericht.

Mit Uwes Freunden aus der Nazi-Szene wechselte Ilona Mundlos kaum ein Wort, auch nicht mit Böhnhardt. Wie sehr ihr Sohn für die rechte Ideologie glühte, merkte die Mutter erst nach der Flucht. Am 26. Januar 1998 kam es zu der Garagendurchsuchung. Beate Zschäpe rief Uwe an, der zu der Zeit in einem Internat das Abitur nachmachte. Er fuhr zurück nach Jena, ging zu seiner Mutter in die Kaufhalle: „Mutti, es ist was Schlimmes passiert“, habe er gesagt. Weil er Geld brauchte, gab Ilona Mundlos ihm ihre EC-Karte. Am nächsten Tag brachte die damalige Freundin des heutigen Mitangeklagten Ralf Wohlleben sie zurück. Am Tag darauf verabschiedete sich ihr Sohn.

Es folgten fast 14 Jahre Ungewissheit. Gelegentlich tauchten Fahnder auf, Verfassungsschützer, Polizisten. Dennoch erfuhr Familie Mundlos nichts von Uwes Schicksal. Bis am 4. November 2011 in der Frühe das Telefon klingelte. Eine Frauenstimme meldete sich: „Hier ist die Beate vom Uwe.“ Nach dem Selbstmord der Männer rief Zschäpe erst bei Böhnhardts an, dann bei Familie Mundlos. Sie habe mitgeteilt, „dass etwas Schlimmes passiert ist, dass der Uwe tot ist“, erinnert sich Mundlos. Was, das erfuhr sie erst später aus dem Fernsehen. Ob Zschäpe noch mehr gesagt habe, will Richter Götzl wissen. „Sie sagte, dass er uns lieb hat, bla bla so“, antwortet die Zeugin.

Wieder konnte Mundlos es nicht glauben. Zschäpes Stimme habe anders geklungen, als sie sie in Erinnerung gehabt habe, sagt sie. Erst später kam die Gewissheit, als die Nachrichten auf allen Kanälen liefen und die Polizei die Leichen identifiziert hatte. Da wusste Frau Mundlos, dass es damals wirklich die letzte Begegnung mit Uwe war – Mittwochabend, vor der Kaufhalle.

 

102. Prozesstag – Mutter von Uwe Mundlos sagt aus

Die Mutter des NSU-Mitglieds Uwe Mundlos, Illona Mundlos, sagt am Donnerstag in München aus. Mithilfe der Angaben von Eltern versucht das Gericht, Entwicklung und politische Einstellung der mutmaßlichen Terroristen nachzuvollziehen. Die vergangenen Vernehmungen waren allerdings stets an der Grenze zum Eklat – Siegfried Mundlos, der Vater, hatte in seiner Aussage anderen die Schuld an den Taten seines Sohnes gegeben und den Richter beleidigt.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Eine Zusammenfassung des Prozesstages veröffentlichen wir am Abend auf diesem Blog. Weitere Berichte fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

101. Prozesstag – Thomas S., mutmaßlicher Sprengstofflieferant

Thomas S. gilt als Unterstützer des mutmaßlichen Terrortrios, gegen ihn läuft ein Ermittlungsverfahren. Am Mittwoch ist er zur Vernehmung nach München geladen. Ende 1996, als die NSU-Mitglieder Bomben bauten und in Jena abstellten, lieferte er ihnen laut Anklage zwei Kilo TNT-Gemisch. Den Sprengstoff fanden Ermittler auch in Rohrbomben, die sie bei einer Razzia Anfang 1998 in Beate Zschäpes Garage sicherstellten. Als die drei daraufhin untertauchten, soll S. ihnen zwei Wohnungen bei Bekannten vermittelt haben.

Wegen der Ermittlungen gegen ihn wird S. wahrscheinlich die Aussage verweigern. Im Anschluss ist ein Beamter des Bundeskriminalamts geladen, der den Zeugen kurz nach Auffliegen des NSU vernommen hatte. Dabei hatte S. umfangreiche Angaben gemacht.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

100. Prozesstag – V-Mann-Führer und NSU-Helfer geladen

Zwei Zeugen vernimmt das Gericht am Dienstag, dem 100. Tag im NSU-Prozess. Die erste Aussage macht der Verfassungsschützer Reiner Bode. Er war zeitweise V-Mann-Führer des Thüringer Neonazis Tino Brandt, der bis zu seiner Enttarnung 2001 sieben Jahre lang an das Landesamt für Verfassungsschutz berichtet hatte. Brandt ist der Gründer des Thüringer Heimatschutzes, zu dessen Treffen auch Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt kamen.

Im Anschluss tritt der Chemnitzer Thomas R. in den Zeugenstand. Er gehört zu den Kameraden aus dem NSU-Umfeld, die dem Trio nach dessen Abtauchen im Jahr 1998 einen Unterschlupf boten. In R.s Wohnung kamen die drei laut Anklage direkt nach ihrer Flucht unter und blieben zwei Wochen.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Der Nazi, der auspackte

In der rechten Szene trommelte er die Kameraden zusammen, nebenbei plauderte er mit Geheimdienstlern: Über den früheren V-Mann Tino Brandt hat ein Verfassungsschützer im NSU-Prozess ausgesagt.

Wenn Norbert Wießner heute von seinem früheren V-Mann Tino Brandt spricht, kommt er regelrecht ins Schwärmen. Kooperativ und ehrlich sei Brandt gewesen, er habe „umfangreich und wahrheitsgemäß“ Bericht erstattet. Brandt war eine Quelle aus der rechten Szene, wie man sie sich als Verfassungsschützer nur wünschen konnte: Er gründete den berüchtigten Thüringer Heimatschutz, ein Sammelbecken für Rechte aus dem ganzen Bundesland – auch für Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Er verfügte über beste Kontakte in die Szene und wusste, was die Kameraden planten.

Brandt geriet im Jahr 1994 auf den Schirm von Wießner, der beim Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) für die Anwerbung von Spitzeln zuständig war. Er warb Brandt als V-Mann mit dem Tarnnamen Otto an und schmiedete ein Vertrauensverhältnis, das sieben Jahre lang dauerte – bis der Informant 2001 enttarnt wurde. Vor Gericht hat Wießner nun von der gemeinsamen Arbeit mit Brandt berichtet.

Der 67-jährige Zeuge ist mittlerweile in Pension, doch sein ehemaliger V-Mann ist ihm immer noch bestens in Erinnerung. Brandt überragte andere Szenekenner bei Weitem: „Tino Brandt war die wichtigste Quelle des Amts.“ Ohne seine Hilfe wäre es kaum möglich gewesen, Auskünfte über die rechte Szene weiterzugeben.

Nach der Anwerbung wurde Wießners Kollege Reiner Bode zum V-Mann-Führer. In dieser Zeit schrieb dieser die Berichte über die heimlichen Treffen, bei denen Brandt über die Szene auspackte. Als die Behörde 1998 umstrukturiert wurde, war die Betreuung des Informanten wieder Wießners Job. Persönlichen Kontakt gab es einmal wöchentlich „und telefonisch rund um die Uhr“, erinnert er sich. Treffen waren immer vormittags am Donnerstag, kurz bevor ein Sicherheitsausschuss im Innenministerium die Einsätze fürs Wochenende plante.

Über den NSU sagt keiner was

In den Gesprächen ging es um den Thüringer Heimatschutz, aber auch um die NPD, in deren Kreisen sich Brandt ebenfalls bewegte. Anfang 1998 kam ein weiteres Thema dazu: Die Suche nach Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, die nach einer Razzia untergetaucht waren. Brandt bekam den Auftrag, sich bei dem heute Angeklagten Ralf Wohlleben und dem dubiosen Zeugen André K. umzuhören. Doch in diesem Fall versagte die sonst so brillante Quelle: „Es hieß immer wieder: Keiner weiß was, keiner sagt was“, beschreibt Wießner die Situation. Schließlich mussten die Verfassungsschützer einsehen, dass sie Brandt bei den Kameraden in Verdacht gebracht hätten, wenn sie ihn immer wieder mit Nachfragen beauftragt hätten.

Über die Motivation ihres Kontakts machten sich die Verfassungsschützer indes keine Illusionen: „Das entscheidende Führungsmittel war Geld“, sagt Wießner. Für Bares „hätte er vermutlich 24 Stunden Dienst gemacht“. Zwischen 1998 und 2001 erhielt Brandt laut Wießner 1.200 bis 1.500 Mark im Monat. Damit dürfte Brandt einer der bestbezahlten V-Männer auf der Gehaltsliste des LfV gewesen sein. Er selber sagt, er habe insgesamt 200.000 Mark erhalten.

Gehorsamsverweigerung für den besten Informanten

V-Mann-Führer Wießner war von seinem Informanten so überzeugt, dass er sogar den Gehorsam verweigerte, um Brandt zu schützen. Denn im Sommer 2000 entschied Amtsleiter Helmut Roewer, Brandt „abzuschalten“.

Der Spitzel hatte sich bei den Beamten unbeliebt gemacht, weil er einen Posten als stellvertretender Landesvorsitzender der NPD angenommen hatte. Führungskräfte in rechten Parteien wollte das Amt nicht in seiner Informantenkartei. Wießner sagt, er habe das ergiebige Verhältnis nicht „Knall auf Fall“ beenden wollen. Weil er sich weigerte, musste der frühere V-Mann-Führer Bode die Nachricht an Brandt überbringen.

Die Trennung war jedoch nicht von Dauer: Schon ein Vierteljahr später griff das Thüringer Innenministerium ein und ließ Brandt zurückbeordern. Der Informant war einfach zu wertvoll. Brandt bekam eine neue Akte und wurde unter dem Decknamen Oskar geführt. Erst, nachdem Roewer als Verfassungsschutzpräsident abgelöst worden war, kam das endgültige Aus für die Zusammenarbeit. Im Januar 2001 schaltete Wießner Brandt ab, vereinbarte jedoch sogenannte Nachsorgetreffen, um gelegentlich noch auf dessen Wissen zugreifen zu können.

Das letzte der sechs Treffen war aus Sicht der Verfassungsschützer eines zu viel: Am 1. Mai 2001 plante die NPD in Frankfurt am Main einen Aufmarsch, an dem auch eine Busladung Rechter aus Thüringen teilnehmen sollte. Brandts Informationen waren gefragt. Doch das passte einigen Mitarbeitern des LfV nicht. „Dieser Treff ist vom Amt verraten worden“, sagt Wießner. Der Leiter des Referats für Rechtsextremismus habe einige Mitarbeiter zur Observation des Treffens abgestellt – „das war total unüblich“, sagt Wießner vor Gericht hörbar erregt.

Das Gespräch wurde an die örtliche Zeitung durchgestochen, deren Redakteure Brandt und Wießner beim vermeintlich vertraulichen Austausch beobachteten. Kurz darauf war Brandt öffentlich enttarnt. Wießner ließ sich nach der Indiskretion zum Landeskriminalamt versetzen. Beim Verfassungsschutz war er gemeinsam mit seiner Quelle untergegangen.

 

99. Prozesstag – V-Mann-Führer von Tino Brandt im Zeugenstand

Tino Brandt ist einer der spannendsten Zeugen aus dem NSU-Umfeld: Er gründete den Thüringer Heimatschutz, ein rechtes Sammelbecken, in dem sich auch Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt engagierten. Hinter dem Rücken der Kameraden plauderte Brandt allerdings mit Mitarbeitern des Verfassungsschutzes und kassierte dafür Geld. Brandts ursprünglich geplante Vernehmung war Mitte Februar verschoben worden, weil im Umfeld des Zeugen eine Krankheit aufgetreten sein soll. Vorerst hört das Gericht am Donnerstag deshalb zwei V-Mann-Führer, die Brandt damals betreuten.

Zudem muss erneut Juliane W. aussagen. Die Ex-Freundin von Ralf Wohlleben hatte am Vortag mit Gedächtnislücken und unschlüssigen Angaben Verwirrung gestiftet.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Eine Zusammenfassung des Prozesstages veröffentlichen wir am Abend auf diesem Blog. Weitere Berichte fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Die naive Informantin

Jung und naiv: So beschreibt sich die Ex-Freundin von Ralf Wohlleben im NSU-Prozess. Hinter dem Rücken der Szenegröße arbeitete sie allerdings mit dem Verfassungsschutz zusammen.

Manfred Götzl zu verärgern ist nicht schwer. Oft reicht eine kleine Spitze oder eine leicht durchschaubare Lüge, um sich vom Vorsitzenden Richter im NSU-Prozess eine heftige Zurechtweisung einzufangen. Insofern hatte die Zeugin Juliane W. Glück, dass sich Götzl von ihrem lückenhaften Gedächtnis und ihren hinkenden Erklärungen nicht vollends auf die Palme treiben ließ.

Die 32-jährige Sanitätsfachverkäuferin war von 1997 bis Anfang 1999 die Freundin von Ralf Wohlleben, der an diesem Prozesstag wenige Meter von ihr entfernt auf der Anklagebank sitzt und sich keine Regung anmerken lässt. Mit 15 hatte sie ihn kennengelernt, kurz darauf zogen sie zusammen in eine Wohnung. Dass ihr Partner ein führender Rechtsextremer war, störte sie offenbar wenig. Sie selber, sagt sie, habe mit der Szene wenig zu tun gehabt. Sie sei „eher ein Mitläufer gewesen“, habe allenfalls mal ein paar Aufkleber angebracht. Unvermeidlicherweise lernte sie während der Liaison wichtige Köpfe der Thüringer Naziszene kennen: André K., den V-Mann Tino Brandt. Außerdem Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.

Mehrmals betont W., sie sei damals „sehr jung und naiv“ gewesen. Das äußerte sich vor allem darin, dass sie selten Fragen stellte. Vor allem nicht an dem Tag, dessen Geschehnisse den Großteil der Befragung einnehmen: dem 26. Januar 1998, als das NSU-Trio nach einer Razzia untertauchte.

W. erzählt, Uwe Böhnhardt sei mit einem Kameraden bei der Berufsschule aufgetaucht, in der sie damals Unterricht hatte. Sie müsse jetzt schnell mitkommen, habe Böhnhardt gesagt, es könne sein, dass ihr Freund ins Gefängnis komme. Wohlleben besuchte eine Berufsschule in Erfurt. Böhnhardt ging, gemeinsam mit dem Kameraden fuhr Juliane W.  in Mundlos‘ Auto nach Erfurt. Ob sie Wohlleben dort antrafen, daran kann W. sich heute angeblich nicht mehr recht erinnern.

„Als junger Mensch habe ich mir nichts dabei gedacht“, erzählt W. Doch Richter Götzl wird der Sinn der Aktion nicht klar. „Was wollten Sie Herrn Wohlleben denn sagen? ‚Du musst jetzt ins Gefängnis‘?“, fragt er. W. sagt, sie wisse nur noch, dass sie sich Sorgen um ihren Freund gemacht habe. Auch erinnere sie sich nicht, gefragt zu haben, warum Wohlleben überhaupt in Schwierigkeiten stecke.

Die vielen Dinge, die W. heute nicht mehr überzeugend erklären kann, ziehen sich wie ein roter Faden durch den 98. Prozesstag. Das gilt auch für den Freundschaftsdienst, zu dem sich W. im Anschluss an die Fahrt nach Erfurt überreden ließ: Sie sollte Kleidung aus den Wohnungen von Uwe Mundlos und Beate Zschäpe abholen. Als sie Mundlos‘ Wohnung aufschloss, lief sie der Polizei in die Arme, konnte sich jedoch mit einer Ausrede zurückziehen. Besser lief es bei Zschäpes Wohnung. Dort schleppte sie blaue Plastiktüten mit den Sachen der Kameradin ihres Freundes heraus.

Wer ihr den Auftrag dazu erteilt hatte, von wem sie die Schlüssel hatte – das will W. alles entfallen sein. Sie habe sich jedenfalls „keine Gedanken gemacht, dass jemand flüchten möchte“. „Ich habe Sie belehrt, dass Sie nichts verschweigen dürfen“, weist Götzl die Zeugin zurecht. W. antwortet, sie sage nur, „was ich bei der Polizei gehört habe“. „Mich interessiert, was Sie heute wissen. Und zwar vollständig. Verstehen Sie mich?“, blafft Götzl zurück.

Anfang 2012, also nach dem Auffliegen des NSU, war W. bei der Polizei in Jena zum Verhör. Viele Angaben, die sie dort gemacht hatte, unterscheiden sich krass von ihren Aussagen im Gericht: Erst hatte sie ausgesagt, Wohlleben schon am Nachmittag in der gemeinsamen Wohnung getroffen zu haben, nun soll es erst am Abend gewesen sein. Auch dass das Auto, mit dem sie nach Erfurt gebracht wurde, Uwe Mundlos gehörte, will sie bei der ersten Vernehmung nicht gewusst haben. Dass Götzl zunehmend ungeduldiger mit der Zeugin wird, ruft irgendwann Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl auf den Plan. „Ich würde mir wünschen, dass Sie einen BKA-Beamten so befragen, der sich nicht erinnern kann. Sie sind ganz schön scharf“, wirft er dem Vorsitzenden vor. Das lässt der nicht auf sich sitzen.

Ihn interessieren auch noch die Begegnungen mit zwei Beamten, von denen W. bereits der Polizei erzählt hatte. Im September 1998, als W. gerade eine Lehrstelle als Friseurin begonnen hatte, seien zwei Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zu ihr auf die Arbeit gekommen. Sie hätten gefragt, ob W. wisse, wo das untergetauchte Trio sei. W. sagt, sie habe nicht helfen können. Im Anschluss hätten die beiden ihr 100 Mark in die Hand gedrückt. „Das habe ich blauäugig angenommen, weil ich ja nicht viel verdient habe.“

Eine Bedingung hatten die Geheimdienstler allerdings: Ihr Freund dürfe nichts von dem Treffen erfahren. Daran hielt sich W. Kurz darauf gab es ein zweites Treffen. Die Beamten warteten im Auto an der Saalebrücke auf die Informantin. W. sagt erneut, sie habe keine Informationen gehabt. Erneut zahlten ihr die Männer 100 Mark und baten sie, sich bei Wohlleben nach dem Trio zu erkundigen. Das tat sie, doch der sagte, er wisse nichts. Mehr als die beiden Treffen habe es nicht gegeben, beteuert W. vor Gericht – keinesfalls habe sie ein Dutzend Mal mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet, wie es in Medienberichten geheißen habe.

Die Vernehmung zieht sich, W. soll am Donnerstag erneut in den Zeugenstand treten. Klar ist, dass sie mit der Vernehmungstechnik des Richters nichts anfangen kann. „Sie wollen mich ins Rudern bringen“, sagt sie und blickt auf die Anklagebank. „Soll ich mich auch noch da rüber setzen?“