Lesezeichen
 

Episch heult der Adler

Ein Klöppel in der linken Kralle, ein Bündel Saiten in der rechten und im Schnabel ein Band mit den Worten E pluribus unum, aus vielen Eines: Mogwai sind der Greif unter den Instrumentalkombos

Mogwai The Hawk Is Howling

Der Weißkopfseeadler ist der größte Greifvogel Nordamerikas. Seine Flügel umspannen im Flug zweieinhalb Meter Luft, im Sitzen ist er so groß wie ein Erstklässler. Der Mensch hat ihn durch das Insektizid DDT in den Fünfzigern fast ausgerottet, heute lebt der Vogel vor allem in Alaska, Florida und Kanada. Er ziert das Wappen der Vereinigten Staaten – einen Olivenzweig in der linken Kralle, ein Bündel Pfeile in der rechten und im Schnabel ein Band mit den Worten E pluribus unum, aus vielen Eines. Bald Eagle heißt er übrigens auf englisch, kahler Adler.

Mogwai kommen aus Glasgow, sie spielen Rock. Ein Weißkopfseeadler ist auf die Hülle ihres neuen Albums The Hawk Is Howling gemalt. Ein rätselhafter Titel, schließlich ist ein Hawk ja ein Falke und kein Adler. Und heulen Falken? Heulen Adler? Das Rätsel muss Rätsel bleiben, denn Mogwai spielen ihren Rock ohne Worte. Und irgendwie passt der Adler doch, das majestätische Gleiten eines Riesengreifs kann man sich zu ihrer hymnischen Musik wirklich gut vorstellen.

Federvieh steckt auch hinter dem Namen der Band, eine unansehnliche Kreatur in dem Film Gremlins trug ihn im Jahr 1984. Mogwai ist außerdem das kantonesische Wort für Geist. Das habe alles gar keine Bedeutung, sagte der Gitarrist Stuart Braithwaite einmal, der Band sei einfach kein besserer Name eingefallen. Die Musiker hätten sich vorgenommen, irgendwann einen besseren Namen zu suchen, seien aber bislang nicht dazu gekommen.

Das ergäbe nun wohl auch keinen Sinn mehr, schließlich haben Mogwai bereits sechs, sieben Alben aufgenommen und es zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Außer Prince kann sich wohl niemand spontane Umbenennungen leisten.

Auch das ist rätselhaft: Wie kommt man eigentlich auf einen Titel, wenn man nicht singt? Das erste Stück auf The Hawk Is Howling heißt I’m Jim Morrison, I’m Dead. Warum I am? Und klar, Morrison ist tot. Hat die Band hier die Autobiografie des Sängers vertont? 27 Jahre in 6 Minuten 46? Zu Beginn klimpern ein paar verträumte Klavierklänge (Morrisons Kindheit), dann scheppert das Schlagzeug einen verschlafenen Takt (der im Alter von 4 Jahren beobachtete Autounfall), schließlich mischen ein paar handfeste Gitarrenakkorde mit (Studium der Filmwissenschaft). Im Mittelteil wird es hymnisch und stetig lauter (Liebe, Drogenerfahrungen und Vietnamkrieg), das Ende des Stücks zerquietscht kurz und heftig (Ruhm und Tod). Man kann sich in der Deutung der Zusammenhänge von Titel und Klängen einiges einfallen lassen. Mogwai werden den Teufel tun und sich dazu äußern.

Zwei andere Stücke heißen The Sun Smells Too Loud und Thank You Space Expert. Wie bitte? Die Mogwai in der Stimmung ähnliche amerikanische Band Tortoise taufte eines ihrer Instrumentalstücke vor Jahren A Simple Way To Go Faster Than Light That Does Not Work. Bedeuten die Titel also eigentlich – gar nichts?

Das letzte Album von Mogwai war eine Filmmusik, da war die Entschlüsselung einfacher. In Zidane: Un Portrait Du 21e Siècle richtet die Kamera ihren Blick für 90 Minuten auf Zinedine Zidanes Weg über das Fußballfeld in einem völlig unbedeutenden Spiel. Mogwai unterlegten die Bilder mit epischen Klängen – ohne die Musik wäre der Film langweilig, mit ihnen ist er hübsch.

Episch geht es auf The Hawk Is Howling zwar doch meist, aber nicht immer zu. Die Single Batcat etwa ist ein massiver Brecher von schlecht gelauntem Gitarrenhin- und hergekoppel. Und angesichts der poppigen Melodie von The Sun Smells Too Loud gackert eher ein Perlhuhn, als dass ein Adler gleitet. [Das von einem Fan geschnittene Musikvideo ist einen Blick wert, es passt wirklich gut.] Aus vielen Eines ist gar keine schlechte Beschreibung der Musik von Mogwai auf dieser Platte.

Vor einem Jahr wurde übrigens der Weißkopfseeadler von der Liste der gefährdeten Tiere gestrichen.

„The Hawk Is Howling“ von Mogwai ist als CD und Doppel-LP bei Wall Of Sound/Rough Trade erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
The Sisters Of Mercy: „First And Last And Always“ (WEA 1985)
Kitty, Daisy & Lewis: „s/t“ (Sunday Best/Rough Trade 2008)
Kamerakino: „Munich Me Mata“ (New!Records 2008)
Wire: „Object 47“ (Pink Flag/Cargo 2008)
Marc Ribot’s Ceramic Dog: „Party Intellectuals“ (Yellowbird/Soulfood Music 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Vom Orkus zum Krokus

Über die Jahre (43): Ein Tipp zum Herbstanfang: Im Jahr 1985 nahmen die Sisters Of Mercy „First And Last And Always“ auf – eine Platte, die das lange Warten auf den Frühling noch heute erträglich macht

Der Sommer ist vorbei. Immer häufiger schielen wir in Richtung Heizung, schütten Rum in den Kakao – und auch die Musik, die wir noch neulich mochten, gefällt uns heute nicht mehr. Der melodieverliebte Pop des Sommers klingt nun aufgesetzt, die Leichtfüßigkeit Brian Wilsons steht diesen Tagen ebenso schlecht zu Gesicht wie die Aggressivität Metallicas. Heute beginnt der Herbst, es ist Zeit für andere Platten, für Schwere und Regression. Es ist mal wieder Zeit für First And Last And Always, das erste Album der Sisters Of Mercy.

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass die Platte erschien, aber der Schwermut des Sängers Andrew Eldritch klingt kein bisschen abgenutzt. Das Album ist ein Dokument des Rückzugs. Das passt durchaus in die Zeit, in der es erschien, in den Post-Punk, der dem Expressiven des Punk ein Gegengewicht sein wollte. Und doch waren andere frühe Düsterrocker wie Bauhaus und The Cure immer mehr Rocker oder Popper, als dass sie es mit dem Fürsten der Finsternis Andrew Eldritch aufnehmen konnten.

Anfang der Achtziger hatten die Sisters Of Mercy einige Singles veröffentlicht. Stücke wie Body Electric, Alice oder Temple Of Love waren im Tempo und den Harmonien noch nah am Punk, auch die rumpelige Coverversion von 1969 der Stooges passte gut ins Bild. Nur diese tiefe – oft kieksende – Stimme des Sängers und der viele Hall klangen ganz und gar nicht nach Punk. Die Sisters Of Mercy wirkten selbst noch unschlüssig, wohin die musikalische Reise gehen sollte. John Peel fand das unerhört genug, sie zu zwei Sessions einzuladen.

Mit First And Last And Always sagten sie dem Punk ade und fanden einen eigenen künstlerischen Ausdruck. Sie schalteten einen Gang zurück und drehten den Hall weiter auf. Andrew Eldritch sang nun noch tiefer. Die Gitarre spielte dezidierte Töne, im Vergleich zu den kraftvollen Akkorden heutiger Gotikrocker mutet ihr Gedengel naiv an. Schlagzeuger sind Andrew Eldritch generell zu unbeherrscht und eigensinnig, deshalb hämmert im Hintergrund Doktor Avalanche, ein Computer. Der galoppierende Rhythmus des Titelstücks und der Sirtaki in Marian klingen erstaunlich – so würde heute niemand mehr Sehnsucht oder Trauer verschlüsseln. Die seit fünfzehn Jahren im Genre obligatorischen Frauenstimmen muss man hier nicht ertragen, die meisten Chöre bestehen aus der mehrfach aufgenommenen Stimme des Sängers. Das Album sei recht dünn produziert, heißt es heute oft. Vielleicht ist es gerade deshalb so gut?

Die Texte sind düster, doch weder nihilistisch noch martialisch. Eldritch singt von den unterschiedlichen Stadien des Scheiterns einer Beziehung, von beginnender Wortlosigkeit, von Verletzungen, der misslingenden Rettung aus den Untiefen der Melancholie – und von den Amphetaminen, die das Leid auch kaum zügeln können. Das Album gipfelt in Some Kind Of Stranger, da geht die Beziehung ins Metaphysische über, die schließlich doch zärtliche Berührung geht aus von einem Engel.

First And Last And Always war stilbildend. Keinem der Nachgänger gelang es, das Album zu übertreffen. Nicht einmal den Sisters Of Mercy selbst. Im Jahr 1987 nahm Eldritch mit Hilfe der Sängerin Patricia Morrison und Meat Loafs Produzenten Jim Steinman das furchtbar pathetische Floodland auf, vier Jahre danach – mit wiederum anderen Musikern – das krachige Rockalbum Vision Thing. Eldritch trug nun immer dicker auf, zuletzt auf einer neuen Version von Temple Of Love und dem letzten auf Platte erschienenen Stück Under The Gun, das ist fünfzehn Jahre her. Seitdem hat die Band nichts mehr veröffentlicht: Zuerst verweigerte Eldritch sich seiner Plattenfirma East West Records. Als der Vertrag nach jahrelangen Streitigkeiten gelöst wurde, fand er keine neue. Es heißt, er verlange drei Millionen Dollar Vorschuss und volle künstlerische Freiheit.

Auch ohne Platte sind die Sisters Of Mercy in ständig wechselnder Besetzung regelmäßig auf Tour. Schaut man sich die Live-Mitschnitte neuer Stücke an, so mag es einen traurig stimmen, dass es keine neuen Alben gibt.

So unanhörlich aktuelle Gotikrockplatten oft sind: Mit First And Last And Always kann der Herbst gerne kommen, die meisten norddeutschen Winter übersteht man damit auch. Künden dann die Schneeglöckchen und Krokusse vom Frühling, wandert die Platte wieder in die Kiste.

„First And Last And Always“ von The Sisters Of Mercy ist im Jahr 1985 auf CD und LP bei WEA erschienen und im Jahr 2006 auf CD bei Warner Music mit einigen Bonusliedern wiederveröffentlicht worden.

Weitere Beiträge aus der Serie ÜBER DIE JAHRE
(42) Wareika Hill Sounds: „s/t“ (2007)
(41) Dennis Wilson: „Pacific Ocean Blue“ (1977)
(40) Klaus Nomi: „Nomi“ (RCA/Sony 1981)
(39) GAS: „Nah und Fern“ (Kompakt/Rough Trade 2008)
(38) Liquid Liquid: „Slip In And Out Of Phenomenon“ (2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Karierte Stolpermusik

Franz Ferdinand waren so begeistert von der Gruppe Kamerakino, dass sie sie mit auf Tour nahmen. Nun besingt die postkommunistische Wanderkapelle ihre Heimatstadt: »Munich Me Mata«.

Kamerakino Munich Me Mata

Es gibt Alben, die bringen den Kopf zum Platzen. Das neue Werk der Münchner Gruppe Kamerakino sollte man sparsam dosieren. Zweimal am Tag kann man es hören, jedes weitere Mal ebnet den Weg in die Irrenanstalt. Der Autor bleibt im Duden auf der Seite mit dem Buchstaben K hängen – fassungslos. »Oh meine Hände!« krakeelt Sänger Pico B. mit kehliger Renitenz, es ist der Beginn einer lyrischen Achterbahnfahrt.

Grenzdebiler Kretinismus* entpuppt sich als assoziativer Tiefenrausch. Doppelbödige Tiefstapelei gen Erdmittelpunkt nennen es die einen, die anderen verwenden ein Wort aus der Babysprache und sagen dann Dada dadazu. »Geile Finger« voraus – Sindelfinger und Krähwinkler* können gemächlich strawanzen – München rennt!

Anhalten und loslaufen – nach einer Weile kommt man ins Stolpern. Macht man es mit Instrumenten, kommt Stolpermusik heraus. Aber Pico hat hierfür schon die besseren Worte:

»Wenn ich meine eigenartige Lampe begrüß, dann tu ich das ohne Zwaaaang« – ja, lieber Pico. Gut, dass wir mal darüber gesprochen haben. Denn es lohnt sich. »Today I’m not available, you can call me later. Heute hab ich keinen Empfang, bin außerhalb der Zone, aber morgen ist ein Großempfang – im Haus des Bürgermeisters!«

Die Geige täuscht Frieden vor. Kamerakinos Tarnung ist die einer postkommunistischen Wanderkapelle. Doch für Brecht-Abende taugen sie nicht. Ihr Gestus ist zu kariert. Oder wie es in der Presseinfo heißt: »Die Indie-Popband Franz Ferdinand aus Glasgow, Superstars der Stunde, kürte Kamerakino zu ihrer Lieblingsband und nahm sie mit auf Tournee. So kam es, dass Kamerakino in der Wiener Arena vor 15.000 Zuhörern spielte. Gerade bei diesen Großveranstaltungen übte Kamerakino mit einer nihilistischen Punk-Attitüde eine äußerst polarisierende Wirkung aus.« Agitation ins Nichts. Krambambuli* für Krallenfrösche. Und solche finden sich kaum auf Konzerten von Franz Ferdinand.

Vier bis sieben begnadete Musiker haben sich dieser musikalischen Krankensalbung verschrieben. Der Patient heißt Verstand. Er wird lebendig zu Grabe getragen, nach zehn Minuten wieder hervorgeholt. Chefarzt Pico B. erinnert an Adriano Celentano, wenn er gebeugten Hauptes dem Patienten auf die Schulter klopft und sagt: »War doch nicht so schlimm?«

*Kretinismus = mit körperlicher Missgestaltung verbundener hochgradiger Schwachsinn
*Krähwinkler = spießbürgerlicher Mensch aus der Provinz
*Krambambuli = Danziger Wacholderschnaps

»Munich Me Mata« von Kamerakino ist als CD und LP bei New!Records erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Wire: »Object 47« (Pink Flag/Cargo 2008)
Marc Ribot’s Ceramic Dog: »Party Intellectuals« (Yellowbird/Soulfood Music 2008)
Tricky: »Knowle West Boy« (Domino Records/Indigo 2008)
The Kills: »Midnight Boom« (Domino Records/Indigo 2008)
The Charlatans: »You Cross My Path« (Cooking Vinyl/Indigo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Platte, die siebenundvierzigste

Vor 30 Jahren gelang es Wire, die Kraft des Punk aufzusaugen und sie in etwas Neues umzusetzen. Heute spielen sie essenziellen Rock und legen ein Album der Superlative vor.

Wire Object 47

Es ist offenbar das Jahr der Rückkehr der britischen Post-Punker. Im Herbst kommt ein neues Album von The Cure. Nach 13 Jahren erschien kürzlich ein neues Album von Siouxsie, allerdings ohne ihre Band The Banshees. 25 Jahre nach ihrem letzten Studioalbum brachten Bauhaus im Mai Go Away White heraus. Und 28 Jahre nach Closer sprachen nun sogar alle über Joy Division, obschon die Band nichts Neues veröffentlicht hatte. Ein Superlativ jagt den anderen.

Fünf Jahre sind vergangen seit dem letzten Album von Wire, einer weiteren einflussreichen Post-Punk-Band. Siebzehn seit ihrem vorletzten. Object 47 nennen sie ihr neues Werk. Die Hülle ziert die Fotografie eines – ja, was ist das eigentlich? Ein Wasserturm? So ist das immer mit Wire. Nie weiß man genau, woran man ist, was als nächstes kommt. Doch was auch immer passiert, sie haben sich etwas dabei gedacht. Der Albumtitel etwa: Zehn Studio- und sechs Livealben, sieben Kompilationen und 23 Singles standen bislang zu Buche, Object 47 ist der 47. Eintrag in der Diskografie.

Wire gründeten sich im Oktober 1976 in London, dann und dort brach gerade der Punk aus. Ihre erste Platte Pink Flag erschien zwölf Monate später – sie zehrte auch vom Punk, war musikalisch und textlich aber weiter entwickelt und besser informiert. Das folgende Chairs Missing sollte ihr Opus summum werden und bleiben, daran ändert auch Object 47 nichts.

Die weitere Geschichte der Band ähnelt dem Stop and Go auf britischen Autobahnen zur Sommerferienzeit: Nach drei Alben bzw. Jahren lösten sie sich auf. Mitte der Achtziger fanden sie erneut zusammen, zwischen 1987 und 1991 veröffentlichten sie eine Handvoll Platten. Das letzte davon, The First Letter spielten sie als Wir ein – den Buchstaben e hatten sie gestrichen, da der Schlagzeuger Robert Grey für ein paar Monate ausgestiegen war. Er fand seinen Einsatz angesichts der zunehmenden Verwendung von Schlagzeugcomputern überflüssig. Als zwölf Jahre darauf das nächste Album Send erschien, war er wieder dabei.

Die Versuche im Elektronischen hatte Send beendet, auch auf Object 47 hält sich das Synthetische in Grenzen. Robert Grey lässt sein Schlagzeug ganz organisch rumpeln. Dominiert aber werden die neun neuen Stücke –

[Ja, nur neun Lieder in 35 Minuten. Auf ihrem Debütalbum brachten sie in derselben Zeit 21 Stücke unter.]

– dominiert werden sie vom Bass. Verschwand er früher im Elektrowust oder hinter der Gitarre, steht er heute deutlich im Vordergrund. Der Bass reißt die Melodien an, die Colin Newman mit seiner schnarrenden Stimme übernimmt. Oft treiben sich Schlagzeug und Bass voreinander her, die Gitarre setzt dann nur dezente Tupfer oder doppelt den Bass.

Es mag am Fortgang des Gitarristen Bruce Gilbert liegen. Vor den Aufnahmen zu Object 47 verließ er die Band. So sehr sein dezidierter Anschlag den frühen Platten der Band Energie verlieh, so enervierend waren seine kreischigen Akkorde auf Send. Überhaupt, das war kein gutes Album, einfallsloser Rock ohne Pfiff. Aber welches Album der Band im vergangenen Vierteljahrhundert war schon richtig gut? The Ideal Copy vielleicht, aber das ist auch schon 21 Jahre her. Und an die ersten drei Jahre konnte es nicht anknüpfen.

Object 47 kann das, wenn Wire heute auch vollkommen anders klingen als damals. Sie machen nun eher Rock als Punk, das damals standesgemäß Verzerrte weicht der Klarheit. Manche der Stücke sind sofort liebenswert – das stampfende Eröffnungsstück One Of Us und Mekon Headman etwa. Die meisten anderen brauchen mehrere Durchläufe. Gibt man dem Album Zeit, dann wachsen schließlich auch das anfangs zu leichtfüßige Four Long Years und das träge Patient Flees so weit, dass Object 47 als großes Ganzes erklingt.

Vor dreißig Jahren gelang es Wire, die Kraft des Punk aufzusaugen und sie in etwas Neues umzusetzen – heute machen sie eine Rockplatte, die vom Rock nur noch die Energie besitzt. So erhebt also auch Object 47 seine Stimme im Orchester der Superlative: Es ist Wires erstes wirklich großartiges Album seit 29 Jahren.

»Object 47« von Wire ist als CD bei Pink Flag/Cargo erschienen, eine LP soll folgen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Marc Ribot’s Ceramic Dog: »Party Intellectuals« (Yellowbird/Soulfood Music 2008)
Tricky: »Knowle West Boy« (Domino Records/Indigo 2008)
The Kills: »Midnight Boom« (Domino Records/Indigo 2008)
The Charlatans: »You Cross My Path« (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
18th Dye: »Amorine Queen« (Crunchy Frog/Cargo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Hunde im Porzellanladen

Der amerikanische Gitarrist Marc Ribot sorgt immer wieder für Überraschungen. Mit dem neuen Trio Ceramic Dog hat er nun sein bisher bestes Album aufgenommen: »Party Intellectuals«.

Marc Ribot's Ceramic Dog

Marc Ribot (sprich: Ree-bow) hasst Klischees. Er möchte nicht als zorniger Gitarrist gelten, der seinen Protest in verzerrten Tönen ausdrückt. Im vergangenen Jahr trat er auf beim Konzert gegen die Schließung der letzten größeren Bühne für experimentelle Musik in Manhattan – und wurde anschließend verhaftet. Er hatte den Standard The Nearness of You gespielt. Solch subtile Kritik wirke oft stark, sagt Ribot. Seine deutlichen Worte gegen den Krieg verpackt er in ein Westernstück, Bury Me Not On The Lone Prairie.

Er kann auch anders. Ribots neue CD Party Intellectuals beginnt mit einer punkigen Version eines Klassikers der Doors, Break On Through, das stiftet Verwirrung. Es hieß, seine neue Band Ceramic Dog klinge nach dem Disco-Soul der späten Siebziger, damit hat das wenig zu tun. Auch Never Better und Digital Handshake kommen geräuschvoll und wild entschlossen daher, das Titelstück der CD ist Punk mit Moog-Synthesizer.

Es gibt auch Zugänglicheres: Das bezaubernde Todo El Mundo Es Kitch lebt von absurden Reimen wie »In Barcelona we view for Gaudí, in Frankfurt we drove in an Audi«. In When We Were Young And We Were Freaks ist der Titel auch die Botschaft, Girlfriend thematisiert die Gentrifizierung der Lower East Side und das Verschwinden der New Yorker Avantgarde aus dem Stadtteil.

Vor 20 Jahren erfand Ribot den Klang von Rain Dogs und führte Tom Waits an den Pop heran. Durch die Arbeit mit ihm habe er gelernt, wie man Platten mache, sagt Ribot heute. Tatsächlich hörten sich die besten Stücke seiner vergangenen Platten immer ein bisschen so an, als fehle Tom Waits’ Stimme. Auf Party Intellectuals gibt Ribot den Waits, in den Trichter singt er jetzt selbst. Und erschiene die CD bei einer großen Firma, würde For Malena zum Sommerhit.

Die Ästhetik der Massenware interessierte Ribot nie, seine Musik spielt an den Rändern der Gesellschaft. Die Aufnahmen seines mit Moog, Gitarre, Bass, Elektronik und Perkussion ausgestatteten Trios sind in Avant-Rock verpackte Sozialkritik mit manch kontemplativem Moment. Ceramic Dog ist Ribots beste Band seit Jahren, Party Intellectuals eines seiner besten Alben.

»Party Intellectuals« von Marc Ribot’s Ceramic Dog ist bei Yellowbird/Soulfood Music erschienen.

Die Band stellt das Album am 13. Juli im Berliner Haus der Kulturen der Welt vor.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Tricky: »Knowle West Boy« (Domino Records/Indigo 2008)
The Kills: »Midnight Boom« (Domino Records/Indigo 2008)
The Charlatans: »You Cross My Path« (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
18th Dye: »Amorine Queen« (Crunchy Frog/Cargo 2008)
These New Puritans: »Beat Pyramide« (Domino Records/Indigo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Wasser in die Glut

Mit Massive Attack und Portishead kam Mitte der Neunziger auch der Rapper Tricky zu Ruhm. Nun erscheint sein neues Album »Knowle West Boy« – ein dröhnendes Manifest der Unzufriedenheit.

Tricky West Knowle Boy

Der Journalismus gerät oft in die Zwickmühle verschiedener Interessen. Das ist in der Politik und der Mode nicht anders als in der Musik.

Was hat das mit Tricky zu tun? Vorfreudig bestellt der Journalist ein Vorabexemplar von Trickys neuem Album Knowle West Boy. Von dessen Plattenfirma erhält er eine prompte Antwort: Man habe Rezensionen des Autoren gelesen, da seien ja manche Platten nicht so gut weggekommen. Obwohl diese zwar von anderen Firmen veröffentlicht wurden und mit Tricky nichts zu tun hatten, sehe man doch von einer Bemusterung ab. Das Album solle Schreibern zukommen, die sich »auch wirklich freuen«, nur ungern würde man »Verrisse riskieren«.

Moment mal: Werden Journalisten nach ihrer Willfährigkeit und Kritikunfähigkeit ausgewählt? Oder steht die Plattenfirma nicht zu ihrer Produktion?

Zu Musik kann man tanzen, weinen und trinken. Man kann über sie streiten und von ihr schwärmen. Man kann sie lieben und auch hassen, denn Musik vermittelt Identität. Die Musikindustrie ist ins Straucheln geraten, sie sollte nicht den Fehler begehen, den Journalismus als verlängerten Arm ihres Marketings anzusehen. Das wäre schlimm, es läse sich wohl etwa so: »Die TripHop-Legende Tricky ist zurück mit dem Album des Jahres.« Weder dem Leser noch der Musik wäre ein Dienst erwiesen.

Musik wirft Fragen auf. Und man kann sie sich von Freunden ausleihen. Mittlerweile ist die Vorfreude des Rezensenten zwar erloschen, aber die war ja auch schon ein Vorurteil. Fangen wir also bei Null an.

Knowle West Boy nimmt dem Kritiker die Lust auf Bewertung. So ist das mit Trickys Alben. In seiner Musik wohnen das Seltsame und das schwer Fassbare, er hantiert mit dem Abgedroschenen. Sie ist gespalten – zwischen Uninspiriertem und Überwältigendem.

Die Materialien auf Trickys Baustelle kommen aus dem Punk, dem HipHop, dem Industrial – und unzähligen weiteren Spielarten. Anderer Musiker Leichtigkeit verwandelt Tricky in Schwere. Ähnlich wie seine Mentoren Mark Stewart und Adrian Sherwood: Sie heizten dem sonnigen Reggae solange ein, bis er zu einem flammenden Inferno wurde. Tricky kippt Wasser in die Glut. Wo es eben loderte, hängen nun Eiszapfen.

Von der Blues-Bar zum Rap der Straße sind es in Bristols Stadtteil Knowle West nur ein paar Meter. Man muss nur eben durch den Nebel, die esoterischen Schwaden durchstreifen. Das Richtungslose gehört zu Tricky wie ein Kaktus in die Wüste. Er hat das Launische in seine Musik integriert, es bietet ihm Schutz und spendet Kraft. Und nur wenn auch seine Hörer richtig unzufrieden sind, kann er granteln. Seine Musik strebt nicht nach dem Glück. In den guten Momenten des Albums steht die Zeit. In den schlechten drischt ein harter Rhythmus auf die Ohren ein. Bässe pumpen in der Magengegend. Tricky tätowiert Musik. Und das piekt auch mal.

Jemand, der dermaßen unberechenbar handelt und musiziert, kann kein Karrieremusiker sein. Nie schlachtet er seinen Ruhm aus, nie reproduziert er das Errungene. Immerneue Versatzstücke baut er in seine Lieder ein. Nur eines bleibt auch mit Knowle West Boy beim Alten: Tricky krächzt, eine Frau singt. Es ist vollkommen egal, wie lange er kein Album gemacht hat. Mit Zeit hat er nichts zu schaffen.

»Knowle West Boy« von Tricky ist als CD und LP bei Domino Records/Indigo erschienen.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
The Kills: »Midnight Boom« (Domino Records/Indigo 2008)
The Charlatans: »You Cross My Path« (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
18th Dye: »Amorine Queen« (Crunchy Frog/Cargo 2008)
These New Puritans: »Beat Pyramide« (Domino Records/Indigo 2008)
Kettcar: »Sylt« (Grand Hotel van Cleef/Indigo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Wir verrückt, Ihr langweilig

Das Musikerpärchen The Kills inszeniert seine Amour fou ein weiteres Mal. »Midnight Boom« beginnt mit einem Anruf und endet mit einer Prügelei.

The Kills MIdnight Boom

Besetzung: Eine junge Frau – Alison Mosshart alias VV – und ein Mann – Jamie Hince alias Hotel.

Das Telefon klingelt, VV nimmt den Hörer ab. In der anderen Hand hält sie eine Menthol-Zigarette. Sie sitzt auf einem Bett, das von Fotografien und Bildern bedeckt ist. Das Zimmer ist heruntergekommen und unordentlich. Ihr langes, dunkles Haar fällt ihr ständig ins Gesicht. Der Hintergrund der Bühne wird erleuchtet, am anderen Ende der Leitung meldet sich Hotel. Jetzt sind beide auf der Bühne zu sehen, eine Pappwand trennt sie voneinander. Hotel steht verloren herum und sieht auf den Boden.

VV: Hi.
Hotel: Na? Wie geht’s?
VV: Lass uns Musik machen.
Hotel: Okay.

Sie legen auf.

Vorhang.

Es ist Nacht. Mitten im Zimmer steht nun eine alte Rhythmusmaschine. Hotel hat einen Schal um, er ist nachlässig, doch modisch gekleidet. Während er einzelne Riffs aus seiner Gitarre schüttelt, qualmt seine Zigarette. Er kneift das linke Auge zu, hält die Kippe gerade noch im Mundwinkel. Er wirkt lässig. VV trägt eine Leopardenjacke und den passenden Schlapphut, dazu ein altes T-Shirt als Minikleid über einer engen Hose mit Hahnentrittmuster. Sie nickt ihm zu, tritt ihre Zigarette auf dem Boden aus, hustet verschleimt und fängt an zu singen. VV hat eine schöne Stimme. Die Musik der beiden klingt ungeschliffen, da ist Punk ebenso wie Elektronisches. Meist tönt sie wütend, manchmal sanft. VV und Hotel musizieren konzentriert und intensiv.

VV (singt): »I want you to be crazy, cause you’re boring, baby, when you’re straight.«

Es ertönt ein schnarrender Trommelwirbel, Hotel schwitzt, den Schal legt er dennoch nicht ab. Dann ein weiteres Lied. Diesmal singen die Beiden abwechselnd, manchmal auch im Chor. Sinnlichkeit schwingt zwischen ihnen. Sie sehen sich an, sie singen sich an. Und noch ein Lied. VVs Stimme klingt immer wieder anders.

Vorhang.

VV: Ich hab was gezeichnet.

Hotel (zu den Zuschauern gewandt): »We have a life and death relationship.«

VV hängt wahllos einige krakelige Zeichnungen an die Wand, manche mit Sprechblasen, dazu handgeschriebene Texte, Fotos, aufgeklebte Bilder, Stempelabdrücke. Hotel hängt ebenfalls Zettel auf. Die Bilder sind so rätselhaft, wie die Texte.

Hotel: Genau diese Kunst und Musik wollte ich immer machen!
VV (nickt, streicht sich durch die verwuschelten Haare, zündet sich eine neue Zigarette an): Ja.

Vorhang.

VV und Hotel streiten sich. Plötzlich beginnen sie, sich gegenseitig zu schubsen. Sie schlagen sich, ringen miteinander.

Vorhang.

Sie streiten weiter, nun befinden sie sich auf der Straße. Es ist Nacht. Sie sind verschwitzt und zerzaust. Arm in Arm gehen VV und Hotel nach Hause.

Vorhang.
Ende.

„Midnight Boom“ von The Kills ist auf CD und LP erschienen bei Domino Records/Indigo.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
The Charlatans: „You Cross My Path“ (Cooking Vinyl/Indigo 2008)
18th Dye: „Amorine Queen“ (Crunchy Frog/Cargo 2008)
These New Puritans: „Beat Pyramide“ (Domino Records/Indigo 2008)
Kettcar: „Sylt“ (Grand Hotel van Cleef/Indigo 2008)
The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (Etiquette Records 1965)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Lasst uns jung klingen!

Anfang der Neunziger hatten die Charlatans aus Manchester einige mitreißende Lieder aufgenommen – dann wurden sie müde und lahm. Mit ihrem zehnten Album „You Cross My Path“ knüpfen sie endlich an den früheren Wohlklang an.

Charlatans You Cross My Path

Here Comes A Soul Saver hieß eines der hymnischen Stücke auf dem unbetitelten, vierten Album der Charlatans. Seelen retten, das wollten sie – und schauten von der Hülle, als meinten sie es ernst. Das war Mitte der Neunziger, und die Charlatans waren schon damals keine junge Band mehr.

Erinnern wir uns: Angefangen hatten sie im Jahr 1989, als in Manchester die von DJs und Musikern aufbereitete Fusion aus House, von den Sechzigern inspirierten Gitarrenklängen und dem Kreischen der Hammond-Orgel ihren ersten Höhepunkt erreichte. Damals konnte man Manchester noch eine Arbeiterstadt nennen, eine Stadt der Industrie, das Leben war nicht einfach, doch gab es Hoffnung: Das nächste Wochenende kam bestimmt. Wo England trostlos war, da waren die Nächte lang.

Gerade als der Manchester-Rave am schönsten war, verschwand eine Band nach der anderen in der Versenkung. Nicht so die Charlatans. Ihr Debüt Some Friendly war im Jahr 1990 dank der Single The Only One I Know zum Kassenschlager geworden. Danach gab es fast jedes Jahr eine neue Platte der Band. Die Musiker entfernten weiter sich von ihrem Konzept, Musik für den Tanzboden zu machen und suchten ihr Glück bald in klassischen Popliedern. Aus hedonistischen Disko-Gängern und Pop-Ravern wurde eine Band, die in den späten Neunzigern so klang wie die Rolling Stones ein Vierteljahrhundert zuvor: Rhythm & Blues bosselten sie zu Britpop, der Gitarrist Mark Collins spielte lupenreine Keith Richards-Riffs.

Irgendwann büßten die Charlatans den Groove ein. Die Alben der vergangenen Jahre waren mau, manche richtig schlecht. Man wollte sie nicht mehr hören.

Welche Überraschung: Auf ihrem gerade erschienenen zehnten Album You Cross My Path ist alles wieder da: New Order’sche Melancholie, tanzbare Rhythmen, wummernde Orgeln und Melodien, die sich in Ohr und Herz verhaken. Und auch das spröde Timbre des Sängers Tim Burgess klingt endlich wieder kraftvoll, das zähe Dehnen der Silben kommt so unvergleichlich großmäulig daher, wie man es von früher kennt.

Das erste Stück Oh! Vanity legt einen hinreißenden Ohrwurm über ein stoisch durchgeprügeltes Schlagzeug. Die folgenden Bad Days und Mis-takes ziehen mit ins Manchester der frühen Neunziger. Und das Titelstück: Hart schlägt der Rhythmus, die Gitarre setzt ein, störrisch, beinahe hochnäsig, dann diese unverkennbare Stimme Tim Burgess’. So luftig und mitreißend klangen die Charlatans lange nicht mehr. Es ist eine Lust, die Band heute zu hören: Hier werkeln Männer über 40, die sich versprochen haben, die beste Platte ihres Lebens zu machen. Zwanzig Jahre nach der Gründung der Band wollen sie noch einmal jung klingen.

Bereits Anfang März konnte man das Album gratis von der Website der Band herunterladen, 30.000 Menschen nahmen diese Möglichkeit wahr. Für Charlatans-Sammler und Liebhaber des haptischen Musikgenusses gibt es indes einen besonderen Ohrenkitzel: Neben der CD erscheint ein aufwändiges Kistchen mit großen, schwarzen Schallplatten.

„You Cross My Path“ von den Charlatans ist auf CD und LP erschienen bei Cooking Vinyl/Indigo.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
18th Dye: „Amorine Queen“ (Crunchy Frog/Cargo 2008)
These New Puritans: „Beat Pyramide“ (Domino Records/Indigo 2008)
Kettcar: „Sylt“ (Grand Hotel van Cleef/Indigo 2008)
The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (Etiquette Records 1965)
dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (Island/Universal 1996)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Vollendete Wiederkehr

In den Neunzigern machten 18th Dye beherzten Geräuschrock, nach zwei Alben lösten sie sich auf. Mit „Amorine Queen“ sind sie jetzt wieder da. Sie klingen, als seien sie nie fort gewesen.

18th Dye Amorine Queen

Eine gezupfte Gitarrenmelodie schwingt sehnsüchtig. So könnte eine amerikanische Indie-Folk-Platte beginnen. Dann setzt die Stimme ein, mehr gehaucht als gesungen. Wer das deutsch-dänische Trio 18th Dye kennt, der weiß, dass es dabei nicht bleiben wird. Und wirklich: Sekunden später zerstören verzerrte E-Gitarren die Idylle.

18th Dye haben eine wechselhafte Geschichte. Nur wenige Gruppen haben in den mittleren Neunzigern so beherzten Noise-Rock gemacht. Damals erschienen ihre Platten auf dem einflussreichen New Yorker Label Matador. Steve Albini nahm ihre Lieder auf, John Peel war begeistert. Die Band tourte mit Yo La Tengo und wurde sogar in den USA bejubelt.

Jetzt erscheint ihr drittes Album Amorine Queen. Das ist eine wirkliche Überraschung, denn die Band von Sebastian Büttrich, Piet Breinholm und Heike Marie Rädeker hatte sich 1995 aufgelöst. Seit drei Jahren geben sie gelegentlich Konzerte. Musikalisch hat sich zum Glück wenig verändert, schroffe Rückkoppelungen treffen auf Ziseliertes. Die Bezugspunkte sind offenkundig: Velvet Underground, Spacemen 3 und Guided By Voices sind in Hörweite, vor allem aber die New Yorker Band Sonic Youth, die Könige der entfesselt drängenden Gitarren. Den Strahlen ihres Leuchtturms folgen 18th Dye bis heute.

Das erste Stück Island vs Island klingt wie ein Prototyp. Der Wechsel von laut zu leise, von der Geräuschwand zum einzelnen, befreiten Ton, das Verschmelzen von Fragilem und Brachialem, unvorhergesehene Wendungen, das Süßliche und das Störrische, der verzerrte und der reine Klang – all das kommt hier zusammen. 18th Dye machen aus Heterogenität hohe Kunst. Das mutet klassisch an und klingt zugleich neu. Denn diese ausufernden, flächigen Rückkoppelungen, dieser zweistimmige Gesang, diese Lust am Klang, diese schwelgerischen Streicher – all das ist in der heutigen Popmusik reichlich ungewöhnlich.

Auf der Hülle des Albums ist eine leuchtende Qualle zu sehen, die durch ein Meer oder das All schwebt. Ein schlüssiges Bild für die Band. Unbeeindruckt von den musikalischen Entwicklungen der vergangenen Jahre bewegt sie sich voran, langsam, fließend, selbstgenügsam, erhaben. Dass diese Qualle wirklich berauschende Lieder schreibt, macht Amorine Queen umso besser. Manche Stücke, Soft The Hard Way etwa, kleben sich binnen Sekunden im Gedächtnis fest, beschwipsen geradezu, fordern stummes Lauschen.

So klingt eine vollendete Wiederkehr.

„Amorine Queen“ von 18th Dye ist auf CD und LP erschienen bei Crunchy Frog/Cargo.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
These New Puritans: „Beat Pyramide“ (Domino Records/Indigo 2008)
Kettcar: „Sylt“ (Grand Hotel van Cleef/Indigo 2008)
The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (Etiquette Records 1965)
Mondo Fumatore: „The Hand“ (Rewika 2008)
dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (Island/Universal 1996)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik

 

Lichter im Untergrund

These New Puritans aus England bauen eine „Beat Pyramide“. Zu hektischem Schlagwerk setzen sie Bassbrocken auf Gitarrenfels.

These New Puritans Beat Pyramide

Es ist, als warte ich auf einen aus dem Nichts auftauchenden Hubschrauber, der mich zu ihnen bringen soll. Der Geruch von Schweiß und Rauch liegt in der Luft und meine Notizen sind im flackernden Neonlicht schwer zu entziffern. Das dumpfe Dröhnen von Beat Pyramide, dem Debütalbum der These New Puritans, hallt durch den Raum. Der Strom ist ausgefallen, doch die Lichter des Untergrundes scheinen hell.

Das Zusammentreffen läuft anders als geplant. Auf dem Tisch liegt ein Einsatzplan und offensichtlich sind mehrere Strategien durchgespielt worden. Drei Männer und eine Frau erläutern, ich solle das zu Hörende nur als momentan favorisierte Version des Möglichen betrachten. Als das Ergebnis einer Reihe von Experimenten, bei denen sie sich oft nicht einig gewesen seien. Das Schlagzeug, die Gitarre und der Bass sorgen für die Stringenz und die innere Sicherheit der Stücke. Sie machen kaum einmal Halt, immer wieder schlüpfen sie in neue Anzüge, lassen sich verleugnen und verbünden sich mit den Effektgeräten. Sie sind Doppelgänger und Agenten im Dienste der vielschichtigen Modifikation.

Dieses Spiel braucht eine Parole: „Every number has a meaning!“ Überhaupt finden sich viele numerologische Anspielungen im Oszillieren zwischen persönlichen Geschichten und politischen Ideen. Konkretes haben These New Puritans nicht zu bieten, dafür jede Menge Fragen: „If not now then when?“ Man beginnt, Antworten zu suchen. Genau darum geht es wohl.

Swords Of Truth klingt so programmatisch, wie der Titel vermuten lässt und gleichzeitig so wenig didaktisch, wie man erwarten sollte. Die Musik kennt kein Zögern, der intensive Rhythmus gibt die Identität. Die zerschnipselten Trompeten haben sie im Laden um die Ecke geklaut, auf dem Weg hierher wurden sie ein bisschen ramponiert.

Als ich ansetze, eine Frage zu stellen, klingelt das Telefon. Mit einer Handbewegung werde ich zum Schweigen gebracht. Irgendein WuTang-Typ aus Amerika faselt von Neubauten und Industrieklängen, von Wurzeln und Manövern. Man müsse seine Kontakte am Laufen halten, wird mir erklärt. Jeder sei auf eigene Faust unterwegs, jeder bringe seine Vergangenheit und seine Vorlieben ein.

In En Papier klingen diese verschiedenen Aspekte kohärent. Unter treibenden Gitarrenriffs wechselt das Stück behände Rhythmus und Charakter, fließen Weltmusik und Ambient ein. Im Gegensatz dazu funktioniert Infinity ytinifnI geradezu stringent. Zu einem monotonen Bass, einer repetitiven Struktur und sparsamem Schlagwerk erklimmen wir einen Aussichtspunkt. Damit ist der Weg frei für Elvis. „We’re being watched by experts“, ruft der Sänger, mit atemberaubender Geschwindigkeit geht es gen Tal.

Ich frage noch, ob es stimme, dass die Zwillingsbrüder Jack und George Barnett schon als Kinder in imaginären Bands spielten. Sie lachen, dann erzählen sie von ihrer aktuellen Arbeit an einem Stück für sechs Akkordeons. Solchen Spagat wagt kaum, wer noch nie in einer Fantasieband spielte.

Das Album endet beinahe, wie es begonnen hat. Eine Frau verkündet „I will say this twi…”, sie beendet ihren Satz erst mit dem Neustart der CD: „…ce.“

„Beat Pyramide“ von These New Puritans ist auf CD und LP erschienen bei Domino Records/Indigo.

Weitere Beiträge aus der Kategorie ROCK
Kettcar: „Sylt“ (Grand Hotel van Cleef/Indigo 2008)
The Sonics: „Here Are The Sonics!!!“ (Etiquette Records 1965)
Mondo Fumatore: „The Hand“ (Rewika 2008)
dEUS: „In A Bar, Under The Sea“ (Island/Universal 1996)
Bauhaus: „Go Away White“ (Cooking Vinyl/Indigo 2008)

Alle Musikangebote von ZEIT online finden Sie unter www.zeit.de/musik