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Sie wartet am Bauzaun

Man summt die Melodien mit, Worte kommen einem in den Sinn. Schließlich merkt man, dass niemand da ist, der die Melodie singt. Denn Contriva machen Instrumentalmusik

Cover Contriva

Am hellblauen Himmel brauen sich Schönwetterwolken zusammen, unter ihnen steht ein blaugrauer Bauzaun. Was liegt wohl dahinter? Man kann ein bisschen durch die Ritzen schauen, erkennen kann man nichts. Ist das eine der vielen Berliner Großbaustellen? Die Straßenschilder verraten auch nicht viel, auf ihnen fehlen die Buchstaben. Geheimnisvoll schaut es aus, das neue Album von Contriva.

Die Band kommt aus Berlin. Sie macht Instrumentalmusik, Separate Chambers ist ihr drittes Album. Die vier Musiker schreiben ungewöhnliche kleine Poplieder. Mit den monumentalen Klanggebäuden von Mogwai und den Technikspielereien von Tortoise hat das nichts zu tun, und auch nicht mit Jazz oder der Selbstverliebtheit von Rockgitarristen wie Steve Vai. Vielleicht wollte am Anfang einfach niemand singen und es wurde ihr Markenzeichen?

Das Album beginnt introvertiert. Man hört, wie eine raue Hand das Griffbrett der Gitarre entlangrutscht, dann wird ein leicht schiefer Akkord angeschlagen. Sehnsuchtsvoll langgezogene Töne einer elektrischen Gitarre treten hinzu und das verhaltene Klacken des Schlagzeugs. Das ganze Stück Good To Know hindurch hört man die rutschenden Hände. Irgendwann spielt die Western-Gitarre ein Solo, es klingt, als würde jemand beginnen zu singen.

Immer wieder hat man das Gefühl, dass da eine Gesangslinie ist. Man summt sie mit, Worte kommen einem in den Sinn. Schließlich merkt man, dass niemand da ist, der die Melodie singt. Irgendein Instrument ist immer da, das die Melodie übernimmt. Meist ist es die akustische Gitarre, manchmal die elektrische oder das Klavier.

Die Stücke auf Separate Chambers sind spröde, sie klingen trocken und direkt. Da ist kein Bombast, keine Klangwand, kaum Hall. Jedes einzelne Instrument lässt sich heraushören. Das ganze Album ist gelassen vorgetragen, Contriva haben keine besondere Eile.

Selten wird es flotter oder gar rockig. Unhelpful lebt von Masha Qrellas treibend schepperndem Bass und Hannes Lehmanns ungeheuer trickreichem Schlagzeugspiel, immer wieder wird der Rhythmus verzögert, dann rennen alle auf einmal los und auch die Gitarren von Rike Schuberty und Max Punktezahl stimmen in eine mitreißende Melodie ein. Auch bei I Can Wait erzeugen ständiges Beschleunigen und Abbremsen Spannung.

No One Below ist anfangs schleppend und melancholisch, Orgel und Dobro führen die Melodie. Dann ein kurzer Ausbruch, quietschige Gitarren, nach 30 Sekunden haben sie sich wieder gefangen. Eine herausragende Stellung auf dem Album hat das achtminütige Stück Centipede. In den vielstimmigen Chor gekratzter Violinen-Saiten mischt sich ein einfaches Gitarrenmotiv, vier gezupfte Töne, immer wieder. Nach zweieinhalb Minuten setzen ein warmes Klavier und der Bass ein und geben den Klängen Struktur. Der Refrain – wenn man das so nennen mag – verzaubert mit einem dieser euphorisch stimmenden Tonartwechsel. Ein hypnotisierendes Stück.

Bei Before und I Can Wait singt dann doch jemand, Bassistin Masha Qrella. Sie tut das nüchtern melodiös, wie sie es auf ihren beiden Soloalben bereits vorgeführt hat. Ihre Texte sind lyrisch. „I can wait, because I’m out of time anyway“, singt sie. Das erklärt also die Gelassenheit von Separate Chambers.

„Separate Chambers“ von Contriva ist erschienen bei Morr Music

Hören Sie hier „Unhelpful“ und „I Can Wait“

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Im Diskonebel

Justin Timberlakes Album „Futuresex/Lovesounds“ macht Feierlaune. Oft jedoch trägt er zu dick auf und versucht, wie Michael Jackson zu klingen

Cover Timberlake

Schüchtern blickt sie über die Tanzfläche. Sie ist zum ersten Mal hier. Bunt blitzen die Scheinwerfer durch den Diskonebel. Und da ist auch dieser junge Mann. Er ist Mitte zwanzig und hat lockiges, helles Haar. Kratzende Fanfaren und ploppende Bongos geleiten ihn, die ersten Takte von Sexyback.

Den Typen kenn ich, denkt sie. Der hat doch bei ‚NSync gesungen. Dieser Jungsgruppe, deren Poster meine kleine Schwester sich zuhauf an ihre Zimmerwand getackert hatte? Aha, neuerdings trägt er ein Kinnbärtchen. Sie unterdrückt ein Kichern, da hat sich der junge Mann schon ihren Arm geschnappt und zieht sie in die schwitzende Menge.

„Baby, I’m your Slave!“, singt er. Hoppla, der geht ja ran, denkt sie. Inzwischen ist ihr sein Name eingefallen, Justin Timberlake. Die Musik schwillt an, räkelt sich um die Diskokugel. Der Bass schlendert zurück in den dunklen Soul der Siebziger. Der junge Mann umschleicht das Mädchen. Seine helle Stimme bezirzt sie, er zuckt, geht auf die Knie. Sexy Ladies ist ein wummernder Balztanz. Immer wieder pirschen seine Lippen nah ans Mädchenohr. Und säuseln pfötchenweich: „Do you like it like that?“ Unsicher blickt sie sich um.

Am Rand der Tanzfläche stehen nun zwei Männer, die Arme verschränkt. Sie heißen Timbaland und Will.i.am und haben die dreizehn Lieder aufgenommen. Die zwei nicken dem Mädchen zu, klatschen in die Hände, sprechen vor sich hin: „Aha, yeah“. Sie tanzt weiter. Ihre Knie wippen zur knarzenden Orgel in Damn Girl. Sie verliert sich in den lässigen Streichersamples von Chop Me Up. Bei Summer Love streicheln Keyboardklänge sanft ihr Haar. Wie das schwingt! Tanzen, tanzen, tanzen. Vielleicht hätte sie andere Schuhe anziehen sollen.

Puh, Pause. Der Anfang von Until The End Of Time ertönt. Ein seichtes Schlagzeug rollt über einen bonbonrosafarbenen Flokati aus Cello und leiser Gitarre. Was ist da mit seiner Stimme los? Er möchte klingen wie Michael Jackson, schafft aber nur ein asthmatisches Falsett. Sehnsüchtig wandern die Augen des Mädchens zur Tanzfläche. Sie wartet, dass der Synthesizer wieder ein paar Ladungen Flitter und Lametta schießt. Den Schmachtfetzen My Love erduldet sie tapfer. Doch als Timberlake Losing My Way anstimmt, schlüpft sie in ihre Jacke. Dieses wachsweiche Rührstück über einen Jungen namens Bob – es ist einfach zu viel.

Vom berauschenden Diskofieber bleibt am Ende nur schwülwarmer Dunst.

„Futuresex/Lovesounds“ von Justin Timberlake ist erschienen bei Sony/BMG

Hören Sie hier „Damn Girl“ und „My Love“

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Hackfleisch mit Geknödel

Alle fünfzehn Jahre meldet sich Meat Loaf mit einer neuen Folge von „Bat Out Of Hell“ zurück. Musikalisch ändert sich wenig, auch Teil drei läuft auf Doppelschmachtstufe

Bat Out Of Hell III

Ach, Herr Loaf,

dreißig Jahre ist es her, da kamen Sie, notdürftig als Fledermaus verkleidet, aus der Hölle angekreucht. Im Jahr 1993 kehrten sie mit Bat Out Of Hell II – Back Into Hell dorthin zurück. Sie erwischten mich damals, ich kaufte mir zwei ihrer Platten. Vielleicht passte ihr Geschmachte zu meiner spätpubertären Befindlichkeit, ich kann es mir auch nicht mehr erklären. Kurz darauf verscheuerte ich sie im Second- Hand-Laden, wahrscheinlich stehen sie da heute noch. Wissen Sie noch, I’d Do Anything For Love? Brrrr …

Und jetzt kehren Sie zurück, in Gestalt eines Monsters. Wir haben das Jahr 2006, Herr Loaf, mit Verlaub. Bei Ihnen ist alles beim Alten: leidende Gesänge, streicherumschmeichelte Gitarren, Rockoper, Bombast, Bombast, Bombast. Dazu haben Sie sich ein paar vermeintlich moderne Elemente andrehen lassen, hier ein elektronisches Schlagzeug, dort versuchen Sie gar zu rappen. Das Singen ist schon nicht Ihr größtes Talent, aber das?

Nach anderthalb Stücken hatte ich schon keine Lust mehr, Ihnen zuzuhören. Da lagen noch zwölfeinhalb vor mir. Ihre Produzenten blähen jede noch so klägliche Idee mit viel Brimborium auf sieben Minuten aus, jedes noch so lahme Element wird bis zum Überdruss wiederholt, am Ende singen Sie für drei Minuten immer wieder den Refrain. Eine einzige Hackfleischoper.

Und dann, das dritte Stück, Herr Loaf. Meat! Ich bin wirklich zusammengezuckt. Warum denn das alte Geknödel von Celine Dion nochmal aufwärmen? Its All Coming Back To Me, im Duett mit einer gewissen Marion Raven, Doppelschmachtstufe, Titanic-Flöten im Hintergrund. Ich nehme Ihnen Ihr Leiden wirklich ab, mir geht es ja nicht anders.

Ich mochte Ihre Musik? Unvorstellbar! Ich schäme mich für mein zehn Jahre jüngeres Ich. Und für Sie gleich mit. Ich gebe zu, manchmal muss ich mitsummen. Und bremse mich dann, weil ich das Gefühl habe, einem billigen Trick aufgesessen zu sein. Ihre Autoren Jim Steinman und Desmond Child wissen wirklich, wie man catchy melodies schreibt.

Die beiden klauen sich unverfroren durch die Musikgeschichte, haben Sie das nicht gemerkt? Der Drohung Bad For Good verleihen Sie als schlechte Queen-Kopie Nachdruck. In The Land Of The Pig, The Butcher Is King, da klingt schon der Titel, als wären Sie gerne Iron Maiden. Die können das aber viel besser, wirklich. Und auch Bon Jovi werden sie mit Alive nicht übertreffen können. Bei den übrigen Stücken kopieren Sie sich immerhin selbst.

Und, Herr Loaf, die Texte. „Deine Liebe ist blind wie eine Fledermaus“, hat ihnen da jemand unter die Noten geschrieben, „du bist alles, was ich brauche“. Gitarrensolo! Warum tragen Sie immer so dick auf? Hören Sie sich doch bitte mal kurz selbst zu: „I want you to cry over me, die over me, baby.“ Da haben Ihnen Ihre Schreiber aber ein ganz schönes Ei ins Nest gelegt. Der künstlerische Tiefpunkt ist If It Ain’t Broke, Break It. Muss die CD unbedingt 70 Minuten lang sein?

Am Ende, Herr Loaf, Sie Schelm, überraschen Sie mich dann doch noch. Cry To Heaven ist für 49 Sekunden ein wirklich schönes Stück. Umso schmerzlicher, dass Sie die übrigen anderthalb Minuten nutzen, es mit Flöten und Chören gegen die Wand zu fahren. Vielleicht sollten Sie darauf aufbauen. Wie wäre es zum Beispiel, Bat Out Of Hell 4 von Will Oldham oder Jason Molina produzieren zu lassen? Oder von Rick Rubin? Das würde Ihr Ansehen mehren. Und sicherlich würde denen auch ein besserer Titel einfallen.

„Bat Out Of Hell III – The Monster Is Loose“ von Meat Loaf ist als CD erschienen bei Universal

Hören Sie hier „Cry To Heaven“

Das gesamte Album kann man hier vorhören

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Mit einem Brot am Zebrastreifen

Über die Jahre (16): Bis 1999 kannte beinahe niemand Funny van Dannen. Dann veröffentlichte er sein Album „Uruguay“ und begeisterte Kritik wie Publikum. Die CD ist der bisherige Höhepunkt im Schaffen des lakonischen Liedermachers mit seinen intellektuell angehauchten Witzen und Spitzen

Fanny van Dannen Uruguay

Kann ein Mann mit einer Gitarre der Welt noch etwas Neues geben? „Inzwischen bin ich Künstler und das ist wunderschön – dabei wollte ich ursprünglich nur nicht arbeiten gehen.“ Franz-Josef Hagmanns, so heißt Funny van Dannen bürgerlich, ist kein Popstar geworden, das war nie seine Welt. 1999 veröffentlichte er Uruguay – die letzte Platte, bevor sich das deutsche Feuilleton dazu berufen fühlte, seine Stücke wertzuschätzen.

Sein Lebenslauf ist nicht ungewöhnlich. Geboren wurde er nahe der Grenze zu den Niederlanden, Ende der Siebziger zog er nach Berlin. Er lebte als Künstler, malte, musizierte, schrieb und setzte vier Kinder in die Welt. Kann so jemand Liedermacher werden? Jemand, der eigentlich gar nichts zu erzählen hat und das auch noch zugibt?

Der Mann steht auf der Bühne, allein mit seiner Gitarre passender wäre vermutlich die Bezeichnung Klampfe. „Wenn ich hier stehe, und Sie so sehe, bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt.“ Er spielt seine Lieder für und dann wieder mit dem Publikum. „Und wenn Sie mich fragen, warum ich das sage: Ich bin nicht mehr jung und ich brauche das Geld.“

Er ist ein Meister alltäglicher Melancholie, von Molltönen und feinen Wortspielen. Wie ein Bach plätschert seine Musik vor sich hin, der Geschichtenerzähler und seine Gitarre ergänzen sich perfekt. Wenn es ihm notwendig scheint, zückt er auch mal die Mundharmonika. Die Musik lädt zum Mitsummen ein, wer sich einlullen lässt, verpasst die Spitzen in seinen Texten.

„Wo kommen die Gedanken her,
was wollen sie von mir,
wenn sie morgen wiederkommen,
bin ich nicht mehr hier“

Seine Texte stecken voller deprimierender Erfahrungen. Die großen und kleinen Dramen menschlichen Zusammenlebens und Missverstehens besingt er. Funny van Dannen ist ein aufmerksamer Beobachter, der überspitzt formuliert und dem oft verschämt lachenden Publikum den Spiegel vorhält. Wer muss nicht schmunzeln, wenn eine misslungene Liebesgeschichte auf ihre alltägliche Substanz („Ich stand mit einem Brot am Zebrastreifen, sie war wirklich fort, ich stand mit einem Brot am Zebrastreifen, ich stand noch lange dort“) reduziert wird?

Uruguay war seine vierte CD. Warum sie so hieß? „Wahrscheinlich ist es nur das Wocht, dem ich verfallen bin.“ So viel sprachlicher Lokalkolorit durfte auch nach 20 Jahren Berlin noch sein. Nach dem Erscheinen von Uruguay wurde Funny van Dannen einem breiteren Publikum bekannt, die Kritik erklärte ihn zu Deutschlands oberstem Liedermacherantipopstar. Hört man die CD heute, hat man das Gefühl, dass sie der Höhepunkt des lakonischen Liedermachers mit seinem oft intellektuell angehauchten Witz war.

„Uruguay“ von Funny van Dannen ist als LP und CD erschienen bei Trikont

Hören Sie hier „Wo kommen die Gedanken her?“

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Verkatert unter Sternen

Magnolien faszinieren den Liedermacher Jason Molina. Der Name seines aktuellen Projektes Magnolia Electric Co. spielt darauf an. Auch die Stücke auf dem Album „Fading Trails“ sind empfindliche Gewächse von zarter Blüte

Magnolia Electric Fading

Die Plattenhülle passt nicht. Eine barbusige junge Frau steht in einer milchig grau kolorierten Höhle und greift sich in den sparsam verhüllten Schritt. Wo sind die träumerischen Landschaftsaufnahmen geblieben? Die düsteren Zeichnungen, die jede Platte von Jason Molina zu einer Freude machten? Das Äußere von Fading Trails erinnert eher an ein frivoles R’n’B-Album als an die düsteren Lieder, die Molina seit mehr als zehn Jahren veröffentlicht.

Die meisten seiner Alben sind unter dem Pseudonym Songs: Ohia erschienen, seit 2003 nennt er sein Projekt Magnolia Electric Co. Dazu ein kurzer Ausflug in die Pflanzenkunde: die hawaiianische Zierpflanze ‚Ohi’a lehua und die gemeine Magnolie zählen zu der Gattung Magnoliaceae. Beide sind empfindliche Gewächse von zarter Blüte.

Früher war der Mann aus Ohio Gitarrist einer Heavy-Metal-Band, dann tauschte er die halbstarke Krachgitarre gegen eine halbakustische ein. Er entdeckte die Liedermacherei und arbeitete fürderhin zusammen mit den Großen des sogenannten Alternative Country, mit Will Oldham, Alasdair Roberts oder den Schotten von Arab Strap. Inzwischen hat er über 20 Platten herausgebracht.

Seine Lieder wären wie einsame Fahrten auf einem Heuwagen durch den mittleren Westen der USA, schrieb einmal die Chicago Tribune. Molina zeigt auf verkommene Häuser und Hillbilly-Kneipen und erzählt zartbittere Geschichten von Vorstadtliebe und Abschiednehmen. Und von Wölfen, ländlichen Vollmonden, Eulen und den Sternen. Molinas Stimme klingt stets leicht verkatert und schütter, sie lässt keinen Kitsch zu. Wenn sie laut wird, erinnert sie an Neil Young – mit einem hartnäckigen Schnupfen.

Die neun Stücke auf Fading Trails wurden in kleinen Studios und Wohnzimmern aufgenommen, das Album klingt weniger homogen als frühere. Das Anfangsstück Don’t Fade On Me ist ein eindringlicher Monolog an die verflossene Geliebte, unterlegt mit einem seichten Schunkelrhythmus. Das Stück Old Horizon ist spärliche Kammermusik, es besteht nur aus einem Klavier und Molinas tragischem Gesang. Zu Memphis Moon streichen Jazzbesen über die Trommelfelle, die beinahe tropischen Gitarren klingen wie deprimierte Beach Boys. Im Refrain von A Little At A Time kann man zuweilen Akkorde kraftvollen Südstaatenrocks hören. Und das abschließende Steady Now ist eine wunderbar spartanische Nashville-Nummer der lange Weg eines Wanderers, der die Geister in den Baumwipfeln beschwört.

Der Vielseitigkeit von Fading Trails könnte man stundenlang lauschen, wäre das Album nicht nach einer halben Stunde schon zu Ende.

„Fading Trails“ von Magnolia Electric Co. ist als LP und CD erschienen bei Secretly Canadian

Hören Sie hier „Lonesome Valley“

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Tom Waits auf Mango-Cola

Vert hatte seine neue Platte fast fertig, da stahl man ihm den Computer. Sein mutiger Neuanfang heißt „Some Beans & An Octopus“ und ist eine Revue mit Vibrafon, Orffschen Instrumentierungen, mehrstimmigem Gesang, Rap und Quietscheenten

Cover Sundet

Viele Musiker behaupten, Genrebegriffe wären nur Werkzeuge für Journalisten. Wie die Rohrzange für den Klempner. Und Elektronik kein Genre, sondern eine Herangehensweise, eben auch nur ein Werkzeug. Mit Computern und Samplern lässt sich schließlich vieles anstellen: Techno, HipHop, Tango, Rock, Klassik, wahrscheinlich gibt es sogar ein Programm, das Alphorn spielen kann.

Adam Butler hat unter dem Namen Vert drei Platten mit avantgardistischer Elektronik aufgenommen. Dann hat man ihm sein Werkzeug entwendet. Einbrecher drangen in sein Studio ein und nahmen Computer und Mischpult mit. Mit dem Computer ging die Festplatte, mit der Festplatte die Entwürfe für seine neue Platte. Was sollte er tun? Buchhalter werden?

Butler hat einen Neuanfang gewagt. Er heißt Some Beans & An Octopus und klingt überhaupt nicht nach Frust. Schon der Titel klingt phantasievoll und nach einer exotischen Mahlzeit mit Ballaststoffen, Eiweiß und Proteinen. Die Musik bestätigt die Assoziation, greifbarer ist sie geworden, organischer.
Wir hören ein Saxofon und ein Vibrafon, Orffsche Instrumentierungen, mehrstimmigen Gesang, Rap und Quietscheenten. Der Ragtime stolpert auf dem Klavier, Vert entführt uns in einen Saloon der Unterwasserwelt. Eben winkt noch der Titel-Oktopus an der Luke, da gibt es schon wieder Beutelrattenfleisch mit Bohnen. Dazu trommelt ein Elefantenmensch auf Knochen. Ach, und da drüben schlendert Tom Waits vorbei. Er ist nüchtern und hält ein Glas Mango-Cola in der Hand. In welche Schublade passt das bloß hinein?

In gar keine. Some Beans & An Octopus ist eine verschrobene Revue. Hören Sie diese CD am besten in der Badewanne, im Walkman auf dem Weg zum Sonntagsgottesdienst oder beim biodynamischen Gärtnern. Seufzen Sie im Chor zu October. Die Musik hat so viel Charme und Poesie, zeitweise wähnt man sich in einem tschechischen Märchenfilm.

Im Laden wird Some Beans & An Octopus wahrscheinlich dennoch bei „Elektronik“ oder gar „Techno“ zu finden sein, denn da stehen die anderen Platten der Kölner Plattenfirma Sonig.

„Some Beans & An Octopus“ von Vert ist als LP und CD erschienen bei Sonig

Hören Sie hier „Gretchen Askew“ und „October“

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Die Tränen weggeschmunzelt

Über die Jahre (15): Lustige Instrumente, beschwingte Melodien, bunte Musikvideos: Mit dem Äußeren von „The Head On The Door“ führen The Cure ganz schön in die Irre. Nein, fröhlich sind ihre Lieder über Albträume, Angst und Tod wirklich nicht

Cover Cure

Ich war 14, als ich das erste Mal Liebeskummer hatte. Sie hieß Marie und ahnte nichts davon. Es ihr sagen? Himmel! Ich wusste nicht, wohin mit meinem Frust. Meine Schwester brachte mich auf eine Platte, Disintegration von The Cure. Da heulte mir einer aus der Brust, haderte mit der Welt und den Beziehungen. Genauso fühlte ich mich. Robert Smith – der Sänger und Schreiber der Gruppe – nahm mich und meinen Weltschmerz ernst. Sein Leiden war so echt wie mein eigenes.

Draußen feierte und vereinigte sich Deutschland, an mir ging das vorbei. Ich verbrachte die Herbsttage in meinem Zimmer, dachte an Marie und erforschte Album für Album die Geschichte von The Cure, rückwärts. Ich entdeckte Kiss Me Kiss Me Kiss Me, ein brachiales Album. Damit konnte ich wenig anfangen. Und dann The Head On The Door von 1985. Schon beim zweiten Hören hatte ich mich in das Album verliebt. Disintegration hatte meinen Kummer verstärkt, The Head On The Door fing ihn auf und spielte mit ihm.

Die krakelige, hellblaue Schrift auf der Hülle, die farbenfrohen Musikvideos zu manchen Stücken und die beschwingte Instrumentierung leiten in die Irre. Es ist kein fröhliches Album. „Yesterday I got so old / I felt like I could die“, singt Robert Smith in Inbetween Days. Und „Yesterday I got so scared / I shivered like a child / Yesterday away from you / It froze me deep inside.“ Brrrr. Dazu schrammelt eine warme Akustikgitarre, ein Kinderxylofon dengelt nette Töne, der Synthesizer schrillt. Im drolligen Video zu dem Stück fliegen bunte Socken aus dem Klavier, die Gitarre sprüht farbige Funken. Die Musiker hüpfen überdreht umher. Bei anderen Stücken ist es ähnlich: Worte von Albträumen, Tod und Angst sind unterlegt mit Melodien, die klingen wie Kinderlieder oder Abzählreime. Kling-Klang-Klong, drei Töne runter, Pause, zwei wieder hoch.

Smiths weinerliche Stimme überschlägt sich immer wieder. Manchmal kann er das Lachen kaum unterdrücken, dann wieder heult er wie ein Schlosshund. Nur wenige Stücke sind durch und durch trist. A Night Like This ist die Klage eines Verlassenen, „I watch you / Like I’m made of stone / As you walk away“. Auch The Blood ist ernst und sinister. Das letzte Stück, Sinking, lässt die Platte in Molltönen ruhig ausklingen „I trick myself / Like everybody else / The Secrets I hide twist me inside / They make me weaker“. Die letzte Minute ist Flehen: „If only I could remember / Anything at all.“

Das Spielerische an The Head On The Door berührte mich. Da schien einer Abstand zu gewinnen von seinen Problemen durch ein Schmunzeln, das gefiel mir. Auch er fühlte sich miserabel, heulte nächtelang, verfluchte die Welt und die Menschen. Und dann kloppte er auf ein Xylofon, und alles war etwas erträglicher.

Das Stück Close To Me, sagte Robert Smith damals, sei „pretty much wishing I wasn’t born with a groovy bass line“. Ungefähr so fühlte sich mein Verhältnis zu Marie auch an, schmerzhaft, aber auch komisch. Es dauerte nicht lange, da war ich drüber weg. Ich habe sie schnell vergessen und keine Ahnung, was sie heute macht.

„The Head On The Door“ von The Cure ist erhältlich bei Universal. Zurzeit werden die Alben der Band in chronologischer Reihenfolge als Doppel-CDs mit vielen Bonusstücken wiederveröffentlicht, als letztes „The Top“ (1984), „The Head On The Door“ (1985) und „Kiss Me Kiss Me Kiss Me“ (1987)

Hören Sie hier „Kyoto Song“

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Keine Tina, keine Nina

Kurz hinter Hamburg stieg Julia Guther zu, ich habe ihr den ganzen Urlaub über zugehört. Ihre Stimme hallt noch jetzt durch meinen Kopf, immer wieder summe ich mit ihr

Cover Sundet

Drei Wochen fuhr ich in diesem Sommer kreuz und quer durch Schleswig-Holstein und die Ostsee rauf und runter. Wo es mir gefiel, blieb ich mit meinem Camping-Bus stehen, wenn ich mich langweilte, fuhr ich weiter. Etliche Souvenirs habe ich mir mitgebracht, einige unfreiwillig. Ein endlich abklingender Sonnenbrand auf der Nase und im Nacken. Immer noch Sand im ganzen Auto, unter den Sitzen, im Bett. Eine neue Sonnenbrille. Und dann, ja, Julia Guthers Stimme. Ich nahm sie mit, irgendwo zwischen Hamburg und Kiel. Ich drehte meinen alten CD-Spieler lauter und lauter, bis es lauter nicht mehr ging. Ich lauschte ihr Mal um Mal, und auch jetzt hallt sie noch durch meinen Kopf, bringt mich wieder zum Summen.

Julia Guther ist die Sängerin einer Band, die ihren Nachnamen trägt. Gesprochen nicht mit englischem Ti-Äitsch, sondern so, als wäre das h gar nicht da. Ihr neues Album Sundet hatte ich nur dabei, weil es auf dem Weg in den Urlaub aus meinem Briefkasten fiel und ich keine Lust mehr hatte, noch einmal in die Wohnung zu gehen. Sundet ist norwegisch und heißt „Der Sund“, passt ja irgendwie nach Schleswig-Holstein.

Sie hat eigentlich gar nicht so eine Stimme, von der man einander raunend erzählt. Sie klingt nicht nach Ina Deter oder Tina Turner, weder nach Nina Simone noch nach Nina Hagen. Sie ist nicht rauchig, brüchig, düster, schafft aber auch keine fünf Oktaven. Sie ist keine sagenhafte Rockröhre oder Vokalakrobatin und auch kein schüchtern-müdes Indiepop-Stimmchen. Sie liegt so zwischen allem. Was ist also das Besondere an Julia Guther? Keine Ahnung.

Who Was First war das Stück, mit dem sie mich erwischte, der Daumen, der mich zum Anhalten zwang. „Faintly recalling myself, the strength of your voice, how could I convince you, you don’t have to fall silent“, sie singt diese ersten Zeilen zu einer sanft gezupften akustischen Gitarre, gehaucht, aber nicht albern. Eine warme Orgel kommt hinzu, ein Schlagzeug und andere Instrumente. Hinterher erinnert man sich nur an die gesungene Melodie der ersten Zeilen und des Refrains. So ging es mir bei fast jedem Stück. Die Melodien, die hängen bleiben, sind die von ihr gesungenen. Ich singe sie mit und vor mich hin, frage mich zum Glück nur selten, was das alles bedeuten soll.

Sie singt ihre Zeilen, als sei ihr die Musik völlig egal. Hat ihr eigenes Tempo, manchmal hängen die Zeilen hinten scheinbar über, sie verzögert und beschleunigt, wie es ihr gefällt. Singt in Trick Or Treat mit sich selbst, kümmert sich hier und da einfach gar nicht um die Melodie. In A Brief Encounter pausiert die Musik zwischendurch, um der Stimme Raum zu geben. Meistens folgen ihr die Instrumente, manchmal auch nicht.

Das erste Album von Guther, vor ein, zwei Jahren, war mir nicht aufgefallen. Das waren schöne Popliedchen, klasse Melodien, das schon. Aber nichts wirklich Herausragendes, zu glatt insgesamt. Und jetzt das. Da sind Ecken und Kanten, ein auch mal grummelnder Bass, das Vibrato einer Steel-Gitarre, diverse kleine Blasinstrumente, ein oft jazziges Schlagzeug. Vielleicht macht die Gelassenheit den Unterschied, vielleicht sind die Stücke einfach nur zurückhaltender arrangiert oder produziert.

Indiepop dieser Sorte gibt es mittlerweile wie Sand am Meer. Hier aber macht die Stimme einen Unterschied. Sundet könnte für noch einen Sommer gut sein.

„Sundet“ von Guther ist als LP und CD erschienen bei Morr Music

Hören Sie hier „Who Was First“ und „Statement“

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Amerika ist ein Vorort von Paris

Helena Noguerra ist Romanautorin, TV-Moderatorin, Fotomodell und Musikerin. Unter dem Pseudonym Dillinger Girl träumt sie zusammen mit Federico Pellegrini alias Baby Face Nelson von Liebe, Gangstertum und amerikanischen Weiten

Cover Dilinger Girl

Bang! So karg wie der Name ist das ganze Album: Akustikgitarre und Stimme, mehr braucht Popmusik nicht. Eine dunkelhaarige Schönheit und ein Glatzkopf mit einem Geldschein zwischen den Lippen posieren auf der Hülle. Bonnie & Clyde sind wieder da. Fast 40 Jahre nach Serge Gainsbourg: ein Lächeln in den Augen und das Herz voller Verse. Zärtlich, brutal, ein musikalischer Gangsterfilm in Technicolor.

„Schlag mich hart“, haucht die unschuldige Schönheit, „damit ich ein wenig Traurigkeit in deinen Augen sehen kann.“ Später singt sie von der verlorenen Zeit, von all den Liebkosungen ihres Geliebten. „Wenn es einen Gott gibt, dann wirst du es sein, mon amour.“ Bars gibt es viele in diesem Liederreigen, zu trinken reichlich. Und irgendwann ist es Zeit, Veränderungen herbeizuführen, „Schweine fliegen zu lassen“.

Geschrieben und komponiert hat das Federico Pellegrini, der früher mit der französischen Rockband The Little Rabbits Musik machte und dessen aktuelles Projekt The French Cowboy heißt. Helena Noguerra und er – nur zwei Stimmen und eine Handvoll Akkorde. Ein leichter Hall bildet den Chor, eine Melodie wird gezupft für eine Ewigkeit, für die Wüste von Arizona. Dort, in Tucson, ist das Album eingespielt worden. Man hört es ihm an. So klingt Amerika in Frankreich.

„Ich hatte Lust auf ein amerikanisches Album, so in der Art von Hope Sandoval und Jessy Sykes“, sagt Helena Noguerra im Interview. Mit ihrem Mann, dem Musiker Philippe Katerine, hat sie bereits den Bossa Nova und den Pop erkundet. Kylie Minogues Can’t Get You Out Of My Mind verzärtelten die beiden auf dem Album Née Dans La Nature. „Ich versuche mich ständig neu zu definieren“, sagt sie. „Deshalb habe ich mich am Bossa Nova versucht, am Chanson, am Rock. Ich finde es zu schwierig, endgültig, definitiv jemand zu sein.“ Ihre Eltern haben sie in die Filme von Ingmar Bergman und Jean-Luc Godard geschleppt. In die von Spielberg nicht. „Ich bin das Produkt meiner Epoche“, sagt sie. Mit Dillinger Girl & Baby Face Nelson strebt portugiesisch-belgisch-französische Sängerin einem neuen Höhepunkt zu.

Dabei hatte sie als Kind doch Schauspielerin werden wollen, „so wie Shirley MacLaine“. „Ich wollte singen, tanzen und Filme drehen. Deshalb habe ich mir eine Persönlichkeit erfunden. Ich spielte Schriftstellerin, Sängerin, Schauspielerin, Fernseh-Moderatorin. Ich spiele!“ Die Rolle als Sängerin füllt sie überzeugend aus. In Saint-Malo steht sie mit Blick aufs Meer am Mikrofon und singt. Wie ein trotziges Mädchen, das sich die Jeans über den nassen Badeanzug gezogen hat. Shirley MacLaine ist weit weg. Vergessen sind die Plastik-Pop-Momente, ihre Anfänge, das Album Projet Bikini.

Bang! schwebt in einer anderen Dimension. Pellegrini wollte das Album opulent orchestrieren. Aber Nogiuerra verliebte sich in die ersten Aufnahmen, in das Band, das er ihr geschickt hatte.

„je serai là où tu iras mon amour
là où tu iras, je serai mon amour
s’il y a un dieu, ce sera toi
s’il y a un dieu,
ce sera tout, mon amour“

„Bang!“ von Dillinger Girl & Baby Face Nelson ist erschienen bei Emarcy/Universal

Hören Sie hier „Love“

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Schreib auf meinen Po

Mit hohen Hacken und zur Schau getragenen Blessuren inszeniert sich die Berlinerin Trost auf „Trust Me“ als Diva und Mädchen zugleich. Ihr Spiel mit Männerphantasien wandelt auf schmalem Grat, klingt aber klasse

Cover Trost

Auf hohen Absätzen und im kurzem Rock stöckelt sie auf die Bühne, drückt energisch auf ein paar Knöpfe am Sampler und beginnt ihre verstörende Aufführung. Sie überschüttet sich mit einer Flasche Rotwein und wälzt sich über die Bühne. Sie kramt einen Hula-Hoop-Reifen hervor und schwingt ihn rasant um die Hüfte zum Rhythmus der schön schlecht aufgenommenen elektronischen Musik.

Ich sehe Annika Trost im Jahre 2003 zum ersten Mal. Mit der überhohen und nervig kieksenden Stimme einer Göre singt sie und klopft sich zum Lied Tattoo Your Name On My Ass auf den Hintern. Souverän tritt die junge hübsche Frau mit Betty-Page-Frisur auf und provoziert Männerphantasien. Eine Sexbombe! Das Publikum verstummt, ich bin beeindruckt.

Zwei Jahre darauf: Mit hohen Erwartungen besuche ich das Konzert von Cobra Killer, dem Duo aus Trost und Gina V. D‘Orio. Aber wie wackelig ist die Balance zwischen Souveränität und Lustobjekt jetzt! Annika Trost steckt das Mikrofon tief in den Mund, ihre Kollegin trägt ein Kleid, das die Hälfte des Pos freilässt. Die Männer im Publikum pfeifen und grölen und folgen mit leuchtenden Augen einer Show, die in den Medien als „sexy“ angepriesen wird. Das Konzept kippt, funktioniert nicht mehr. Niemand scheint mehr auf die Musik zu achten, die aus einer Maschine am Bühnenrand kommt und richtig gut ist.

Nun hat sie ihr zweites Soloalbum, Trust Me, aufgenommen. Dafür hat sie sich mit erfahrenen Musikern umgeben, Thomas Wydler von Nick Caves Bad Seeds ist dabei und F.J. Krüger von Ideal. Herausgekommen ist eine Mischung aus Filmmusik, tanzbaren, elektronischen Liedern mit Gitarre, Schlagzeug und Klavier. Manche Lieder werden von Cello, Posaune und Kontrabass veredelt. Auf deutsch, englisch und französisch singt Trost mal mädchenhaft lieblich, mal kühl von Selbstzweifeln, flüchtiger Geborgenheit und Liebe. Besonders gelungen ist das Stück Cowboy, das an Filme aus den sechziger Jahren erinnert. Oder das humorvolle In diesem Raum oder Filled With Tears, ein tristes Gute-Nacht-Lied zur letzten Ruhe.
Das Mädchen mit den zur Schau getragenen Blessuren, die sie sich auf der Bühne zugezogen hat, gibt auf ihrem neuen Album die Diva mit schmuddeligem Fußverband, brilliant fotografiert an der Seite eines ausgestopften Schwans. Das passt zu der düsteren Stimmung von Trost, ihrer hörenswerten Musik.
„Trust Me“ von Trost ist als CD erschienen bei Four Music

Hören Sie hier „I Was Wrong“

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