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Wer singt schon über Rügen

Kettcar aus Hamburg haben den Klangteppich glattgebürstet. Ihrem neuen Album „Sylt“ fehlen die Leuchttürme.

Kettcar Sylt

Der Deutschen Lieblingsinsel? Rügen. Aber wer besingt schon Rügen. Der deutschen Musiker Lieblingsinsel ist Sylt. Gleich hinterm Hindenburgdamm fanden Reinhard Mey und Die Ärzte ihr Glück – oder zumindest manchen Erfolg. Nun also nennen Kettcar ihr neues Album nach der größten hiesigen Nordseeinsel.

Stellen wir uns vor, wir seien nie auf Sylt gewesen. Wir wüssten nur, was über die Schickeria und das Strandleben in den bunten Blättern steht. Theodor Storm? Nie gehört. Wie würden wir uns wohl eine Platte vorstellen, die den Namen des einzigen gemeinsamen Vororts von Berlin und Hamburg trägt? „Das alles ist so was von langweilig“, befindet der Sänger Marcus Wiebusch. Meint er Sylt? Oder Sylt?

Kettcar sind ein Phänomen. Zusammen mit den Hamburger Kollegen von Tomte bissen sie sich durch schlechte Zeiten ohne Plattenvertrag, Konzert um Konzert. Auf der klassischen Ochsentour erspielten sie sich Anhänger. Deren Schar war bald so groß, dass Talentsucher und Kritiker ihre Ohren nicht länger verschließen konnten.

Im Jahr 2002 erschien Kettcars erstes Album Du und wieviel von deinen Freunden, elf rockige Lieder mit rotzigen deutschen Texten. Nicht Punk, nicht Pop, irgendwas dazwischen. Auch Kettcar durften ein bisschen mitschwimmen auf der Erfolgswelle deutschsprachiger Poprockmusik. Im Jahr 2005 folgte das zweite Album, Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen. Das Freche wich dem Schmalzigen. Mit Sylt nun weicht auch der letzte Rest Originalität dem Einheitsbrei. Wie gehabt streuen sie kleine Sprachspielereien und englische Halbsätze in ihre bodenständige Musik. Und gleich hinter der Textdünung rauscht der mal laut geschrabbelte, mal leise gezupfte Gitarrenklangteppich. Die meisten Lieder klingen, als würden Kettcar sich selbst covern.

Auf Sylt gibt es Leuchttürme. Auf Sylt leider nicht. Kettcar haben den Klangteppich glattgebürstet, eine träge Masse quillt aus den Lautsprechern. So klingt fürs Formatradio produzierter Deutschrock. Die Texte sind nicht schlecht, aber bemüht. Sie berühren den Hörer ebenso wenig wie die Musik.

Anhänger der Band werden das alles wohl schätzen und ihren nächsten Urlaub auf Sylt verbringen. Der Kritiker aber langweilt sich und fährt lieber nach – Rügen.

„Sylt“ von Kettcar ist auf CD und LP erschienen bei Grand Hotel van Cleef/Indigo.

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Lecker Strychnin

Über die Jahre (36): Das wilde Geschrammel der Sonics wurde erst bekannt, als sich die Gruppe längst aufgelöst hatte. Ihr Debütalbum „Here Are The Sonics!!!“ von 1965 klingt zeitlos furios.

The Sonics Here Are The Sonics

Gerry Roslie wollte anders klingen. Er sang nicht, er schrie, er kreischte: „Wow!“, Gerry Roslie drehte durch. Die Band begleitete seine Ausbrüche mit scheppernder Krachmusik: Die Brüder Andy und Larry Parypa am Bass und an der Gitarre, Rob Lind am Saxofon und Bob Bennett am Schlagzeug. Es war 1963 in Tacoma, einem Hafenstädtchen im US-Bundesstaat Washington. Die fünf Jungs hatten ihr Ziel damals klar vor Augen: „We wanted to blow people off their feet, not just with loudness, but with tightness, with music that made you want to dance“.

Bald wurde der Bassist der Wailers, Buck Ormsby, auf die Band aufmerksam. Er lotste sie ins Studio und bannte ihre jugendlichen Ausbrüche auf Platte. Dem Sänger habe der Hals geschmerzt nach den ersten Aufnahmen, ist auf der Hülle von Here Are The Sonics!!! zu lesen. Die Techniker seien verstört gewesen, die Band nicht weniger. Die Musiker hätten das Gefühl gehabt, die Aufnahme sei misslungen – der Vater der Parypa-Brüder habe Buck Ormsby gar Prügel angedroht. Dieser hätte sie beruhigt, schließlich habe alles genau richtig geklungen: Übersteuert, roh – als sei es in einer Garage aufgenommen.

Ormsbys Plattenfirma Etiquette Records brachte im Jahr 1964 ihre erste Single The Witch heraus, es wurde ein Hit an der Nordwestküste. Im folgenden Jahr erschien Here Are The Sonics!!!, es versammelte einige unspektakuläre Lieder neben den explosiven Stücken Psycho, Strychnine und eben The Witch. Roslie sang von Liebeswahn, Autos und dem Geschmack von Strychnin: „Some folks like water, some folks like wine, but I like the taste of straight strychnine.“

Erst Jahre später wurden The Sonics bekannt, da hatten sie sich längst aufgelöst. Als der Punk die Musikwelt erschütterte, wurde ihnen späte Anerkennung zuteil. Vor ein paar Monaten gaben The Sonics ihr erstes Europa-Konzert in London. Es sei tragisch, schrieb die taz zu dieser Gelegenheit, damals seien die Sonics ihrer Zeit zehn Jahre voraus gewesen, heute seien sie dreißig Jahre zu spät dran.

Sie mögen alt sein, ihre neuerlichen Auftritte müde: Aber es ist nie zu spät, die furiosen Lieder der Sonics zu hören.

„Here Are The Sonics!!!“ von The Sonics ist im Jahr 1965 erschienen und bei Norton Records erhältlich.

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Verrückt wie wir alle

Wie man aus dem Besten der Vergangenheit etwas Neues macht: Mondo Fumatore greifen in die digitale Wunderkiste und zaubern ein aufregendes Elektrorock-Album hervor.

Mondo Fumatore The Hand

Im Jahr 2003 erschien das letzte Album des Berliner Duos Mondo Fumatore. Ihr Elektronikrock klang damals ungewöhnlich für Berliner Verhältnisse. Er entstand zu einer Zeit, als viele Bands begannen, Datapop mit lieblichen Refrains zu spielen. Indietronic nannte sich diese Musik, eine Mischung aus Indiegitarren und Elektronik.

Gwendolin Tägert und Marc Saura sind Mondo Fumatore, sie machen etwas ganz Eigenes. Ihre Lieder sind vom Galeriepop Lali Punas ebenso weit entfernt wie vom Kreuzberger Elektro-Trash Stereo Totals. Jedes ihrer Alben gleicht einer neuen Reise durch die Welt der Popmusik, immer wieder versuchen sie, aus dem Besten der Vergangenheit etwas Neues zu machen. Ihre Musik verbindet Gegensätze, sie glitzert und klingt nach Heimstudio. Sie ist beseelt von Melodien, frönt aber auch der Lust, diese wieder zu zerstören. Mondo Fumatore sind eine Popband: „Wir sind weit davon entfernt, vertrackt klingen zu wollen oder experimentell zu sein“, haben sie einmal gesagt.

Auch auf ihrem neuen Album The Hand pflegen Mondo Fumatore einen gelassenen Umgang mit ihren Vorbildern. Selbstgewiss integrieren sie den amerikanischen Indierock der frühen Neunziger – Pavement, Yo La Tengo oder die Lemonheads – in ihren musikalischen Kosmos. J Mascis von Dinosaur Jr. spielte ihnen ein herrlich selbstgenügsames Gitarrensolo ein – in nächster Nähe zu Kratz-Geräuschen, pumpenden Rhythmen, Händeklatschen, Geklimper und Chören, die „Yeah! Yeah! Yeah!“ singen. Überall ist auf diesem Album klanglich etwas los, man kommt ein bisschen aus der Puste vor lauter Staunen, Lauschen und Sortieren. Das war auf den guten Alben von Beck und den Beastie Boys auch so.

Thunder ist eines der besten Stücke auf The Hand, hier klingen Mondo Fumatore minimalistisch. Über einen Rhythmus und ein einfaches Gitarrenmuster singen sie „Call Me Thunder“, eine Zeile aus Ringo Starrs Drumming Is My Madness. In den meisten anderen Liedern rauscht und scheppert es aus allen Ecken, so mögen die beiden es am liebsten. Hier noch eine jaulende Gitarre, ein versprengtes Echo, dort noch ein Rhythmus aus der digitalen Wunderkiste, ein Chor. Ein Füllhorn voller Ideen ergießt sich aus den Lautsprechern. Ideen, die gleichberechtigt nebeneinander erklingen.

The Hand ist auch der Titel eines Films von Oliver Stone. Ein von Michael Caine gespielter Comic-Zeichner verliert bei einem Autounfall seine rechte Hand, nach einiger Zeit kehrt The Hand in der Fantasie des Zeichners zurück. Auf das Drängen seiner Frau, sich in psychologische Behandlung zu begeben, entgegnet er: „Irgendwie sind wir doch alle etwas verrückt, glaub mir.“ Für Mondo Fumatores The Hand gilt das auf jeden Fall. Es ist etwas verrückt, es ist wirr und verdreht, alles andere als ausbalanciert. Und alles andere als langweilig.

„The Hand“ von Mondo Fumatore ist auf CD bei Rewika erschienen.

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Unterwasserbetrinken

Über die Jahre (35): Als in den neunziger Jahren die Musikszene Antwerpens explodierte, gelang es nur der Band dEUS, außerhalb der Grenzen Belgiens bekannt zu werden. Ihr zweites Album war ihr bestes: „In A Bar, Under The Sea“.

Deus In A Bar Under The Sea

In den Neunzigern war die Stadt Antwerpen ein Quell musikalischer Kreativität. Im Wochentakt sprudelten erfrischende neue Alben in die belgischen Plattenläden. Die Musik von Bands wie Kiss My Jazz, Evil Superstars, Moondog Jr., Think Of One, Lionell Horrowitz And His Combo und Die Anarchistische Abendunterhaltung klang so eigensinnig wie ihre Namen. Wer sie sehen wollte, musste zu ihnen kommen, wenige schafften es nach Deutschland. Viele stellten in Antwerpens Muziekdoos den Hut hin und spielten für Kleingeld.

Allein die Band dEUS wurde auch außerhalb Belgiens bekannt. Mit Suds & Soda landeten sie im Jahr 1994 einen Hit, von ihrem Debütalbum Worst Case Scenario verkauften sie weltweit rund 200.000 Stück. Dabei bestanden dEUS aus den gleichen Musikern wie all die anderen Bands. Die Musikszene Antwerpens schien aus kaum mehr als 30 Leuten zu bestehen, die sich in immerneuen Projekten zusammenfanden. Diese 30 Musiker gründeten so etwa 100 Bands. Welch ein Hühnerhaufen!

Die beiden kreativen Köpfe bei dEUS waren Tom Barman und Stef Camil Carlens. Barman gab den Sänger, der nicht singen kann, aber immerhin eine verrauchte Stimme hat. Er schrieb all die irren Lieder der Band, in denen sich Wohlklang und Narration mischten. Nebenbei arbeitete er als Filmregisseur. Carlens war der Mann fürs Grobe, mit einer Hand an der Quietscheente. Er krächzte, kreischte und spielte einen eleganten Bass. Sein kindliches Temperament stand der Ernsthaftigkeit Barmans entgegen. Carlens verließ dEUS im Jahr 1996, kurz nachdem sie ihr zweites Album In A Bar, Under The Sea aufgenommen hatten. Heute ist er Chansonnier mit einem Hang zur Weltmusik.

In A Bar, Under The Sea klingt, als hätten sich von der Sonne Enttäuschte in eine Bar am Meeresgrund zurückgezogen und sich fröhlich betrunken. Im Sinne Captain Beefhearts basteln sie Lieder aus Versatzstücken und Zitaten, wunderschönen Pop garnieren sie mit Defektem. Die Anlehnungen an Beefhearts Musik sind offensichtlich: Das grummelnde Theme From Turnpike löst sich in manischem Getrommel auf, es folgt Little Arithmetics, ein luftiger Popsong der sich wiederum tösend zerfasert. In dieser Bar läuft die Uhr auch mal seitwärts. Hier unten haben dEUS ein vielseitiges Album ersonnen, noch heute überrascht ihre Liebe zum Detail. Die Klangfarbe ist bunt, jeder Stil wird angespielt und mit einem Sinn für die Dramaturgie ins stimmige Ganze eingebaut. Das elegische Präfinale Dissapointed In The Sun erklärt dann gar das Gelage im kalten Nass.

Wie man mit solcher Musik zu Weltruhm gelangt, bleibt das Geheimnis der Band. Die Siebziger waren immerhin lange vorbei, als In A Bar, Under The Sea erschien. dEUS gibt es noch heute, dieser Tage erscheint ihr neues Album Vantage Point. Neben Tom Barman ist von damals nur noch der Keyboarder Klaas Janzoons dabei.

„In A Bar, Under The Sea“ von dEUS ist im Jahr 1996 bei Island/Universal erschienen.

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So klingt’s zu gut

Die britischen Gothic-Rocker von Bauhaus kamen 25 Jahre nach ihrem letzten Album wieder zusammen. „Go Away White“ ist ein typisches Alterswerk – nicht schlecht, aber auch nicht richtig überzeugend.

Bauhaus Go Away White

Die erste Welle des Punk fegte zwischen den Jahren 1976 und 1978 über die britischen Inseln und veränderte die Musikwelt. Bereits Ende der Siebziger hatte sich die Bewegung zersplittert. Der Post-Punk entstand: The Clash ließen sich vom Reggae inspirieren, die Violent Femmes und die Young Marble Giants brachten die Energie des Punk auf akustischer Gitarre und Orgel zum Klingen, Elektronikbands wie Depeche Mode betonten die Künstlichkeit ihrer Musik. Joy Division und The Cure traten introvertiert auf, reduzierten das Tempo und experimentierten mit düsteren Klängen.

Die Band Bauhaus aus Northampton trieb in dieser Zeit das Düstere in die Finsternis und erfand den Gothic-Rock. Der Gitarrist Daniel Ash, der Schlagzeuger Kevin Haskins und sein Bruder, der Bassist David Haskins, gründeten die Band Mitte des Jahres 1979. Als Sänger engagierten sie den Drucker Peter Murphy, weil sie fanden, er sähe aus wie ein Musiker. Murphy hatte nie zuvor ein Stück oder einen Text geschrieben. Aber er hatte Talent und kaum sechs Wochen nach ihrer ersten Probe nahmen Bauhaus ihre erste Single auf.

Bela Lugosi’s Dead erschien im August 1979, das Stück dauerte düstere neun Minuten und bestand aus kaum mehr als einem simplen Gitarrenmuster, ein paar dumpfen Basstönen, sanftem Klacken des Schlagzeugs und Murphys Proklamation, der Schauspieler Bela Lugosi sei tot. Tot, tot, tot. Das Motiv war genial gewählt. Lugosis Namen verband man wie kaum einen anderen mit den Horror-Filmen der dreißiger Jahre, gestorben war er bereits lange zuvor. Ohne textlich und musikalisch auf die Pauke zu hauen, erzeugten Bauhaus durch die maßlose Repetition eine beklemmende Stimmung. Neun Minuten! Eine gute Punkband spielte in dieser Zeit ein halbes Album. John Peel präsentierte das Stück in seiner Show im britischen Radio, und er lud die Band sofort zu sich ins Studio ein. Noch im selben Jahr nahmen Bauhaus eine Session bei ihm auf.

Nach ein paar weiteren Singles erschien im Herbst 1980 das erste Album In The Flat Fields. Auf diesen ersten Aufnahmen wurden Bauhaus ihrem Namen durchaus gerecht. Die Klänge saßen an den richtigen Stellen, sie spielten keinen Ton zuviel. Bei aller Schwere besaßen sie immer auch Transparenz. Das Düstere entstand nicht durch Klangschichten, sondern durch den druckvollen Bass und Peter Murphys schneidende Stimme.

Drei weitere Studioalben entstanden, bis sich die Band im Jahr 1983 auflöste. Mask war dem ersten Album klanglich noch recht nah, Keyboards und mehrstimmiger Gesang nahmen den Stücken die beklemmende Kargheit. Die folgenden The Sky’s Gone Out und Burning From The Inside bestimmten noch deutlicher flächigere Klänge und poppige Melodien. Von der Magie der ersten Aufnahmen war am Ende nicht einmal Murphys Stimme geblieben, denn aufgrund einer Lungenentzündung war er am letzten Album kaum beteiligt. Erst fünfzehn Jahre später standen Bauhaus ein paar Konzerte lang erneut auf der Bühne. Sie spielten ein neues Stück, veröffentlichten das Live-Album Gotham und lösten sich wieder auf.

Vor zwei Jahren trafen sie sich und traten ein paar mal auf – unter anderem als Vorgruppe der Nine Inch Nails. Dann gingen sie ins Studio. Man habe sich sogar richtig gut verstanden, erzählte Kevin Haskins kürzlich, ein Zwischenfall habe ihnen aber gezeigt, dass sie nicht als Band weiterarbeiten sollten. Mehr verriet er nicht. So nahmen sie Go Away White noch fertig auf – und trennten sich wieder.

Die posthume Veröffentlichung ist zwiespältig. Der Bass tropft stet und tief wie damals, die Gitarre kreischt fast verhalten im Hintergrund. Peter Murphy kieckst und schnoddert, oft ist seine Stimme gedoppelt, oder es singen die Kollegen. Bei Adrenalin schreit er ein bisschen, dazu brezelt der Bass ganz gehörig. Die Lieder sind reduzierter, stellenweise fühlt man sich an Mask erinnert. Denn – und deswegen ist das Album auch eine Enttäuschung – an ihre erste Platte kommen Bauhaus auch nach so langer Zeit nicht mehr heran.

Es ist auffällig: Je weniger man hört, desto besser wird’s. Saved ist ruhig, stellenweise ist da nur Murphys Stimme, ab und an zersägt die Gitarre den leisen Klangteppich. Erst spät taucht ein Rhythmus auf, eine klare Basslinie und ein zaghaft angeticktes Schlagzeug. Adrenalin ist rockig aber klar, bei Mirror Remains gelingt es Bauhaus doch noch, Ruhe in Beklemmung zu verwandeln. So kann es gehen.

Die Melodien der anderen Stücke sind schon in Ordnung, aber wirklich überzeugend sind sie nicht. Viel zu oft fließen Keyboard-Klänge (Undone), Frauenchöre oder gar ein Honky-Tonk-Klavier (International Bulletproof Talent) in die Lücken, die In The Flat Fields noch ließ. Summer Of The Damned fröhnt dem ideenlosen Rock, in Black Stone Heart pfeift Peter Murphy zum elektrischen Klavier, später wird synthetisch geklatscht. So zerstören sie auch einige eigentlich gute Stücke.

Noch deutlicher ist ein technisches Problem: Moderne Studios machen es verlockend einfach, volle Klänge zu erzeugen. Go Away White klingt zu gut, um gut zu klingen. Die Klänge sind zu sauber, der dominante Bass ist perfekt ausgesteuert, die Gitarren reißen an keinem Lautsprecher mehr. Wo sind die Übersteuerungen? Wo ist das schlechtgelaunte Gerumpel? Alles nicht da. So ist Go Away White ein typisches Alterswerk: nicht gut, nicht schlecht, irgendwo zwischendrin und deshalb bald vergessen.

„Go Away White“ von Bauhaus ist bei Cooking Vinyl/Indigo erschienen.

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Zwei wie Raufaser

Nada Surf aus New York spielen schnörkellosen Indierock. Ihr Album „Lucky“ ist mal melancholisch, mal fröhlich, immer amerikanisch. Neu klingt das nicht, aber gut.

Nada Surf Lucky

Sechzehn Jahre ist es her, da erschien das erste Album der amerikanischen Indierocker Sugar, Copper Blue. Monolithen gleich ruhten Stücke wie Changes und If I Can’t Change Your Mind in sanften Hügeln aus Melodie. Ihre leicht angerauten Oberflächen schimmerten geheimnisvoll. Bob Mould, der ehemalige Gitarrist und Sänger der Punk-Band Hüsker Dü strich die verzerrte elektrische Gitarre, die Klänge verdichteten sich zu einer undurchsichtigen Nebelwand. Hier und da zerschnitt seine Stimme die Schwaden mit einer charmanten Strophe, einem beglückenden Refrain. Stetes Bumtschak-Bumbumtschak trieb die Stücke im Viervierteltakt voran. Copper Blue war stilbildend, eine ganze Generation vor allem amerikanischer Musikern wollte härter klingen als R.E.M. und freundlicher als Nirvana, eben wie das Trio Sugar.

Nun hat sich Bob Mould der New Yorker Band Nada Surf angeschlossen. So jedenfalls klingt ihr neues Album Lucky, es ist ihr fünftes. Gut und gerne könnte es Mitte der Neunziger entstanden sein. Der Blick ins CD-Büchlein verrät, dass drei Musiker am Werk sind, Bob Mould ist nicht dabei.

Die Ähnlichkeiten sind frappant. Wie Sugar errichten Nada Surf Klangwände aus angehauenen Saiten und tapezieren Raufaser drauf. Oft klingen sie melancholisch, dann wieder fröhlich, immer amerikanisch aber nie schwer. Heute macht kaum noch jemand solche Musik, so schnörkellosen, ja, eigentlich traditionellen Indierock. Ohne elektronische Angeberei, mit einer überschaubaren Anzahl von Akkorden.

Den einzigen wirklichen Unterschied macht die Stimme. Bob Mould klang immer ein bisschen angestrengt in den oberen Lagen. Nada Surfs Sänger Matthew Caws turnt noch eine Oktave höher, seine Stimme ist knarzig, fast nasal. Richtig gut singen sie beide nicht.

Lucky klingt kompakt. Hier und da ist ein ruhiges Lied eingestreut, auch mal ein Dreivierteltakt. Jedes Stück ist irgendwie schön, nur From Now On schwächelt. Beim fünften, sechsten Hören schwingen sich kleine Lieblingsmelodien empor, erst Weightless, dann See This Bones und Whose Authority. Später Beautiful Beat und I Like What You Say, bald fast alle. Wenn die Melodien erst im Kopf umherschwirren, wird Lucky seinem Titel gerecht, dann macht seine Leichtigkeit auch ein bisschen glücklich.

Ein Überflieger wie Always Love von ihrem letzten Album The Weight Is A Gift fehlt, Lucky tut das gut. Im Klang der brillanten Melodie von Always Love verblasste damals der Rest der Platte.

Und Bob Mould? Ein Minialbum und ein langweiliges zweites Album nach Copper Blue hat er Sugar aufgelöst und Solopfade beschritten. Dieser Tage veröffentlicht auch er eine neue Platte, District Line. Seine Stimme ist sanfter geworden, seine Gitarren auch. Nett ist das, klingt ein bisschen wie diese amerikanische Rockband Nada Surf.

„Lucky“ von Nada Surf ist als CD und LP bei City Slang erschienen.

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Sekt auf Schweiß

Der Berliner Alec Empire spielt Rock ohne Gitarren. Das Wummern der Synthesizer auf „The Golden Foretaste Of Heaven“ bringt sogar den binären Code zum Tanzen.

Alec Empire The Golden Foretaste Of Heaven

Null und Eins treffen sich im Club.
Eins: „Wer spielt denn?“
Null: „Alec Empire. Kennst du den?“

Wie aus dem Nichts tritt ein Musikkritiker hinzu.

Kritiker: „Wenn ich mich kurz einmischen darf …“
Eins: „Na, wenn’s denn sein muss.“
Kritiker: „Danke. Also, früher hat er bei Atari Teenage Riot gespielt, einer Radauband aus Berlin. Unhörbar, sag ich euch. Ein Chaos aus digitalem Lärm und Gekreische, dabei verdampften Gehirnwindungen und Schaltkreise. Ein bisschen Punk und viel Techno. Seit fünf Jahren macht er allein Musik und hat Dutzende anderer Musiker produziert. Irre.“
Eins: „Aha.“

Die ersten Töne von New Man scheppern los. Klotziger Takt, rotzige Klänge, es klingt gar nicht nach Techno.

Null: „Das ist jetzt aber rockig. Sind das E-Gitarren?“
Kritiker: „Nein, nein, er benutzt keine Gitarren. Das sind alles Synthesizer. Russische.“
Alec Empire: „Keep on Dancing.“

Die Stimme sägt aus den Lautsprechern, Ice heißt das nächste Lied, „Three Strokes of A Razor“, singt Empire. Der Musikkritiker postuliert, das klinge nach dem englischen Rock’n’Roll der Siebziger, und die Melodie sei von Gary Numan abgekupfert. Aber niemand hört ihm zu.

Dann steht er an der Bar. Versucht jemanden zu beeindrucken. Digitales Kreischen legt sich über den Saal, die Musik wird langsamer. Fast kuschelig, würde es nicht stets fiepen, von oben, von unten, von überall her. Kleine Stromschläge durchzucken 1000 Eyes. Sieben Minuten lang.

Kritiker: „Eigentlich heißt er ja Alexander Wilke. Hat mit 14 angefangen mit Musik, erst Gitarre, dann Computer, erst Charlottenburg, dann London. Jetzt ist er 35. Wollte damals den Techno politisieren, das waren die Neunziger. Inzwischen ist er viel braver geworden, das hat alles Rockstruktur, Strophe und Refrain. Weißt du, das ist eigentlich eine Liebesplatte! Keine Rebellion mehr, keine Parolen, wie damals mit Atari Teenage Riot. Zehn Lieder, neunmal geht’s um Frauen, einmal um Satan. Das hab ich recherchiert.“
Jemand: „Waaas?“

Ein elektronischer Rhythmus schlägt Purzelbäume, rast über schrille Tonflächen, stolpert nie. Das Schlagzeug stampft dahinter. Down, Satan, Down.

Alec Empire: „Come on Satan, drag me down! Down!“
Satan: „Oh yeah.“

Schweiß tropft über die Knöpfchen auf der Bühne. Null und Eins tanzen und zappeln, sie können nicht schwitzen, sind ja nur Zahlen. Die Bässe von On Fire dröhnen in die Lendengegend, beinahe ist das glitzernder Glam-Rock. Eins und Null trinken Sekt auf Eis. Das passt am besten.

Alec Empire (noch verzerrter): „We make love for hours and hours.“
Hormone: „Sind wir zu spät?“
Null: „Gerade richtig, jetzt kommt Robot Love. Das pluckert ganz entspannt.
Eins: „Kenn ich! Das war eine Single im vergangenen Jahr.“
Kritiker: „Ja, das war die erste Platte auf seinem Label Eat your Heart Out.“

Später am Abend. Null und Eins trinken um die Wette, schwitzen jetzt auch, sind aus der Puste. Der Musikkritiker sitzt beseelt am Tanzflächenrand. Bug On My Windshield wummert unerbittlich. Wütend schwillt es an, der Synthesizer pfeift dazwischen. Es hat nicht viel Text.

Alec Empire: „You’re a bug on my windshield.“
Null: „Jaja, Liebesplatte, jaja.“
Kritiker: „Wartet doch den nächsten Song ab. No/Why/New York, eine Ballade. Dazu könnt ihr schwofen.“
Eins: „Aber nicht mit dir.“

Die Hormone holen ihre Jacken, hier gibt’s nichts mehr zu tun. Die Musik geht von vorne los.

Sonne: „Ich geh jetzt auf.“
Alle: „Uns doch egal.“

„The Golden Foretaste Of Heaven“ von Alec Empire ist als CD und Doppel-LP bei Eat Your Heart Out/Cargo erschienen.

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Hhhmm, Beutelrattenfleisch!

Über die Jahre (31): Neil Young begleitete 1996 den fiebrigen Westernstreifen „Dead Man“ an Gitarre, Harmonium und verstimmtem Klavier. Auf CD wird das zu einem Film für die Ohren.

Neil Young Dead Man

Man spricht über die Filme des Amerikaners Jim Jarmusch. Namhafte Schauspieler stehen Schlange, um zu geringen Gagen in seinen Filmen aufzutreten. Seine Bilderwelten und Geschichten strotzen vor Lakonie und Eigensinn, abgründiger Humor trifft auf erzählerischen Tiefgang.

Wie vielen anderen guten Regisseuren liegt Jarmusch die musikalische Begleitung seiner Filme am Herzen. Sein Kollege David Lynch arbeitet immer mit Angelo Badalamenti zusammen, Jarmusch sucht sich immer neue Komponisten. Der Jazzmusiker John Lurie half ihm bei Stranger Than Paradise und Mystery Train, Tom Waits’ Klänge unterlegten Night On Earth und der HipHopper RZA war bei Ghost Dog dabei. Bei seinem letzten Film Broken Flowers setzte er die Musik des äthiopischen Jazzers Mulatu Astatke ein.

Im Jahr 1996 erschien Dead Man, ein Film, mit dem sich Jarmusch an ein neues Genre heranwagte, den Western. Seine Vision hatte nichts von John Wayne’scher Cowboy-Romantik, an Zitaten sparte er dennoch nicht. Dead Man war der Fiebertraum einer unwirtlichen Welt, hier ernährte man sich von zähem Beutelrattenfleisch und weichgekochten Bohnen.

Die statischen Bilder des Films erinnern an ein Kammerspiel, dabei beobachtet die Kamera doch zwei Reisende. Das von Johnny Depp gespielte Greenhorn William Blake flieht angeschossen vor ein paar Schurken, der von seinem Stamm verstoßene Indianer Nobody begleitet ihn. Nobody ist überzeugt, dass sein Gefährte der verstorbene englische Dichter William Blake ist. Die Neu-Amerikaner gewinnen gerade den Westen, die amerikanischen Ureinwohner werden verdrängt.

Neil Young begleitet den Film an Gitarre, Harmonium und einem verstimmten Klavier. Die Filmmusik beginnt mit Rauschen. Young reibt die Seiten, ein warmer Wind weht. Die Gitarre setzt verhaltene Töne. Sie wirkt verstört, als suche sie etwas. Erhabenheit erfüllt den Raum, als sie ihr Motiv findet.

Filmkomponisten arbeiten gern mit Leitmotiven, ein Meister des Western-Genres ist der Italiener Ennio Morricone. In Spiel mir das Lied vom Tod ließ er eine Mundharmonika immer wieder eine Tonfolge jammern. Neil Young verließ sich in Dead Man auf den rauen Klang seiner Gitarre. In wenigen Akkorden kann sie den ganzen Film erklären. Sie spielt in schier endlosen Weiten, niemals introvertiert, immer erzählend. Es gibt keine Lieder im herkömmlichen Sinn, kein Schlagzeug. Und auch Neil Youngs berühmtes Nölen ist verstummt.

Er improvisierte die Musik zu mehreren Vorführungen des Streifens, selten war Filmmusik so minimalistisch. Auf der CD hört man zusätzlich Dialogfetzen, Szenengeräusche und ein Gedicht des echten William Blake, vorgetragen von Johnny Depp. Es zirpen die Grillen, Stimmen kommen und verschwinden. Als Teil des Films bildet die Musik einen Subtext, auf CD entsteht ein ganz eigener Hörfilm. Und den sollte man unter Kopfhörern genießen.

„Dead Man“ von Neil Young ist im Jahr 1996 als CD und Doppel-LP bei Vapor Records/Warner Music erschienen.

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Schluss mit Laut

Der Gitarrist Geoff Farina ist in seiner Band Karate fast taub geworden, also löste er sie auf. Sein posthumes Abschiedsgeschenk heißt „595“ und ist ein Livealbum.

Karate Live 595

Im Jahr 1993 gründete der Gitarrist Geoff Farina die Rockband Karate. Mit der Zeit taten seine Ohren weh, sie wurden immer schlechter. Als er außer Fiepsen fast nichts mehr hörte, löste er die Band auf. In zwölf Jahren hatten sie sechs Alben veröffentlicht und beinahe 700 Konzerte gespielt. Heute macht Geoff Farina ruhige Musik, Folk, Country und Blues.

Zuallererst waren Karate immer eine Rockband. Die meisten ihrer Alben nahmen sie zu dritt auf. In den frühen Jahren klangen ihre Lieder karg, jedes Klacken des Schlagzeugs, jedes Zupfen am Bass und jedes Streicheln der Gitarre sind deutlich zu hören. Geoff Farina sang dazu mit seiner hohen, weichen Stimme, er klang immer mehr wie ein Erzähler, als wie ein Sänger.

Bald wurde der Einfluss des Jazz größer, die Strukturen ihrer Lieder komplexer, die Takte origineller. Zwischen The Bed Is The Ocean aus dem Jahr 1998 und dem Doppelalbum Unsolved aus dem Jahr 2000 liegt ein Bruch. Die Gitarren wurden damals sanfter, die Leerstellen zwischen den meist ruhigen Taktschlägen noch größer. Ab und an stopfte ein Solo die Lücke, manchmal durften auch die Gitarren lauter werden. Anschlüsse an die damals explodierende Postrock-Szene Chicagos, an Künstler wie Tortoise, Jim O’Rourke und The Sea & Cake waren nicht zu überhören. Die Aufnahmen klangen immer noch roh, Karate blieb eine Rockband.

Die Gratwanderung zwischen Jazz und Rock waren reizvoll auf den Alben Unsolved und dem anschließenden Some Boots. Auf dem folgenden Album Pockets dann vergniedelten sie sich, solierten häufig, ihre Melodien waren angestrengt und flach.

Karate hatten einen ausgezeichneten Ruf als Liveband. Ihre Lieder spielten sie stets neu und improvisierten gerne. Im Sommer des Jahres 2004 bat sie das niederländische Label Konkurrent zu der Reihe In The Fishtank ins Studio. Dort experimentierten sie zwei Tage lang. Sie nahmen acht Coverversionen auf, darunter berührende Interpretationen von Bob Dylans Tears Of Rage, Billy Holidays Strange Fruit und Mark Hollis’ A New Jerusalem. Geoff Farinas Stimme trägt die Stücke. So stark wie hier war sie nie. Ein Jahr später spielten sie in Rom ihr letztes Konzert.

Die Musiker haben sich nun durch die Aufnahmen zahlreicher ihrer Konzerte gehört. Die ihres 595. Auftritts am 5. Mai 2003 im belgischen Leuven gefiel ihnen am Besten. Sie veröffentlichen ihn nun als posthumes Abschiedsgeschenk und nennen es sinnigerweise 595. Sechs der acht Stücke stammen von ihren beiden starken Alben Anfang des Jahrtausends, die beiden übrigen aus rockigeren Tagen. Wie diese Band lebt! Die Stücke strahlen vor Klarheit, die komplexen Strukturen lassen Platz für Ausreißer.

Jedes der Stücke gewinnt etwas hinzu. The Roots And The Ruins wirkt beschwingt, Airport drängend. Der Bass ist laut, Farina lässt erst seine Stimme tanzen und dann die flinken Finger auf der Gitarre. Sever kommt jazzfrei und auskomponiert daher. Mit dem zehnminütigen Caffeine Or Me endet das Konzert. Es klingt wie eine Zusammenfassung der Bandgeschichte. Das Stück beginnt melodiös und klar, nach einigen Minuten stößt man auf eine stabile Lärmwand. Am Ende in einer langen, ruhigen Improvisation fällt sie Stein für Stein wieder auseinander.

Besonders der Klang des Konzerts habe sie überzeugt, schreiben sie auf der Hülle. Auf der Vinylversion von Some Boots hatten sie ein Stück weggelassen, „due to sound quality considerations“ hieß es damals. Klang war ihnen immer wichtig. Das macht auch die Hülle von 595 deutlich: Fotografien, die Geoff Farina gemacht hat, Lichter und Wolken verschwimmen in Ahnungen, alles scheint ausgewaschen. So ungefähr wird er wohl heute hören.

„595“ von Karate ist als CD und Doppel-LP auf schwerem Vinyl bei Southern Records erschienen.

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Reime aus dem schwarzen Block

Die Teenie-Band Nevada Tan aus Hamburg verkündet die Revolution. Den 13-jährigen Neffen unserer Autorin überzeugt das nicht.

Nevada Tan Niemand

Eine Armee von Spielzeug-Robotern begleitet Nevada Tan durch das Musikvideo zu Revolution. „Ständig werden wir in Schubladen gesteckt, zu oft analysiert, und Fehler werden mathematisch aufgedeckt, doch eure klar definierten Zahlen auf Papier spiegeln unsere Situation doch niemals wider. Heutzutage ziehen Kids schon mit 11 Pornos aus dem Netz, Pics von toten Irak-Soldaten verbreiten sich per MMS“, rappt Timo Sonnenschein. Und weiter: „Ich geb’n Scheiß auf eure Meinung, Ihr seid nicht wie wir und werdet es nie sein (…) Wir rennen auch ohne Rückenwind durch jede Wand.“ Am Ende setzt ein lieblicher Kinderchor ein.

Nevada Tan kommen aus Hamburg, ihre Zielgruppe sind die Teenager. Sechs Jungs zwischen 18 und 20, mit modischen Frisuren und hübschen Gesichtern. In professionellen Musikvideos treten sie bisweilen auf wie der schwarze Block und rufen die Revolution ihrer Generation aus. Frank Ziegler begleitet die Raps mit sanftem Gesang. Am Schlagzeug sitzt Juri Schrewe, Bass und Gitarre bedient Christian Linke, David Bonk das Klavier und eine weitere Gitarre. Der stets vermummte DJ heißt Jan Werner. Die Sechs sind Schüler oder haben die Schule gerade hinter sich, ihre Texte klingen wie Tagebucheinträge, manchmal traurig, manchmal wütend, manchmal peinlich.

Solchen musikalischen Mischmasch aus Gitarrenklängen, Synthetischem und Rap hat man schon anderswo gehört, nicht aber in dieser Jugendlichkeit. Hier hört man ein Nirvana-Riff (Vorbei), dort grummelt es düster wie auf den späteren Alben von Oomph!. Mal erinnern die Melodien an Nena. Die gelungenen Lieder wurden an den Anfang des Albums gesetzt, ab der Mitte wird es flau. „Hol‘ Nevada Tan an Deine Schule“, warb ihre Homepage kürzlich noch. Hamburg? Schule? Nein, mit der Hamburger Schule haben sie nichts zu tun.

Ein Testanruf beim 13-jährigen Neffen: Wie findest du Nevada Tan? Geht so. Sein Freund hat sie als Vorband der Killerpilze gesehen und fand sie ganz toll. Es gebe einige Jungs, die Nevada Tan gut fänden, die Mädchen in der Klasse stünden eher auf Tokio Hotel oder US 5. Was gefällt dem Freund daran? „Die klingen ein bisschen wie Linkin Park und mischen Raps rein, mein Freund macht auch Musik. Vielleicht deswegen, weil die so jung sind und trotzdem Musik machen.“ Man unterhalte sich nicht so ausführlich darüber. Hmm.

„Ich möchte niemals so werden, niemals so werden wie du“, heißt es im Lied über den Vater, der die meiste Zeit in der Firma verbrachte und mit seiner Sekretärin ein Kind zeugte. Die sechs Musiker wollen sich nichts sagen lassen von „Schule, Eltern, Staat“. Ach, süße Jugend! Das Schlimmste kommt doch noch: Die Arbeits(losen)welt. Die Jungs ahnen es bereits, sie singen „Wir werden tagtäglich überschwemmt, von Lügen ertränkt, und merken schon früh: Wir kriegen nichts geschenkt.“

„Niemand hört dich“ von Nevada Tan ist bei Vertigo/Universal erschienen.

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